Das Fanal der Republik

Vor 75 Jahren brannte der Wiener Justizpalast

 

Von Nick Brauns

 

Immer wieder war es in dem kleinen Ort Schattendorf an der burgenländisch-ungarischen Grenze zu Auseinandersetzungen zwischen monarchistischen Frontkämpfern und Anhängern der sozialdemokratischen Wehrorganisation Republikanischer Schutzbund gekommen. Meist erstreckten sich die Auseinandersetzungen auf Schlägereinen und eingeschmissene Fenster. Doch am 30.Januar des Jahres 1927 eröffnete der Wirt der örtlichen Frontkämpferkneipe, Josef Tscharmann mit seinen Söhnen und seinem Schwager aus seinem Schlafzimmerfenster heraus das Feuer auf vorbeiziehende Schutzbündler. Neben fünf Verletzten bleiben der sozialdemokratische Kriegsinvalide Matthias Csmarits und der neunjährige Josef Grössing tot auf der Straße zurück. Die Schattendorfer Schüsse sollten der Auftakt zum Untergang der Ersten Republik in Österreich werden.

 

Am Abend des 14.Juli sprach ein Wiener Geschworenengericht nach 11 Verhandlungstagen die Schattendorfer Mörder frei. Für die Arbeiter von Wien war dies der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Zu lange hatten sie die Provokationen der rechten Wehrverbände nun schon erduldet. Hilflos hatten sie zusehen müssen, wie die sozialdemokratischen Führer die im Wiener Arsenal unter Arbeiterkontrolle gebunkerten Waffen im Mai 1927 nach mehreren Drohungen freiwillig an den Heeresminister Vaugoin ausgeliefert hatten. Auch der Vergleich mit den in den USA zum Tode verurteilten Anarchisten Sacco und Vanzetti, deren Hinrichtung unmittelbar bevorstand, wurde gezogen: „In den USA sollen zwei unschuldige Arbeiter sterben und in Österreich werden faschistische Mörder freigelassen.“

 

Alle Augen sind nun auf den sozialdemokratischen Parteivorstand gerichtet. Doch die Partei lässt die Arbeiter in dieser Situation allein. Man könne doch nicht gegen das Urteil eines Geschworenengerichts und damit gegen eine rechtsstaatliche Institution auf die Straße gehen, lautete die nachgeschobene Begründung.

Statt organisierter Demonstrationen sollte ein scharfer Kommentar des auf dem linken Flügel der Partei stehenden Redakteurs Friedrich Austerlitz in der Arbeiter-Zeitung die Wut der Massen auffangen. Doch genau dieser Kommentar ermutigte die Arbeiter des Elektrizitätswerks für den Morgen des 15.Juli 1927 einen Streik der Strom- und Gasversorgung sowie der öffentlichen Verkehrsmittel auszurufen. Unter der Losung „Wir greifen zur Selbsthilfe“ setzte sich ein Demonstrationszug der E-Werks-Arbeiter in Bewegung. Sie blieben nicht allein. Von den Bauplätzen der Gemeindehäuser in Heiligenstadt, vom Alsergrund und von der Landstrasse strömten Demonstranten herbei. Bald bewegte sich ein mächtiger Demonstrationszug über die Ringstrasse. Nachdem in der Nähe des Parlamentes ein kleiner Trupp Polizisten von den Arbeitern verjagt wurde, ließ Polizeipräsident Schober berittene Polizisten mit blanken Säbeln gegen die Demonstranten vorgehen.

Aufgebracht erstürmte die Menge den Justizpalast, das verhasste Symbol der Klassenjustiz. Im Inneren fanden sie fast neun Jahre nach Gründung der Republik noch Statuen des Kaisers vor. Aktenberge wurden in Brand gesetzt. Bald schlugen Flammen aus dem ganzen Gebäude. Auch eine Polizeiwache, aus der Gefangene befreit wurden und das Redaktionsgebäude der christlichsozialen Reichspost gingen in Flammen auf. Die Menge hinderte die Feuerwehr am Löschen. Jetzt erst setzte die sozialdemokratische Parteiführung den Schutzbund in Bewegung – zum Schutz der Polizei- und Feuerwehrmänner vor den aufgebrachten Demonstranten. Gerade als unter der Führung von Schutzbundführer Julius Deutsch der erste Feuerwehrwagen am Justizpalast angelangt war, fielen Schüsse. 600 auf Befehl des christsozialen Bundeskanzlers Prälat Ignatz Seipel mit Mannlicher-Gewehren bewaffnete Polizisten eröffneten das Feuer auf die Menge.  Fliehende Arbeiter wurden wie die Hühner abgeknallt.

