junge Welt vom 09.04.2005 Wochenendbeilage
Nick Brauns
Häßlich heben sich die grauen Betonblöcke der Stadt Sirnak
vom dahinterliegenden Massiv des Cudi-Berges ab. Kühe wühlen mitten auf der
Straße in Abfällen, patrouillierende Panzerwagen richten ihre Maschinengewehre
drohend auf Passanten. Die biblische Arche Noah sei auf dem Cudi gestrandet,
heißt es in der Legende der Stadt, deren Name »Stadt Noahs« bedeutet.
Gestrandet sind hier in den vergangenen 15 Jahren auch Zehntausende kurdische
Flüchtlinge. Von den 53700 Einwohnern Sirnaks seien 70 Prozent Bauern, die von der
türkischen Armee aus den Dörfern der Provinz vertrieben wurden, berichtet Izzet
Belge, der Vorsitzende der seit einem Jahr auch in Sirnak regierenden
kurdischen Demokratiepartei des Volkes (DEHAP).
Ab 1990 wurden die Bewohner der umliegenden Dörfer vor die Wahl gestellt,
ihre Häuser zu verlassen oder als Dorfschützer gegen die PKK, die
Arbeiterpartei Kurdistans, zu kämpfen. Einschüsse an einigen Wänden erinnern
daran, wie die Armee während des Newrozfestes am 21. März 1992 mit Panzern in
die Menge schoß und 85 Menschen tötete. Auch heute noch muß jeder, der Sirnak
besucht, einen Kontrollposten der Militärpolizei passieren. Während die
Vertriebenen ohne Einkommen in ihren provisorischen Hütten, der Geçekondus, vor
sich hinvegetieren oder für acht Euro am Tag auf dem Bau Tagelöhnerdienste
verrichten, bleiben ihre entvölkerten Dörfer militärisches Sperrgebiet. Erst
vor zwei Monaten wurden dort vier unbewaffnete junge Frauen und ein Mann von
der Armee verschleppt, gefoltert und ermordet. Die Soldaten behaupteten, es
habe sich um im Gefecht getötete Guerillakämpfer der PKK gehandelt.
Hoffnungslos in den Städten
Die hoffnungslose Situation der Flüchtlinge in den Städten und ihr Wunsch
nach Rückkehr in die Dörfer bleibt das größte soziale Problem in den kurdischen
Landesteilen der Türkei. Eine Kommission des türkischen Parlaments errechnete,
daß während der Hochphase des Krieges gegen die kurdische Guerilla 3428 Dörfer
und Weiler zerstört oder geräumt wurden. Nach Informationen kurdischer
Organisationen liegt die Zahl sogar bei über 3700. Die Zahl der Vertriebenen
wird auf über drei Millionen geschätzt. »Es war eine unmittelbare erzwungene
und massenhafte Migration, die den Flüchtlingen keinerlei Möglichkeiten zur
Integration an den Zufluchtsorten ließ«, beklagt Rechtsanwalt Ahmet Kalpak, der
Vorsitzende des Migrationsvereins Göc Der in Diyarbakir. So wuchs die
Bevölkerung allein in dieser Stadt von 300000 im Jahr 1990 auf heute über eine
Million an. »Woher kommen denn die Millionen Menschen, die heute in Izmir,
Istanbul und anderen westtürkischen Städten Newroz feiern?«, gibt auch der
DEHAP-Vorsitzende von Siirt, Seracettin Kayran, zu bedenken.
Zwischen Sirnak und Siirt sind entlang des Weges durch die Berge immer
wieder Ruinen zu sehen. Einschußlöcher zeigen, daß ihre Bewohner nicht
freiwillig gingen. Manche Dörfer sind im wahrsten Sinne des Wortes dem Erdboden
gleichgemacht worden. Nur noch Steinhaufen lassen erkennen, wo einmal Häuser
standen. Mit Kalaschnikows bewaffnete Zivilisten lungern am Straßenrand herum.
