Aus: junge Welt Antikriegsbeilage,
Beilage der jW vom 01.09.2018
Unzertrennliche
Waffenbrüder
Der strategische Imperativ der deutschen
Türkei-Politik
Von Nick Brauns
Der preußische Offizier Helmuth von Moltke wurde 1836
für drei Jahre als Instrukteur der osmanischen Armee in die heutige Türkei
abkommandiert. Moltke nahm dabei auch an einem Feldzug gegen aufständische
Kurden teil. »Es ist lange die Aufgabe der abendländischen Heere gewesen, der
osmanischen Macht Schranken zu setzen. Heute scheint es die Sorge der
europäischen Politik zu sein, ihr das Dasein zu fristen«, formulierte Moltke
damals prophetisch die zukünftige Rolle Deutschlands zur Stabilisierung der
türkischen Herrschaft. Die »Moltke-Legende« erscheint somit als Vorspiel der
bis heute andauernden strategischen deutsch-türkischen Waffenbrüderschaft.
Als das Deutsche Reich im letzten Viertel des 19.
Jahrhunderts in seine imperialistische Phase eintrat, rückte das noch nicht
unter den anderen Großmächten aufgeteilte Vielvölkerreich am Bosporus ins
Blickfeld der Berliner Kolonialstrategen. Da das Deutsche Reich als einzige
Großmacht keine Gebietsansprüche auf osmanisches Territorium stellte und
andererseits der preußisch-deutsche Militarismus im Krieg gegen Frankreich 1871
seine Schlagkraft bewiesen hatte, beauftragte Sultan Abdülhamid
II. 1882 eine deutsche Militärmission mit der Reorganisation der desolaten
türkischen Armee. Unter dem Leiter der Militärmission Colmar von der Goltz-Pascha erlangte das Deutsche Reich Einfluss beim
Sultan. Für die deutsche Kanonenschmiede Krupp und Konsorten führte der
Eintritt der deutschen Offiziere in die osmanische Armee zu lukrativen
Rüstungsgeschäften, die deutsche Waffenindustrie erlangte bald ein Monopol im
Türkeigeschäft. »Das wichtigste Operationsfeld des deutschen Imperialismus
wurde die Türkei, sein Schrittmacher hier die Deutsche Bank und ihre
Riesengeschäfte in Asien, die im Mittelpunkt der deutschen Orientpolitik stehen«,
schrieb die Sozialistin Rosa Luxemburg. Zum konfliktträchtigen Symbol deutscher
Weltpolitik wurde ab 1902 der Bau der Bagdadbahn.
Eine Bahnstrecke von Berlin über Konstantinopel bis zum Persischen Golf sollte
den deutschen Einfluss in der Türkei verstärken und die Ausbeutung der Region
auf dem Landweg erleichtern. Zudem sollte die Bahn, mit der sich schnell
Truppen transportieren ließen, dem weiteren Zerfall des »kranken Mannes am
Bosporus« entgegenwirken. »Einzig und allein eine politisch und militärisch
starke Türkei ermöglicht es uns, dafür zu sorgen, dass die großen Aussichten,
welche sich in den Ländern am Euphrat und Tigris für die Vergrößerung unseres
Nationalvermögens und die Verbesserung unserer wirtschaftlichen Bilanz bieten,
auch wirklich mit einiger Sicherheit in die Sphäre der realen Existenz
übergehen können. Für eine schwache Türkei keinen Pfennig, für eine starke,
soviel nur irgend gewünscht wird«, formulierte der nationalliberale
Kolonialstratege Paul Rohrbach in seinem Buch »Die Bagdadbahn
– Vom deutschen Weg zur Weltgeltung« im Jahr 1902 den
bis heute geltenden kategorischen Imperativ der deutschen Türkeipolitik.
Mit dem Beschuss russischer Schwarzmeerhäfen durch die
in türkischen Besitz übergegangenen deutschen Kriegsschiffe Breslau und Goeben trat die Türkei am 28. Oktober 1914 in den Ersten
Weltkrieg ein, nachdem sie einen geheimen Bündnisvertrag mit Deutschland
geschlossen hatte.
Kriegszieldenkschriften des deutschen Monopolkapitals
wiesen der türkischen Armee die Aufgabe zu, für Deutschland die Ölquellen am
Kaspischen Meer zu erobern. Unter deutschem Oberkommando kämpfte die osmanische
Armee an der Seite des deutschen Reiches. Deutsche Diplomaten wurden 1915 und
1916 zu Mitwissern, einige deutsche Militärs auch zu Mittätern des Genozids an
über einer Million Armeniern. Mit den Worten, »unser einziges Ziel ist es, die
Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob
darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht«, wies Reichskanzler Theobald von
Bethmann Hollweg im Dezember 1915 den Vorschlag des deutschen Botschafters in
Konstantinopel zurück, wenigstens in der deutschen Presse »den Unmut über die Armenierverfolgung zum Ausdruck kommen zu lassen und mit
Lobhudeleien der Türken aufzuhören«.
