29.03.2005 / Ausland / Seite 7

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Staatlich inszenierter »Patriotismus«

Eine Woche nach weitgehend friedlich verlaufenen Newroz-Festen wird Türkei von Welle antikurdischen Chauvinismus erschüttert

Nick Brauns, Diyarbakir

Derzeit wird die Türkei wieder einmal von einer staatlich organisierten antikurdischen Propagandawelle überzogen. Auslöser war eine vor laufenden Fernsehkameras in der Stadt Mersin während einer Newroz-Demonstration zu Boden geworfe türkische Fahne. Als ein Mann den Gruß der faschistischen Grauen Wölfe zeigte, kam es zum Gerangel, in dessen Verlauf seine türkische Fahne zu Boden fiel. Ein Junge, dem die Fahne anschließend von einem Unbekannten in die Hand gedrückt wurde, warf sie weg, als Polizisten eingriffen.

Die türkische Regierung, der Generalstab und die türkisch-nationalistische Presse nutzen den Vorfall seitdem für eine nationalistische Kampagne gegen die Kurden. »Die türkischen Streitkräfte sind wie ihre Vorfahren bereit, ihren letzten Blutstropfen zu opfern, um das Vaterland und seine Fahne zu verteidigen«, erklärte die Armeeführung. Fälschlicherweise wurde in der Presse berichtet, die Fahne sei verbrannt worden. Aksam und andere Tageszeitungen wollen hinter dem Vorfall sogar »ein Komplott ausländischer Mächte« gegen die Türkei sehen.

Die Polizei verhaftete den 13jährigen Jungen, der die Fahne auf dem Boden fallen ließ, auf einem Schulhof und brachte ihn zusammen mit einem 14jährigen zum Verhör in die Antiterrorabteilung der Polizei von Mersin. Vier weitere Minderjährige wurden ebenfalls im Zusammenhang mit dem Fahnenvorfall festgenommen. Die Anschuldigung lautet auf »Rufen von Parolen im Namen einer separatistischen Organisation, Steine werfen auf Sicherheitskräfte, Angriff auf die türkische Fahne sowie Durchführung illegaler Straßendemonstrationen mit terroristischen Zielen«.

Die kurdische Demokratiepartei des Volkes (DEHAP) und andere zivilgesellschaftliche Organisationen werten den Fahnenvorfall als bewußt angelegte Provokation des Staates. Alladdin Dincer, der Vorsitzende der türkischen Lehrergewerkschaft Egitim-Sen, warnte vor der Entfachung eines Bürgerkrieges zwischen Kurden und Türken.

Auch Murat Karayilan von der Führung des Kongra-Gel rief angesichts des vom Generalstab ausgelösten »Sturms im Wasserglas« zur Besonnenheit auf. Der Vorfall von Mersin sei als Reaktion des Staates auf die millionenfache Beteiligung an Newroz zu betrachten. Laut einer polizeilichen Stellungnahme wurden während der Newroz-Feierlichkeiten landesweit 23 Personen festgenommen, weil sie sich an illegalen Demonstrationen beteiligt und dabei öffentliche Gebäude angegriffen haben sollen. Wie der Lokalsender Gün TV in Diyarbakir meldete, wurde inzwischen auch Anklage gegen fünf Teilnehmer einer norwegischen Menschenrechtsdelegation erhoben, weil sie auf einem Newroz-Fest separatistische Parolen gerufen hätten.

In mehreren Städten kam es in den vergangenen Tagen auch zu Anschlägen unbekannter Täter auf Büros der kurdischen Demokratiepartei des Volkes (DEHAP). Vor allem in den kurdischen Landesteilen wurde vom Militär angewiesen, öffentliche Gebäude und Offizierswohnungen, aber auch Läden mit türkischen Fahnen zu beflaggen. Landesweit veranstalteten staatliche Stellen zusammen mit nationalistischen Parteien wie den Grauen Wölfen der MHP Fahnenmärsche. In der kurdischen Metropole Diyarbakir stellten neben zwangsweise dorthin befohlenen Staatsbeamten Soldaten in Zivilkleidung die Masse der Teilnehmer. Einige Schulklassen bekamen zur Teilnahme an den Demonstrationen schulfrei.