Otto Bauer schilderte später im Parlament: „Die Wache zog durch die Stadt und schoss, und es fielen Tote und Verwundete. Als wir hinkamen, um zu retten, was zu retten war, da stürzten uns die ruhigsten und besonnensten Arbeiter entgegen mit dem einzigen Schrei: Gebt uns Waffen, damit wir uns wehren!“ Doch anstatt den Schutzbund zu bewaffnen, befahl der Parteivorstand den Rückzug. Die Wiener Arbeiter wurden im Angesicht des Wütens der Polizeikräfte von der Sozialdemokratie im Stich gelassen.

86 tote Arbeiter und vier tote Polizisten sowie über 1000 Verwundete waren die Folge von zwei Tagen blutiger Massaker.  Über 1300 Arbeiter wurden verhaftet. Insbesondere gegen die kleine Kommunistische Partei Österreichs richteten sich die Verfolgungsmaßnahmen, da deren Mitglieder aufgrund der Untätigkeit der SPÖ während der Julikämpfe überdurchschnittlichen Einfluss ausgeübt hatten.

 

Um das Vertrauen ihrer Anhänger zurück zu gewinnen, rief der sozialdemokratische Parteivorstand einen eintätigen Generalstreik aus, der landesweit lückenlos befolgt wurde. Der Rücktritt der Regierung Seipel konnte zwar nicht erzwungen worden, doch das wahre Ziel des Generalstreiks war sowieso ein anderes, wie der sozialdemokratische Nationalrat Arnold Eisler eingestand. „Wir wollten damals den leidenschaftlichen Wunsch der Arbeitermassen nach Bewaffnung ablenken.“

Ein anschließender Eisenbahnerstreik wurde von der SPÖ- und Gewerkschaftsführung unter dem Druck der rechtsgerichteten Regime der Nachbarländer – tschechische, ungarische und italienische Truppen marschierten an den Grenzen auf – und den Übergriffen bewaffneter Heimwehren auf Streikende in Tirol und der Steiermark nach zwei Tagen abgebrochen. „Es ist von Interesse für uns, dass es uns zum ersten Mal gelungen ist, einen Eisenbahnerstreik, zumindest teilweise, zu brechen“, frohlockte der christsoziale Abgeordnete und zukünftige Führer der Austrofaschisten Kurt Schuschnigg. Von nun an trafen die rechtsextremen Wehrverbände unverhüllte Vorbereitungen für die gewaltsame Übernahme der Staatsmacht, wobei ihnen die Unterstützung von Teilen Staatsapparates sicher war.

 

Da der sozialdemokratische Bürgermeister von Wien Karl Seitz der österreichischen Roten Hilfe das Sammeln von Geldern für die Opfer der Kämpfe verboten hatte, sprang die Rote Hilfe Deutschlands ein. Als deren Vorsitzender Wilhelm Pieck am 17.Juli nach Wien eilte, verhaftete ihn die österreichische Polizei wegen „Störung der öffentlichen Ordnung“ und schob ihn nach Deutschland ab. Deutsche Arbeiter spendeten in kurzer Frist 10.000 Mark und stellten für österreichische Flüchtlinge rund 500 Quartiere in Berlin und Brandenburg bereit. 60 Kinder, deren Eltern bei den Wiener Kämpfen ums Leben kamen oder inhaftiert wurden, fanden zeitweilig Zuflucht in den Kindererholungsheimen der Roten Hilfe im thüringischen Elgersburg und in Worpswede bei Bremen. Mit einer viertelstündigen Arbeitsniederlegung in 42 Berliner Betrieben zeigte die deutsche Arbeiterschaft am 20.Juli ihre Verbundenheit mit dem Wiener Proletariat.

 

„Wir sind nicht im Kampf besiegt, wir sind vielmehr dem Kampf ausgewichen“, rechtfertigte die SPÖ-Führung nachträglich ihre feige Politik am Tag des Justizpalastbrandes. „Die von den Kommunisten geforderte Bewaffnung der Arbeiterschaft im gegenwärtigen Augenblick hätte unmittelbar den Bürgerkrieg zur Folge.“ Doch der Bürgerkrieg blieb den österreichischen Arbeitern nicht erspart. Weil sie 1927 die Chance vertan hatten, die Reaktion zurückzuschlagen, wurde der Bürgerkrieg im Februar 1934 in einer viel ungünstigeren Situation mit wesentlich größeren Opfern durch die Austrofaschisten ausgelöst und gewonnen.