Die Aghas bestimmen nicht mehr überall ... aber die Angst ist noch da

Als Wahlbeobachter in Türkisch-Kurdistan

 

„Was hast Du hier zu suchen?“, wollte ein Polizist auf dem Flughafen von Diyarbakir auf deutsch von mir wissen. Freunde vom Menschenrechtsverein hatten mich gewarnt, bloß nicht laut zu sagen, dass ich als Journalist den Verlauf der Parlamentswahlen beobachten wollte. In der Provinz Diyarbakir im kurdischen Südosten der Türkei herrscht immer noch der Ausnahmezustand und Journalisten sind von der Armee nicht gerne gesehen. Ich sei Historiker, sage ich wahrheitsgetreu, und wolle die historischen Stadtmauern von Diyarbakir besichtigen.

 

Die im 4. Jahrhundert aus schwarzem Basalt errichteten Stadtmauern werden von den Einwohnern der heimlichen Hauptstadt Kurdistans als ein Symbol kurdischer Widerstandskraft gesehen. Nachdem das Kultusministerium Jahre lang die Genehmigung für die Restauration der fünf Kilometer langen Mauern verweigert hatte, ist die Instandsetzung seit einigen Monaten groß angelaufen. Überhaupt ist Diyarbakir, dass seit 1999 von der prokurdischen HADEP-Partei regiert wird, eine große Baustelle.

 

In den Jahren des Bürgerkriegs ist die Stadt von 300.000 Einwohnern auf über eine Million angewachsen. Rund um die Stadtmauern hausen Flüchtlinge, deren Dörfer von der Armee vernichtet wurden. Gecekondus - „über Nacht erbaut“ –heißen diese Slums. Jetzt werden zwischen den Hütten Straßen gebaut und Wasserleitungen verlegt. Viele Bewohner der Elendsviertel konnten bereits in die neu gebauten mehrstöckigen Plattenbauten an den Stadträndern ziehen. Runde Lehmofen zum Backen des Fladenbrotes erinnern im Erdgeschoß dieser modernen Häuser daran, dass ihre Bewohner noch vor wenigen Jahren als Bauern in kleinen Dörfern lebten. Bis zu 80 Prozent von ihnen sind arbeitslos und hoffen auf eine Rückkehr in ihre Heimatorte.

 

Am 3. November 2002 um sechs Uhr früh beginnen die Wahlen in den südöstlichen Provinzen der Türkei. Doch viele Wähler haben keine Wahlunterlagen erhalten. In Diyarbakir sollen so über 30.000 Menschen um ihr Wahlrecht betrogen worden sein.

 

Unsere Delegation, der auch der sächsischer PDS-Landtagsabgeordnete Heiko Kosel und die Münchner PDS-Stadträtin Brigitte Wolf angehören, fährt mit einem Kleinbus nach Cinar, einer Stadt mit 10.000 Einwohnern 30 Kilometer von Diyarbakir entfernt. Soldaten würden hier die Wähler einschüchtern und zur offenen Abstimmung zwingen, heißt es. 96 Dörfer gehören zu Cinar. In den Dörfern, die oftmals nur aus einigen Dutzend Lehm- oder Steinhütten, einem Schulhaus und einer Moschee bestehen, herrschen feudale Strukturen. Das Wort des Agha, des örtlichen Großgrundbesitzers, gilt als Gesetz.

 

Schon am ersten Wahllokal, dass in einer kleinen Dorfschule eingerichtet ist, sind schwer bewaffnete Soldaten aufmarschiert. Es seien Abgeordnete aus Europa als Wahlbeobachter da, erläutert unser Dolmetscher Ismail, ein Student der Dicle-Universtität, dem Offizier. Wir bekommen die Genehmigung, das Wahllokal zu betreten. Die Wahlurnen sind grob gezimmerte Holzkisten. Bei einigen Urnen ist das Siegel offensichtlich beschädigt. Frisches Wachs zum Wiederverschließen liegt auf dem Tisch.

 

„Wir haben keine Probleme.“ Noch oft sollten wir dies in den Wahllokalen von den Wahlkommissionen zu hören bekommen. Doch sobald keine Soldaten in der Nähe sind, reden die Menschen anders. „Hier würde jeder die DEHAP wählen“, flüstert mir ein alter Mann zu. „Doch die Menschen haben Angst, weil Soldaten in den letzten Tagen vorbeikamen und drohten, dass Dorf zu räumen, wenn die DEHAP gewählt wird.“ Die Demokratische Volkspartei DEHAP ist ein Wahlblock „für Arbeit, Demokratie und Frieden“ bestehend aus der HADEP und zwei kleinen türkischen sozialistischen Parteien.

Vor mehreren Wahllokalen hat die Armee Panzerwagen auffahren lassen, um ihren Drohungen Nachdruck zu verleihen. Bevor wir kamen, seinen die Soldaten sogar in den Wahlräumen gestanden, erfahren wir.

 

Wir sehen auch Zivilisten mit Kalaschnikows vor den Wahllokalen. Bis zu 90.000 dieser vom Staat bezahlten „Dorfschützer“ gibt es noch in den kurdischen Provinzen. Mehrfach griffen Dorfschützer am Wahltag DEHAP-Wahlbeobachter an und verletzten einige von ihnen. Doch es gab auch Fälle, in denen Dorfschützern ihre Waffen vom Staat abgenommen wurden, weil sie sich an DEHAP-Wahlkundgebungen beteiligten. Erst nach unserem Hinweis auf das Waffenverbot in den Wahllokalen drückt ein Dorfschützer sein Gewehr einem Freund in die Hand, als er das Wahllokal zur Stimmabgabe betrat.

