Junge Welt 25.10.2008 / Geschichte / Seite 15

Kemals Einparteienstaat

Der »Vater aller Türken«, Mustafa Kemal, gründete vor 85 Jahren die Republik Türkei

Von Nick Brauns

Die Niederlage der Achsenmächte Deutschland und Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg hatte zum Zusammenbruch des mit ihnen verbündeten Osmanischen Reiches geführt. Alliierte Truppen besetzten nach dem Waffenstillstand von Mudros im Oktober 1918 den größten Teil der Türkei.

In dieser Situation schlossen sich die besitzenden Klassen – die durch den Raub armenischen Eigentums reich gewordene türkische Bourgeoisie und kurdische Großgrundbesitzer – mit den um ihren Einfluß fürchtenden zivilen und militärischen Bürokraten zu »Gesellschaften zur Verteidigung der Rechte« zusammen. Reste des osmanischen Heers sammelten sich zum Guerillakrieg gegen die Invasoren. Um die staatliche Ordnung wiederherzustellen, schickte der mit der Entente kollaborierende Sultan Mehmet VI. im Frühjahr 1919 Generalstabsoffizier Mustafa Kemal nach Ostanatolien.

Der 1881 als Sohn einer Bauerstochter und eines Zollbeamten in Saloniki geborene Kemal, der sich bei der Schlacht um Gallipoli 1915 höchste Verdienste erworben hatte, schien politischer Ambitionen unverdächtig. Doch nach seiner Landung in Samsun am 19. Mai 1919 nutzte Kemal seine Sondervollmachten, um sich an die Spitze der patriotischen Erhebung zu stellen. »Unter den Umständen gab es nur einen Entschluß, nämlich einen neuen türkischen Staat zu schaffen, der sich auf die nationale Souveränität stützte und eine Unabhängigkeit ohne jeden Vorbehalt und ohne jede Einschränkung besaß«, rechtfertigte er sich später.

Sieg der Bourgeoisie

Aus Kongressen in Erzurum und Sivas ging im September 1919 die »Alltürkische Gesellschaft zur Verteidigung der Rechte Anatoliens und Rumeliens« hervor, die sich in einem »Nationalpakt« zur Wiederherstellung der Souveränität und Integrität der Türkei in den Grenzen des Waffenstillstands von Mudros verpflichtete. Als auch das neugewählte Parlament in Istanbul den Nationalpakt annahm, wurde es von alliierten Truppen im März 1920 aufgelöst. Nun rief Mustafa Kemal in der damaligen Kleinstadt Ankara eine außerordentliche Versammlung der »Alltürkischen Gesellschaft« ein, die sich am 23. April 1920 zusammen mit geflohenen Abgeordneten des Istanbuler Parlaments zur Großen Türkischen Nationalversammlung konstituierte. Die neugebildete Nationalregierung unter Mustafa Kemal erfuhr lediglich von Sowjetrußland völkerrechtliche Anerkennung und anschließend auch Waffenhilfe. Die Ententemächte diktierten dagegen am 10. August 1920 dem Sultan den Friedensvertrag von Sèvres, der die Abtretung großer Landesteile an Griechen, Armenier und Kurden sowie die Kontrolle des anatolischen Reststaates durch Briten, Italiener und Franzosen vorsah. Dagegen erhob sich die von Mustafa Kemal geführte Befreiungsarmee im Bündnis mit kurdischen Stammeskriegern, die unter Berufung auf die Verteidigung des Islam gegen die »Ungläubigen« gewonnen wurden.

Der Klassencharakter der Regierung von Ankara als Block der besitzenden Klassen zeigte sich bereits im Befreiungskrieg mit der Zerschlagung der konkurrierenden »Grünen Armee«. Diese Bauernpartisanen vertraten eine Mischung aus islamischen und kommunistischen Vorstellungen und hatten in einigen Landesteilen Komitees der Volksmacht errichtet, die mit Landverteilung unter armen Bauern begannen. In der Nacht zum 29. Januar 1921 wurden der Vorsitzende der Kommunistischen Partei der Türkei, Mustapha Suphi, und 14 weitere Parteiführer bei der Überfahrt über das Schwarze Meer von Polizeiagenten ermordet.

Nach einem entscheidenden Sieg über die griechischen Truppen im August 1921 am Fluß Sakarya, 100 Kilometer von Ankara entfernt, wurden die Invasoren in der »Großen Offensive« im Hochsommer 1922 endgültig in die Flucht geschlagen. Am 1. November 1922 verkündete Mustafa Kemal den Sieg des »türkischen Staates«. Der gestürzte Sultan Mehmet VI. floh auf einem britischen Kriegsschiff. Der Vertrag von Sèvres wurde durch den Friedensvertrag von Lausanne am 24. Juli 1923 revidiert und die Türkei in ihren heutigen Grenzen anerkannt. Größter Verlierer waren die nicht am Verhandlungstisch vertretenen Kurden, deren Siedlungsgebiete auf die Türkei, Irak, Syrien und Iran aufgeteilt wurden.

Rassistische Herrschaft

Am 6. Oktober 1923 verließ der letzte Ententesoldat Istanbul, und am 29. Oktober erfolgte die Ausrufung der Türkischen Republik. Unter Mustafa Kemal als Präsidenten begann eine auf die Armee gestützte bonapartistische Entwicklungsdiktatur im Interesse der schwachen türkischen Bourgeoisie.