Es sind vom türkischen Stadt mit Geld oder Zwang gegen die PKK rekrutierte
Dorfschützer. Diese kurdischen Milizen beteiligen sich an Militäroperationen,
vertreiben Anhänger der DEHAP aus ihren Dörfern und besetzen anschließend deren
Äcker. Wenige Tage vor dem diesjährigen Newrozfest erschossen Dorfschützer in
Kiziltepe nahe der syrischen Grenze einen 13jährigen Hirtenjungen, weil er ihr
Dorf betrat. Und in der Provinz von Diyarbakir verletzten Dorfschützer in der
folgenden Woche mit Gewehrschüssen einen Bürgermeister und zündeten sein Haus
an, weil er bei der Wahl diesen bisher vom Chef des Dorfschützerclans
gehaltenen Posten gewonnen hatte.
Aufgrund seiner politischen Aktivitäten wurde vor 15 Jahren auch Ahmet
Arslan durch die Männer des Dorfschützers Faik Yilmaz aus seinem Dorf Salkum
Baglar in der Provinz Siirt vertrieben. Die Gebäude seines Bauernhofs sind
inzwischen eingestürzt, seine Felder werden von den Familien der Dorfschützer
widerrechtlich genutzt. Staatlich unterstützte Rückkehrprojekte berücksichtigen
allein die Sicherheitsinteressen der Militärs. Ausschließlich staatstreue
Kurden durften bisher in geräumte Dörfer zurück, und das auch nur dann, wenn
diese nicht weiter als fünf Kilometer von den Hauptstraßen entfernt liegen.
Gelder aus EU-Hilfsfonds zur Rückkehr in die Dörfer kämen daher allein den
Dorschützerfamilien zugute, beklagt Arslan, der heute dem Parteirat der DEHAP
angehört. »Wir brauchen keine finanziellen Hilfen, sondern Sicherheitsgarantien,
um dauerhaft Landwirtschaft betreiben zu können.« Die Auflösung des
Dorfschützersystems ist daher eine zentrale Forderung. Ein Sicherheitsrisiko
stellen auch die zahlreichen vom Militär rund um die verlassenen Dörfer
verlegten Landminen dar, für deren Räumung EU-Gelder erhofft werden. Notwendig
sei weiterhin eine allgemeine Amnestie, die auch den zur Guerilla in die Berge
gegangenen Jugendlichen die Rückkehr in ihre Dörfer ermöglicht, so Arslan.
Bis Sommer vergangenen Jahres wurden Rückkehrer in die Dörfer gezwungen zu
unterschreiben, daß ihre Häuser von der PKK zerstört wurden und sie auf
Entschädigungsansprüche gegenüber dem Staat verzichten. Ein im Juli 2004
erlassenes Gesetz über »Schäden im Rahmen der Terrorbekämpfung« sieht dagegen
Möglichkeiten staatlicher Entschädigungszahlungen vor. Allerdings ist
ungeklärt, wie hoch die Entschädigungen ausfallen sollen. Festgelegt wurde vom
Staat lediglich, bei Todesfällen im Rahmen der sogenannten Terrorbekämpfung den
Familien des Getöteten eine Entschädigung von 1000 Dollar zu zahlen.
Erschwerend kommt hinzu, daß das Innenministerium bei Individualklagen
Protokolle offizieller Stellen über die Zerstörungen fordert. Die Täter müßten
also von sich aus Dokumente ihrer Verbrechen zur Verfügung stellen. Als
Hauptfortschritt sieht Anwalt Kalpak daher die jetzt mögliche Eröffnung des
Rechtsweges bis zum Gang vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
an. Da die nach wie vor ungelöste kurdische Frage der Hauptgrund der
Binnenmigration sei, ständen allerdings nicht die rechtlichen, sondern soziale
und politische Probleme im Vordergrund.
Projekte für Frauen
Besonders betroffen von den Folgen der erzwungenen Binnenmigration in die
Städte sind Frauen. Der Analphabetismus ist hoch, häufig sprechen die aus den
Dörfern stammenden Frauen nur das im Amtsgebrauch weiterhin untersagte
Kurdisch. Eine Schulausbildung haben diese in der Landwirtschaft großgewordenen
Frauen meist ebensowenig wie eine Berufsausbildung. Die Frustration ihrer
arbeitslosen Ehemänner über den Verlust einstiger Autoritätspositionen
innerhalb der Dorfgemeinschaft äußert sich nicht selten in physischer Gewalt.