 

Fast 8 Stunden lang verfolgt uns ein weißer Kleinbus. Die beiden zivil gekleideten Insassen gehören dem JITEM, einem für zahlreiche Morde und Folterungen an Oppositionellen verantwortlichen Militärgeheimdienst an. Da die Dörfer nur über staubige Feldwege zu erreichen sind, müssen unsere Verfolger an diesem Tag viel Dreck schlucken, um uns auf den Fersen zu bleiben.

 

In den meisten Dörfern werden wir freudig begrüßt. Dutzende schwielige Bauernhände schieben sich uns entgegen. Einige tragen das Parteiabzeichen der DEHAP mit dem Symbol einer Fackel. Die Ähnlichkeit des Symbols mit der ehemaligen Parteifahne der Kurdischen Arbeiterpartei PKK ist wohl kein Zufall. Schließlich entstammt auch die Melodie der Parteihymne einem bekannten Guerillalied.

 

Obwohl die Wahlen noch einige Stunden laufen, hätten schon alle 300 Einwohner gewählt, erklärt uns der Vorsteher eines Dorfes. Außer ihm begrüßt uns hier niemand. Bewaffnete Dorfschützer lungern herum. Sie teilen sich hier die Macht mit der Glückspartei Saadet. Die Anhänger dieser islamisch-fundamentalistischen Partei, die landesweit auf gerade einmal 2,5% der Stimmen kam, weigern sich, uns „Ungläubigen“ die Hand zu geben. Ein völlig verdreckter Raum ohne Licht dient als Wahlkabine. Die Wähler in diesem Ort mussten entweder blind wählen oder offen vor den Augen der Dorfschützer. Aber vielleicht wurden hier wie in einigen anderen Orten auch sämtliche Wahlscheine vom Dorfvorsteher persönlich ausgefüllt. Von den Dorfbewohnern werden wir darüber keine Auskunft bekommen. Angst liegt in der Luft.

 

Nach dem türkischen Wahlgesetz hat jede Partei das Recht, mit einem Vertreter zur Stimmauszählung anwesend zu sein. In einem in einer Garage eingerichteten Parteilokal der DEHAP bekommen wir Informationen, dass DEHAP-Beobachter vielerorts am Betreten der Wahllokale gehindert würden. Da uns unsere Verfolger vom JITEM wohl schon über Funk angekündigt haben, werden DEHAP-Beobachter im nächsten Ort rechtzeitig vor unserer Ankunft wieder zugelassen. Dank unserer Anwesenheit werden die Stimmen vollkommen öffentlich vor dem ganzen Dorf ausgezählt. Bei den Wahlen vor drei Jahren gab es hier noch keine Stimmen für die HADEP und die Mutterlandspartei ANAP des örtlichen Aghas hatte die absolute Mehrheit. Jetzt erobert die DEHAP auf Anhieb 50 Prozent der Stimmen. Nur noch ein Drittel der Einwohner waren bereit, die Partei des Aghas zu wählen. „Er verspricht uns immer, wenn wir ANAP wählen, werden hier neue Straßen gebaut. Aber diesmal sind wir nicht mehr darauf reingefallen“, freut sich ein DEHAP-Wähler.

 

Ein junger Soldat winkt uns heran und begrüßt uns auf englisch. Cengiz stammt aus dem Badeort Bodrum an der türkischen Westküste. Er zählt jeden Tag bis zum Ende seines Wehrdienstes. Unvermittelt bricht das Gespräch ab, als die JITEM-Agenten um die Ecke biegen. Cengiz steht wieder auf seinem Posten, dass deutsche G-3 Gewehr schussbereit.

 

Mit 6,2 Prozent – dass sind fast zwei Millionen Stimmen – verfehlte die DEHAP den Sprung über die 10-Prozenthürde der Nationalversammlung. In den 13 östlichen Provinzen der Türkei wurde sie die stärkste Partei und kam in Diyarbakir auf 56 Prozent. „Wir hatten uns 8,5 Prozent erhofft“, erzählt uns Halis, der in der Stadtverwaltung von Diyarbakir tätig ist. „Doch der Wahlblock der DEHAP wurde erst vor zwei  Monaten gegründet. Wir hatten nicht genug Zeit, uns im ganzen Land bekannt zu machen. Wir haben auch Hinweise, dass viele Stimmzettel für die DEHAP in den Wahllokalen `verschwunden`sind.“

 

„Am 4.November werden wir in einer Türkei ohne Angst erwachen, denn dann wird die DEHAP im Parlament sein“, hatte der linke Wahlblock angekündigt. Stattdessen donnern dutzende Kampfflugzeuge der türkischen Armee an diesem Tag wieder über Diyarbakir als wollten sie demonstrieren, dass die Macht der Armee ungebrochen ist. Neu sind die AWACS-Maschinen, die jetzt auch über der Stadt kreisen. Sie erinnern daran, dass in der Region die Vorbereitungen für einen neuen Krieg auf Hochtouren laufen. Die Ölfelder von Kirkuk und Mossul im irakischen Teil Kurdistans winken als fette Beute, wenn sich die Türkei am Feldzug des George W. Bush gegen Bagdad beteiligt.

 

Dr. Nikolaus Brauns, November 2002