Erbschaft ohne Gebrauchsanweisung

Daniel Bensaid und Manuel Kellner erklären den Trotzkismus

 

Trotzkismus sei eine „politisch-ideologische Richtung des Linksradikalismus, die durch eine besonders raffinierte Form der Verfälschung des Marxismus-Leninismus und eine militante Feindschaft gegenüber dem realen Sozialismus und der kommunistischen Weltbewegung gekennzeichnet ist“, fasste das in der DDR verbreitete „Kleine politische Wörterbuch“ einige seit den 30er Jahren verbreitete Vorurteilte über eine Strömung der Arbeiterbewegung zusammen, die sich selber lieber als revolutionäre Marxisten bezeichnet. Während der Auseinandersetzungen innerhalb der Aktionsbündnisse zu den Montagsdemonstrationen wühlte auch die MLPD tief in der Mottenkiste: „Der Trotzkismus kann am ehesten als Ideologie und Politik des kleinbürgerlichen Karrierismus verstanden werden, der in Organisationen der revolutionären Arbeiterbewegung eindringt, um sie sich unterzuordnen und zu zerstören ... Kennzeichnend für das organisatorische Vorgehen der Trotzkisten sind Entrismus, Fraktionismus und Spaltertum.“

 

Wer sich jenseits solcher Schlagworte mit dem Trotzkismus beschäftigen möchte, kann auf zwei Neuerscheinungen zurückgreifen.  Trotzkismus wurzele „tief in der Überlieferung der sozialistischen Bewegung, im politischen Denken und Treiben von Marx und Engels, in der jungen kommunistischen Weltbewegung, bevor sie von Stalin überwältigt wurde“ stellt Manuell Kellner bereits in der Einleitung seines Buches „Trotzkismus. Einführung in seine Grundlagen – Fragen nach seiner Zukunft“ klar. Während sich der Soz-Redakteur Kellner an politische Aktivisten richtet, die sich schnell einen Überblick verschaffen möchten, beschäftigt sich sein französischer Genosse Daniel Bensaid in „Was ist Trotzkismus“ mit der inneren (Spalt-)Dynamik der trotzkistischen Bewegung.

 

Beide Bücher zeigen Trotzkis Kampf gegen den Stalinismus, klären grundlegende Begriffe trotzkistischer Theorie und Praxis wie die Permanente Revolution oder den Entrismus und geben einen Überblick über die Geschichte von der linken Opposition der Sowjetunion in den 20er Jahre über die Gründung der IV.Internationale bis zu deren Spaltungen und Vereinigungen der jüngeren Zeit. Exkurse bei Kellner gehen auf Trotzkis Analyse der Sowjetunion sowie den Ökonomen Ernest Mandel ein, der als wohl bekanntester europäische Trotzkist in den 70er Jahren trotz seiner Berufung an die FU Berlin Einreiseverbot durch den Innenminister der sozialliberalen Koalition Hans-Dietrich Genscher erhielt.

 

Deutlich werden die Eckpfeiler trotzkistischen Selbstverständnisses:  Unabhängigkeit der proletarischen Partei statt Unterordnung unter bürgerliche Kräften; Mobilisierung der Betroffenen mittels einer Übergangsprogrammatik, die ausgehend von Tagesinteressen einen revolutionäre Dynamik eröffnen kann; Anerkennung des internationalen Charakters der proletarischen Revolution angesichts eines globalisierten Kapitalismus; Räte- und Parteidemokratie sowie Selbstorganisation der Werktätigen und Unterdrückten statt bürokratischer Degeneration und der Manöver von Apparaten und Blöcken.

 

Als „Erbschaft ohne Gebrauchsanweisung“ führte der trotzkistische Werkzeugkasten seine Benutzer oftmals zu entgegengesetzten Analysen. Bensaid bevorzugt es daher, von „Trotzkismen“ (so auch der französische Originaltitel) zu sprechen. Er deutet die Differenzierungen der trotzkistischen Bewegung als ideologiegeschichtliche Reaktion auf neue und unvorhergesehene Ereignisse der internationalen Politik wie die Ausweitung des sowjetischen Sozialismusmodells auf Osteropa nach 1945, die kubanische Revolution oder den Zusammenbruch des Realsozialismus 1989. „Das Auseinanderfallen der theoretischen Aktivität und der Möglichkeiten einer konkreten Überprüfung in der Praxis drängt in Richtung einer Übertreibung des Streits um die wahre Lehre und des dogmatischen Fetischismus. So wie es ein Volk des Buches gibt, so gibt es einen Kommunismus des Buches, für den die taktischen Differenzen als Fragen auf Leben und Tod erscheinen.“ Hintergrund war die lange Isolation der trotzkistischen Strömung innerhalb der von Sozialdemokraten und traditionellen kommunistischen Parteien dominierten europäischen Arbeiterbewegung.

 

„Der Trotzkismus hat sicherlich keine Zukunft in Form von Vereinen zur Pflege trotzkistischen Gedankenguts und Brauchtums. Wenn er eine Zukunft hat, dann als Teil eines Neuformierungsprozesses der antikapitalistischen Linken im Herzen der neuen Politisierungsprozesse“, heißt es bei Kellner. Ob die vom Autor favorisierte Europäische Antikapitalistische Linke eine solche Perspektive bietet, ist zweifelhaft, orientiert doch deren wichtigste Kraft Rifondazione Comunista in Italien auf eine neue Mitte-Links-Regierung. In Brasilien stellt die IV.Internationale mit Miguel Rossetto den Minister für Landwirtschaftsentwicklung in der Regierung Lula. Zwar erkennt Kellner, dass sich in der brasilianischen Arbeiterpartei PT ein Sozialdemokratisierungsprozess im Eiltempo abspielt. Ob denn die Beteiligung eines „trotzkistischen“ Ministers an einer von bürgerlichen Parteien mitgetragenen „Volksfrontregierung“ nicht allen trotzkistischen Traditionen widerspricht, hinterfragt er allerdings nicht. 

 

Nick Brauns

 

 

Daniel Bensaïd
Was ist Trotzkismus?
132 Seiten, 12,00 €
ISBN 3-89900-108-7
Neuer ISP Verlag Manuel Kellner


Trotzkismus
Einführung in seine Grundlagen  - Fragen nach seiner Zukunft
180 Seiten, € 10,00
ISBN 3-89657-584-8
erschienen in der Reihe theorie.org des Schmetterling Verlags