Über das Auslöschen von Personen

Eine Ausstellung über Stalins Retuschen in München

 

Josef Wissarionowitsch Stalin hatte ein Problem. Sein prachtvoller Schnauzer, die Zierde eines jeden georgischen Revolutionärs, war für einen Staatsmann von Welt zu zerzaust und den "Führer aller Werktätigen" verunzierten zudem häßliche Pockennarben. Fleißige Retuscheure wußten einen Ausweg. In ihren Labors bearbeiteten sie die Photographien Stalins so lange mit Tusche und Pinsel, bis dieser mit der Babyhaut eines Filmstars und sorgfältig gestutzten Bart die kommunistischen Illustrierten in aller Welt zierte. Diese Art der Retusche, mit der in den Anfangsjahren der Perestroika auch noch der berühmte "Gorbi-Fleck" entfernt wurde, ist ein vergleichsweise harmloses Beispiel für Stalins Fälscherwerkstatt. Auf dem Höhepunkt des Personenkultes wurden statt harmloser Pockennarben die Bilder hunderter in Ungnade gefallener Parteifunktionäre wegretuschiert. Zum Ausgleich wurde das Bild Stalins in historische Szenarien eingeblendet, an denen er in Wirklichkeit niemals teilgenommen hatte.

Der englische Kunstredakteur David King hat die weltweit größte Sammlung sowjetischer Fotoretuschen, Bildfälschungen und deren Originale aus der Stalin-Ära zusammengetragen. Eine Auswahl davon wird noch bis zum 10. November im Münchner Kulturzentrum im Gasteig präsentiert. Die Bilder sind eine eindrucksvolle Anklage des Personenkultes und seiner Folgen unter Stalins Herrschaft in der Sowjetunion.

"Sie bringen einen Namen zum Verschwinden / Ganz unauffällig und wie aus Versehn. / Bald kannst Du nirgendwo dich wiederfinden, / Und ratlos fragst du dich: Was ist geschehn?" So beschrieb der Dichter Johannes R. Becher in seinem Gedicht "Motiv aus vergangenen Zeiten" die traumatische Erfahrung der Großen Säuberungen, die er als Exilant in der Sowjetunion miterlebte.

Viele Mitkämpfer Lenins gerieten damals in die Fänge der Stalin`schen Bürokratie. Ihre Verbannung oder Hinrichtung fand ihre Vollendung durch das Auslöschen jeglichen Andenkens. Gespenstisch wirken die Bilder aus dem Bildband "Zehn Jahre Usbekistan" aus dem Besitz des Photographen Alexandr Rodschenko. Seite für Seite hatte dieser mit schwarzer Tusche die von ihm porträtierten Köpfe führender Parteifunktionäre übermalt, die mittlerweile in Ungnade gefallen waren. Eines der bekanntesten Beispiele für Bildmanipulationen ist die Aufnahme Lenins, der 1920 von einer Holztribüne vor dem Moskauer Bolschoi-Theater zu Rotarmisten spricht. Auf der Originalaufnahme stehen Trotzki und Kamenew neben ihm. Als beide 1927 aus der Partei ausgeschlossen werden, ersetzen plötzlich fünf Treppenstufen ihre Abbildung. Als ich Anfang 1990 mit einer westdeutschen Delegation eine Kaserne der Sowjetischen Streitkräfte bei Berlin besuchte, präsentierte uns der Propagandaoffizier stolz das im Zeichen der Perestroika ausgewechselte Bild. Statt der Treppenstufen durfte wieder der Gründer der Roten Armee Trotzki neben Lenin stehen.

Daß das Schwärzen unliebsamer Personen keine Besonderheit des Stalinismus ist, konnten einige Kurden in München noch 1999 erfahren. Unter Anleitung der Polizei mußten sie bei einem Infostand mit schwarzem Edding Bilder des PKK-Vorsitzenden Öcalan übermalen, ehe sie ihre Zeitungen verkaufen durften.

 

Nick Brauns, München

 

 

Ausstellung "Stalins Retuschen" bis zum 10.November 1999 täglich von 10-23 Uhr im Gasteig in München.

Katalog DM 48,-