Neben der Verbreitung von Drogen hätten auch die Prostitution und der
Frauenhandel in den kurdischen Städten besorgniserregend zugenommen, wird mir
hinter vorgehaltener Hand berichtet. Der Staat würde dies wohlwollend dulden.
Eine ähnliche Strategie der Counterinsurgency wurde in den USA gegenüber der
militanten Schwarzenbewegung angewendet.
Eine Reihe ziviler Institutionen kümmern sich mittlerweile um die
Verbesserung der sozialen Situation von Frauen in den von Binnenmigration
besonders betroffenen Gebieten. Das Frauenreferat der von der DEHAP gestellten
Stadtverwaltung von Diyarbakir hat in drei Stadtvierteln öffentliche Wäschereien
errichtet, die von über 2250 Familien genutzt werden. Dazu kommen öffentliche
Bäckereien mit Lehmöfen, in denen die Familien ihr Fladenbrot selber backen.
Ausschließlich Mädchen aus Familien von Flüchtlingen oder politischen
Gefangenen werden in einer vom DEHAP-nahen Frauenzentrum Selis betriebenen
Seidenweberei in der fast ausgestorbenen Technik zur Herstellung traditioneller
Pusu-Schals ausgebildet. Ziel ist es, die jungen Frauen zu ermutigen,
anschließend diese Produkte in Heimarbeit herzustellen und zu vermarkten, um
sich so ein eigenes Auskommen zu sichern. Das Frauenhaus »Schneeglöckchen« in
der Gemeinde Baglar von Diyarbakir bietet Alphabetisierungskurse in türkischer
Sprache an. 40 Frauen zwischen 16 und 70 Jahren haben seit Ende 2004 diese
Kurse absolviert, 90 weitere sind momentan eingeschrieben.
Die steigende Zahl von Selbstmorden unter Frauen aus Flüchtlingsfamilien
aufgrund von Kriegstraumatisierung führte zur Eröffnung der psychosozialen
Beratungsstelle EPIDEM bei der Stadtverwaltung. Die Mehrzahl der rund 300 im
vergangenen Jahr beratenen Frauen kamen heimlich zur psychologischen Beratung,
weil sie physischer Gewalt in ihren Familien ausgesetzt sind. Die
Hilfsmöglichkeiten sind begrenzt. So gibt es in Diyarbakir kein einziges
Frauenhaus, in der ganzen Türkei sind es gerade einmal elf solcher
Zufluchtsorte. Da viele Ehen mit den zum Teil erst zwölfjährigen Mädchen nur in
der Moschee geschlossen wurden, sind sie nach türkischem Recht ungültig.
Wenn sich die Zwangsehen nicht verhindern ließen, bleibe oft keine andere
Möglichkeit, als später auf eine amtliche Eheschließung zu drängen, um den
Frauen und ihren Kindern wenigstens eine rechtliche Absicherung zu garantieren,
erklärt Frauenreferatsleiterin Handan Coskun. Änderungen im Strafgesetzbuch sollen
die Rechte der Frauen stärken. Doch die Aktivistinnen der Frauenorganisationen
sind skeptisch. Solange Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan anläßlich einer
am Internationalen Frauentag von der Polizei brutal auseinandergeprügelten
Demonstration Gewalt gegen Frauen mit einer besonderen Emotionalität der
türkischen Gesellschaft entschuldigt, blieben die Gesetzesreformen
Sonntagsreden für die EU, die in der Realität kaum Anwendung finden.
Gerade für Frauen in den Hochhaussiedlungen am Stadtrand von Diyarbakir, wo
die Masse der Flüchtlinge lebt, sind die im modernen Stadtzentrum gelegenen
Beratungsstellen kaum zu erreichen, weil sie kein Geld für den Bus haben oder
männliche Familienmitglieder ihnen untersagen, sich vom Haus zu entfernen. Die
unabhängige Frauenkooperative »Hoffnungslicht« hat sich daher auf Basisarbeit
in den armen Stadtvierteln spezialisiert. Im Schneeballsystem tragen die zu
Stadtviertelmüttern ausgebildeten Frauen ihr Wissen über Kindererziehung von
Haustür zu Haustür weiter. Das Ziel sei es, die Kinder auf die Schule
vorzubereiten, erklärt die Leiterin, Naside Buluttekin. Finanziert wird die
Arbeit der Frauenkooperative neben Sachspenden örtlicher Handwerker aus dem
Programm der Weltbank zur Verminderung sozialer Risiken.