In den 1930er Jahren lebten die wirtschaftlichen
Beziehungen zwischen Nazideutschland und der türkischen Republik wieder auf.
Die Türkei hielt dem Reich mit Unterzeichnung eines Nichtangriffspaktes vier
Tage vor dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 militärisch den Rücken
frei. Dazu kamen umfangreiche Rohstofflieferungen für die deutsche
Rüstungsproduktion.
Nach dem Zweiten Weltkrieg fand die Waffenbrüderschaft
ihre Fortsetzung im Rahmen der NATO, der die Türkei 1953 und die Bundesrepublik
1955 beitraten. Nach dem NATO-Beschluss von 1964, der Türkei unentgeltliche
Rüstungshilfe zu leisten, nahm die Bundesrepublik im gleichen Jahr
Waffenlieferungen auf und wurde innerhalb der nächsten 30 Jahre zum
zweitgrößten Rüstungslieferanten des Landes nach den USA.
Einen Tag nach dem Militärputsch vom 12. September
1980 erklärte Bundesfinanzminister Hans Matthöfer (SPD), der zuvor einen
Milliardenkredit des IWF für die Türkei koordiniert hatte, der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung, er hoffe auf einen »heilsamen Schock« und ein
Arrangement, an dem »sowohl die demokratischen Kräfte als auch die Armee
beteiligt« seien. Das erste internationale Abkommen, das die Putschjunta
unterzeichnete, war ein Vertrag mit der sozialliberalen Bundesregierung über
Polizeihilfe.
Nach Beginn des bewaffneten Kampfes der Arbeiterpartei
Kurdistans (PKK) Mitte der 1980er Jahre kam der Bundesrepublik im Rahmen eines Aufstandsbekämpfungsprogramms der NATO eine Schlüsselrolle
zu. Die kurdische Diaspora bekam das zu spüren: Am 26. November 1993 verhängte
das Bundesinnenministerium unter Manfred Kanther (CDU) ein Betätigungsverbot
für die PKK. »Die politische Agitation der PKK und ihr nahestehender
Organisationen hat zwischenzeitlich ein außenpolitisch nicht mehr vertretbares
Ausmaß erreicht«, heißt es in der Verbotsverfügung. Eine weitere Duldung der
PKK-Aktivitäten werde die »deutsche Außenpolitik unglaubwürdig machen und das
Vertrauen eines wichtigen Bündnispartners, auf das Wert gelegt wird,
untergraben«.
Ihre geopolitisch bedeutsame Rolle beweist die Türkei
heute als Investitions- und Produktionsstandort für rund 6.000 deutsche Firmen,
als Exportmarkt, als Energietransferland und militärisches Sprungbrett in den
Nahen Osten – und nicht zuletzt als Sperriegel gegen
Flüchtlinge. Die unentgeltliche Militärhilfe für die Türkei war zwar nach dem
Ende des Kalten Krieges eingestellt worden, doch die deutschen
Waffenlieferungen gehen seither als private Milliardengeschäfte der
Rüstungsindustrie weiter – abgesichert durch Exportrisikogarantien der
Bundesregierung. Zu einer der letzten Amtshandlungen der schon abgewählten SPD-Grünen-Regierung
2005 gehörte die Freigabe der Lieferung von »Leopard-II«-Kampfpanzern. Eben
diese kamen beim Angriff auf Afrin in Nordsyrien im Januar dieses Jahres zum
Einsatz – ebenso wie Haubitzen aus deutscher Produktion, Daimler-Benz-Lastwagen
und in der Türkei in Lizenz gefertigte Sturmgewehren
von Heckler & Koch.
Nicht der völkerrechtswidrige Einmarsch in Syrien,
sondern die Hinwendung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip
Erdogan zu Russland sorgt dabei für Irritationen in Berlin. »Unser Interesse
muss deshalb vor allem sein, die Türkei weiterhin geopolitisch ›einzubinden‹ –
man kann auch sagen ›einzuhegen‹, um sie nicht dauerhaft in eine Sonderrolle
abdriften zu lassen, deren Folgen für uns unabsehbare Risiken beinhalten«,
bekräftigte der frühere Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) am 24. März 2018
im Tagesspiegel die seit über 100 Jahren gültige strategische
Orientierung des deutschen Imperialismus. Für eine starke Türkei an der Seite
Deutschlands ist die Bundesregierung weiterhin bereit, jeden Preis zu zahlen –
auch wenn darüber wie vor 100 Jahren die Armenier und heute die Kurden zugrunde
gehen.