Die Einheit des Landes war eine Überlebensfrage, um die Türkei aus Abhängigkeit und Rückständigkeit zu befreien. Dafür sollte in dem multiethnischen Staat ein künstliches Staatsvolk geschaffen werden. »Der Staat erkennt außer der türkischen keine andere Nation an«, verkündete der Verfassungsausschuß die Zwangsassimilation aller anderen innerhalb der Grenzen des neuen Staates lebenden Nationalitäten wie Kurden, Arabern, Tscherkessen, Lasen und Assyrern. »Nur das Türkentum besitzt die Fähigkeit, alle anderen Rassen unter sich zu vereinigen.« Als die Nationalversammlung 1924 das islamische Kalifat aufhob, wurden zugleich kurdische Schulen und Publikationen verboten. Die Niederschlagung eines dagegen gerichteten kurdischen Aufstandes unter Scheich Sayid im Frühjahr 1925 wurde zur Verkündung des »Gesetzes zur Sicherung der öffentlichen Ruhe« genutzt, das unter der Einparteiendiktatur von Mustafa Kemals Republikanischer Volkspartei gleichermaßen zur Unterdrückung kurdischer Unabhängigkeitsbestrebungen, sozialistischer Klassenkampfpropaganda und der bürgerlichen Opposition diente. Bis 1938 wurden mehr als 1,5 Millionen Kurden massakriert oder deportiert. Gleichzeitig wurden Bauern und Arbeiter unter den Knüppeln der Gendarmerie durch Steuern, Ausbeutung und sogar Zwangsarbeit zu einer primitiven Art der Kapitalakkumulation gezwungen, während die kemalistische Ideologie »die Zerschlagung des Klassenkampfes und der Klasse, die durch die Ordnung einer einzigen widerspruchslosen, unabhängigen und fortschrittlichen Nation ersetzt werden« predigte.

Im Rahmen des prowestlichen Reformprogramms wurden islamische Vereinigungen verboten, Schweizer Zivilrecht sowie das – faschistische – italienische Strafrecht übernommen, die lateinische Schrift eingeführt, die Verschleierung der Frauen aufgehoben, Hüte statt des traditionellen Fes vorgeschrieben. 1934 wurden schließlich Nachnamen eingeführt; Mustafa Kemal nannte sich selbst »Atatürk« (Vater der Türken).

Doch die Beseitigung feudaler Beziehungen auf dem Lande als wichtigste Aufgabe jeder bürgerlichen Revolu­tion wurde von den Kemalisten niemals ernsthaft angepackt. Vielmehr schloß der Staat Bündnisse mit den Grundherren gegen das Volk. Großgrundbesitzer, Scheichs und Sippenchefs repräsentieren so insbesondere in den kurdischen Landesteilen weiterhin die unantastbare ökonomische, politische und religiöse Autorität. Weil die bürgerliche »Demokratie« in der Türkei sich stets auf die Bajonette der Armee stützte und mit den Feudalherren arrangierte, konnte sie bis heute weder Landreformen durchführen, noch ernsthafte Schritte in Richtung wirklicher Demokratisierung unternehmen, noch die kurdische Frage lösen.

 

Daten der türkischen Geschichte

Von Nick Brauns

Mustafa Kemal »Atatürk« starb 1938, sein Nachfolger wurde der bisherige Ministerpräsident Ismet Inönü. Am Zweiten Weltkrieg nahm die Türkei nicht aktiv teil. Mit der Wahl der auf US-Druck gegründeten Demokratischen Partei endete 1950 die Einparteienära der kemalistischen Republikanischen Volkspartei. 1952 schloß sich die Türkei der NATO an und ist seitdem neben Israel der wichtigste Brückenkopf des Imperialismus im Nahen Osten. Gegen die von Großgrundbesitzern und Großkapitalisten gestützte Regierung von Adnan Menderes putschte 1960 das Militär und führte die bislang fortschrittlichste Verfassung der Türkei ein. 1963 wurde ein Assoziierungsabkommen mit der damaligen EWG abgeschlossen. In den 60er Jahren kam es zu einem Aufschwung der Arbeiterbewegung sowie antiimperialistischer Proteste gegen die US-Dominanz, denen ein weiterer Militärputsch 1971 ein Ende setzte. Seit 1974 halten türkische Truppen den Nordteil Zyperns besetzt.

Nach einem Aufschwung der sozialistischen Linken, nach faschistischen Provokationen und wachsenden Unruhen in den kurdischen Gebieten putschte die Armee am 12. September 1980 unterstützt von der NATO und zerschlug blutig jede linke Opposition. Die von der Junta vorgelegte Verfassung hat bis heute Gültigkeit. 1984 begann der Guerillakampf der Arbeiterpartei Kurdistans PKK, der sich ab 1990 zum Volksaufstand ausweitete. 35000 Menschen wurden in den 90er Jahren von der Armee getötet und Tausende kurdische Dörfer zerstört, bis 1999 PKK-Führer Abdullah Öcalan durch ein Geheimdienstkomplott in die Türkei verschleppt wurde. 1997 zwang die Armee als »Hüterin des Laizismus« eine Koalitionsregierung unter dem Islamisten Necmettin Erbakan zum Rücktritt. Seit 2002 regiert die islamisch-konservative AKP-Partei von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Die seit Ende 2005 begonnenen Aufnahmeverhandlungen der Türkei mit der EU bedeuten für die Bevölkerung verstärkte Ausbeutung und soziale Härten durch Umsetzung neoliberaler Maßnahmen, während es zu einer Verbesserung der Menschenrechte insbesondere für die kurdischen Landesteile nur auf dem Papier kam.