junge Welt 09.09.2006 / Geschichte / Seite 15

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Sieg der Realos

Das Einknicken der Sozialdemokratie vor dem Imperialismus auf dem Jenaer Parteitag vor 95 Jahren

Nick Brauns

Auf dem Jenaer Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 10. bis 16. September 1911 stand erstmals ein außenpolitisches Thema im Mittelpunkt. Der Parteivorstand mußte sich für seine abwartende Haltung während der vorangegangenen Marokko-Krise rechtfertigen. Die Entsendung des deutschen Kriegsschiffs SMS Panther nach Agadir mit der Forderung nach Abtretung französischer Kolonialgebiete an Deutschland hatte die Welt im Juli an den Rand eines großen Krieges gebracht (siehe jW vom 1./2. Juli 2006).

Um den bürgerlichen Parteien keinen Anlaß zu geben, die Sozialdemokratie im bevorstehenden Reichstagswahlkampf als »vaterlandslose Gesellen« zu brandmarken, hatte der sozialdemokratische Parteivorstand wochenlang auf eine Initiative zu Protestaktionen gegen die Kriegsgefahr verzichtet. »Ich sehe in dem ganzen Streich etwas, womit unsere Staatslenker die allgemeine Aufmerksamkeit von den inneren Zuständen ablenken und Stimmung für die Reichstagswahlen machen wollen«, sprach sich Parteivorstandsmitglied Hermann Molkenbuhr gegen eine Konferenz des Internationalen Sozialistischen Büros zur Vorbereitung internationaler Antikriegskundgebungen aus. Rosa Luxemburg hatte diesen privat gehaltenen Brief Molkenbuhrs in der Leipziger Volkszeitung veröffentlicht. Erst fünf Wochen nach dem »Panthersprung nach Agadir« hatte der Parteivorstand auf Druck der Massen einen Aufruf zu Großdemonstrationen gegen den Krieg herausgegeben, dem Hunderttausende folgten.

Richtungskampf

August Bebel lobte in seinem Parteitagsreferat zur Marokko-Krise das angebliche Verdienst von Kaiser Wilhelm II. an der Erhaltung des Friedens und schob »alldeutschen und großindustriellen Kriegshetzern« allein die Verantwortung an der Verschärfung der Kriegsgefahr zu. Zwar bestritt der Parteivorsitzende die Notwendigkeit deutschen Gebietserwerbs in Marokko, doch er betonte, Deutschland müsse volle Gleichberechtigung seiner industriellen und Handelsinteressen gegenüber der französischen und britischen Regierung fordern. Ausdrücklich schloß Bebel einen Massenstreik der deutschen Arbeiterklasse zur Kriegsverhinderung aus, um das »Geschrei von der sogenannten Vaterlandslosigkeit der Sozialdemokratie« zu widerlegen.

»Wir können jetzt noch nicht Schluß der Debatte machen!«, rief Karl Liebknecht entsetzt, als auf Antrag der Parteirechten mit großer Mehrheit beschlossen wurde, keine Diskussion über Bebels Referat durchzuführen. Er vermisse in Bebels Vortrag fast jeden Hinweis auf die vorangegangenen Massenaktionen der Arbeiterklasse gegen die Kriegsgefahr. »Es ist unbedingt notwendig, daß in der Resolution der Massen nicht vergessen wird.«

Rosa Luxemburgs Ergänzungsantrag zur Marokko-Resolution hatte eine deutlich antikolonialistische Stoßrichtung. Luxemburg kritisierte, daß sich die Vorstandsresolution nur gegen einen Krieg »zwischen Kulturvölkern« wandte. »Vergessen wir nicht, daß zum Beispiel in Marokko schon seit längerer Zeit ein Krieg gegen die eingeborenen Stämme geführt wird, gegen den wir uns genauso wenden müssen wie gegen einen Krieg unter Kulturvölkern.« Gegen die Machenschaften kapitalistischer Cliquen in den Kolo­nien müßte nicht nur protestiert werden, weil diese schädlich für die Interessen der europäischen Arbeiterklasse seien, sondern weil sie auch die vitalsten Interessen der Eingeborenen in den Kolonialländern beeinträchtigten. Schließlich forderte Luxemburg auch eine Stellungnahme »gegen eine Vergrößerung des deutschen Kolonialbesitzes in friedlicher Weise, durch einen gewöhnlichen Diplomatenschacher hinter dem Rücken der Nation und ihrer gesetzgebenden Vertreter«.