Am Tropf der EU
Weil Ankara die von der DEHAP regierten Kommunen von Finanzhilfen weitgehend
ausschließt, hängen hier viele Projekte am Tropf der EU oder der Weltbank. Die
damit verbundene Abhängigkeit von imperialistischen Institutionen wird nur von
den wenigsten kritisch gesehen. Lediglich die linksgerichtete Kammer der
Architekten und Ingenieure TIMMOB äußerte starke Einwände gegen die
Finanzierung kommunaler Bauprojekte durch EU-Gelder, berichtet ein bei der
Stadtverwaltung von Diyarbakir angestellter Ingenieur. Tatsächlich sind die
lllusionen über einen EU-Beitritt der Türkei riesig. »Es wäre eine Katastrophe
für die Türkei, wenn sie nicht in die EU kommt«, meint Seracettin Kayran, der
DEHAP-Vorsitzende von Siirt. In seinen Augen steht die EU für Rechtsstaatlichkeit
und wirtschaftliche Entwicklung. Die Alternative sei »eine Diktatur wie unter
Saddam Hussein im Irak«. Daß die geplante EU-Verfassung Neoliberalismus und
militärische Aufrüstung für alle Mitgliedstaaten zur Pflicht macht, spielt in
der kurdischen Europa-Diskussion ebensowenig eine Rolle wie die drohende
ökonomische Vertreibung weiterer Millionen Kurden aus ihren Dörfern bei der von
der Union geforderten Verminderung des großen Agrarsektors der Türkei. »Die EU
wird uns helfen, mit wissenschaftlichen Mitteln unsere Landwirtschaft so zu
entwickeln, daß unsere Frauen und Kindern nicht mehr 15 Stunden am Tag auf dem
Feld arbeiten müssen«, glaubt Kayran statt dessen.
Öcalans Vorschlag
Indes sorgt das vom ehemaligen PKK-Chef Abdullah Öcalan entwickelte Konzept
eines »Demokratischen Konföderalismus« für manche Debatte: eine Art Rätesystem
aus pyramidenförmig von unten nach oben aufgebauten Stadtviertel-, Stadt- und
Dorfräten, das als Alternative zum Nationalstaat gedacht ist. Überall auf den
diesjährigen Newrozfesten war bereits die grüne Flagge mit gelber Sonne und
rotem Stern als Symbol der Bewegung für einen Demokratischen Konföderalismus zu
sehen. Dieser jüngste Vorschlag des auf der Gefängnisinsel Imrali Inhaftierten
sorgt für lebhafte Diskussionen unter den DEHAP-Aktivisten. Der 21jährige
Übersetzer Mehmet hält dessen Ideen für utopisch und befürwortet eine
demokratische Republik Türkei mit Minderheitenrechten für die Kurden. Der
Student Ali sieht dagegen in Öcalans Vorschlag ein eigenständiges Entwicklungsmodell
für den Mittleren Osten jenseits der westlichen »Rezepte« Kapitalismus und
Sozialismus. So hätten die Kurden und ihre Vorfahren schon immer Clansysteme
und einen Konföderalismus der Volksstämme einem zentralstaatlichen Modell
vorgezogen.
Die Diskussion wird sicherlich auch auf dem Ende Mai in Diyarbakir erstmals
stattfindenden Sozialforum des Mittleren Ostens weitergeführt. »Unser Ziel ist
es, die weltweite Globalisierungskritik auch im Mittleren Osten zu etablieren«,
erklärt Ihsan Babaoglu, der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft Egitim-Sen in
Diyarbakir, die neben 31 anderen Organisationen zum Vorbereitungskomitee dieses
Forums gegen Krieg und kapitalistische Globalisierung gehört. »Die Kurden
bleiben die Avantgarde der Demokratisierung im Mittleren Osten – trotz der
Kollaboration mit den USA in Südkurdistan.« Und auch der Gewerkschaftschef
befürwortet einen EU-Beitritt, von dem er sich einen Demokratisierungsschub
erhofft. Einzig der alte Teppichhändler in seinem Laden vor der Großen Moschee
meint lakonisch: »Wir sind hier arm. Und arme Völker haben in der EU keinen
Platz.«