»So viel gelogen«
Eine Berliner Ausstellung befasst sich im Rückgriff
auf Sebastian Haffner mit Legenden der Novemberrevolution
Von Nick Brauns
Unter dem Titel »Der große Verrat«
erschien Ende 1968 in der Illustrierten Stern eine
zwölfteilige Serie zur Novemberrevolution. Der politisch dem liberalen Lager
zugehörige Publizist Sebastian Haffner rechnete in seiner ebenso streitbaren
wie prägnanten Analyse schonungslos mit der Rolle der Mehrheitssozialdemokratie
in dieser Revolution ab. »Die deutsche Revolution von 1918 war eine
sozialdemokratische Revolution, die von den sozialdemokratischen Führern
niedergeschlagen wurde: ein Vorgang, der in der Weltgeschichte kaum
seinesgleichen hat«, lautete Haffners zentrale These. Durch ihr Bündnis mit den
alten staatstragenden und militaristischen Kräften des Kaiserreichs habe die
SPD nicht nur ihre baldige Selbstentmachtung betrieben, sondern auf lange Sicht
der Nazibewegung als radikalisierten Erben der nationalen Rechten den Weg
geebnet.
1969 erschien die Stern-Serie als Buch
unter dem Titel »Die verratene Revolution – Deutschland 1918/19«. Zehn Jahre
später kam das Buch mit dem unverfänglicheren Titel »Die deutsche Revolution
1918/19« erneut in den Buchhandel, dafür hatte Haffner den wütenden Ton der
Erstauflage etwas entschärft, vom Inhalt aber nichts zurückgenommen.
50 Jahre nach Haffners Abrechnung mit der SPD befasst
sich eine Berliner Ausstellung unter dem Titel »Der Verrat?!«
mit »Legenden der Novemberrevolution«. Der Ort ist passend gewählt. Raimund Pretzel, wie Haffner vor seinem Gang ins britische Exil
1938 mit bürgerlichem Namen hieß, wohnte seit 1914 im Rektorengebäude der
Volksschule an der Prenzlauer Allee. In dem Gebäudekomplex befindet sich heute
das »Kultur- und Bildungszentrum Sebastian Haffner« mit dem Museum Pankow.
»Wohl über keinen historischen Vorgang ist so viel
gelogen worden wie über die deutsche Revolution 1918«, beklagte sich Haffner im
»Verrat«. Ausgehend von zentralen, auf Fahnenstoff von der Decke hängenden
Thesen des Publizisten werden in der Ausstellung die gängigsten Lügen und
Legenden über die Revolution vorgestellt und anhand historischer Dokumente,
Fotos, Filmsequenzen und Tonaufnahmen sowie aktueller Kommentare von
Historikern und Politikern zu Diskussion gestellt.
Der SPD-Vorsitzende, Reichskanzler und spätere
Reichspräsident Friedrich Ebert »hatte nicht die siegreiche Front, wohl aber
die siegreiche Revolution von hinten erdolcht«, kommentierte Haffner die von
der deutschen Militärführung um Hindenburg und Ludendorff aufgebrachte
Dolchstoßlegende, wonach die Reichswehr im Felde angeblich unbesiegt zum Opfer
der Revolution in der Heimat geworden sei. Weder die Abschaffung der Monarchie
noch eine soziale Revolution sei das Ziel der Führer der
Mehrheitssozialdemokratie um Ebert gewesen, die es sich als »parlamentarische
Honoratioren« längst bequem im Staate eingerichtet hatten. »Die Regierung Ebert
war keine revolutionäre Regierung, sie betrachtete sich einfach als
Konkursverwalter des Kaiserreichs«, so Haffner. Bis heute rechtfertigen
Sozialdemokraten wie zuletzt der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse
die blutige Niederschlagung der Massenproteste von revolutionären Arbeitern im
Januar 1919 durch die von Reichswehrminister Gustav Noske
geführten faschistoiden Freikorps mit der »Rettung der Demokratie« vor einer
angeblich drohenden »Bolschewisierung« Deutschlands. Die von Offizieren des
alten kaiserlichen Heeres am 15. Januar 1919 ermordeten »Karl Liebknecht und
Rosa Luxemburg sind die Symbolfiguren des Aufstands, aber nicht ihre wahren
Anführer. Vielmehr handelt es sich um weitgehend unkoordinierte Proteste«,
heißt es unter Berufung auf Haffner zur Legende vom »Spartakusaufstand« in der
Ausstellung.
Wenige hundert Meter vom Museum entfernt steht auf dem
Gelände der früheren Bötzow-Brauerei an der Saarbrücker
Straße Ecke Prenzlauer Allee ein Gedenkstein für Karl Liebknecht. Die Inschrift
auf dem wohl Ende der 50er Jahre eingeweihten Stein lautet: »Karl Liebknecht,
Kämpfer gegen Militarismus und Krieg, führte von hier aus die Kämpfe der
revolutionären Arbeiter und Soldaten am 7. und 8. Januar 1919«. Anders als es
die in diesem Fall von der SED-Geschichtsschreibung beförderte linke Legende
will, befand sich in der Bötzow-Brauerei während der
Januarkämpfe keineswegs der Kommandostand der Revolutionäre, klärt die
Ausstellung auf. Die Brauervilla diente den Revolutionären vielmehr als
Rückzugs- und Lagerraum. Auf der Flucht vor den Häschern des selbsternannten
»Bluthundes« Noske übernachtete Liebknecht hier
mehrere Tage neben Maschinengewehren auf einem Billard-Tisch. 1992 beschloss
die Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Prenzlauer Berg, den Gedenkstein zu
erhalten. »Bei den zu erhaltenden Denkmalen sind Fahnenstangen u.a. Merkmale zu
entfernen, die dem Missbrauch der Denkmale als Stätten von Aufmärschen und
Apellen dienen«, verfügte der zuständige Ausschuss für Bildung und Kultur
zugleich ängstlich.
Haffner orientierte sich bei seiner Untersuchung an
der bereits 1924 vom Sprecher der Revolutionären Obleute
Richard Müller veröffentlichten »Geschichte der Novemberrevolution«. Dieses
Standardwerk zur deutschen Revolution 1918/19 aus der Feder eines ihrer
maßgeblichen wenn auch bis vor kurzem weitgehend in Vergessenheit geraten
Akteurs wurde dankenswerter Weise vom Berliner Verlag »Die Buchmacherei«
wieder aufgelegt. Von Ralf Hoffrogge liegt seit
vergangenem Jahr zudem eine im Karl Dietz-Verlag erschienene Biographie von
Müller als dem »Mann hinter der Novemberrevolution« vor. Leider würdigt die
Ausstellung diese wichtige Quellenbasis für Haffner nicht entsprechend.
noch bis 19. Mai, Di. bis So., 10 bis 18
Uhr, Museum Pankow, Kultur- und Bildungszentrum Sebastian Haffner, Prenzlauer
Allee 227/228
Junge Welt 1.2.2019