Bebels taktische Konzeption zielte indes darauf, jegliche inhaltliche Debatte zur Marokko-Affäre zu verhindern und Luxemburg durch persönliche Diskreditierung zu isolieren, indem er ihre angebliche Illoyalität bei der Veröffentlichung des Molkebuhr-Briefes brandmarkte. In einer so geschaffenen Atmosphäre alter Kameradschaft, aus der sich Luxemburg ausgeschlossen habe, nahmen die 338 Delegierten die Parteivorstandsresolution zur Marokko-Frage einstimmig an und stimmten mit großer Mehrheit gegen Liebknechts und Luxemburgs Ergänzungen. Ein von den Parteirechten beantragtes Disziplinarverfahren gegen Luxemburg konnte dagegen zu Fall gebracht werden.

Klare Fronten

Die bürgerliche Presse jubelte, daß mit der Ablehnung der Ergänzungsanträge zur Marokko-Resolution August Bebel als erster maßgeblicher Führer der Sozialdemokratie den Widerstand gegen »friedlichen« Kolonialerwerb aufgegeben und die Notwendigkeit erkannt habe, die nationalen, wirtschaftlichen und politischen Interessen Deutschlands zu schützen.

Gegenüber dieser zutreffenden Analyse waren selbst die Vertreter der entschiedenen Linken innerhalb der Sozialdemokratie noch in Illusionen über den marxistischen Charakter der Partei befangen. »Wir bestreiten nachdrücklich, daß dem Votum des Parteitages die Bedeutung innewohnt, die die bürgerliche Presse aus ihm herausdestilliert«, urteilte etwa Clara Zetkin. Es unterliege keinem Zweifel, »daß der Jenaer Parteitag die feste Entschlossenheit der großen Mehrheit der Sozialdemokratie bekundet hat, von der alten unerschütterten grundsätzlichen Auffassung der gesellschaftlichen Entwicklung geleitet, auf dem Wege der bisherigen Taktik weiterzumarschieren«.

Lediglich Rosa Luxemburg erkannte die entscheidende Kehrtwendung auf dem Jenaer Parteitag: »Die ›Instanzen‹ wenden sich gegen die Linke. Der Parteivorstand, der jahrelang unter Bebels Führung gegen die Rechte focht, akzeptiert jetzt die Unterstützung der Rechten, um den Konservatismus gegen die Linke zu verteidigen.« Daß der Jenaer Parteitag Klarheit über das Kräfteverhältnis in der Partei gebracht und die Linke zum ersten Mal in geschlossener Reihe gegen den »Block des Sumpfes mit der Rechten« geführt habe, sei dagegen zu begrüßen.

Im Gegensatz zum Jenaer Parteitag nahm das Internationale Sozialistische Büro in seiner Sitzung vom 23. September 1911 in Zürich, an der unter anderem Lenin, Luxemburg sowie für die deutsche Sozialdemokratie August Bebel und Hermann Molkenbuhr teilnahmen, eine Resolution an, die sich ausdrücklich auch gegen die Erweiterung von Kolonialbesitz auf »friedlichem Weg« wandte und die Arbeiterklasse zu Protestaktionen gegen die Kriegsgefahr verpflichtete. Doch dieser Erfolg der Linken konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die einstmals marxistisch orientierte deutsche Sozialdemokratie bereits seit dem Jenaer Parteitag 1911 den Rubikon zu einer reformistischen und in der Konsequenz proimperialistischen Partei überschritten hatte. Die Zustimmung zu den kaiserlichen Kriegskrediten am 4. August 1914 sollte die letzen Illusionen der Parteilinken zerstören.

 

Quellentext: Leo Trotzki über eine Episode auf dem Jenaer Parteitag

»Auf dem sozialdemokratischen Parteitag in Jena im Jahre 1911 wurde mir auf Anregung von Liebknecht vorgeschlagen, über die Vergewaltigung Finnlands durch die zaristische Regierung zu referieren. Bevor ich jedoch zu meinem Referat kam, traf die telegraphische Nachricht ein von der Ermordung [des ehemaligen zaristischen Ministerpräsidenten] Stolypins in Kiew. Bebel nahm mich sofort ins Verhör: Was bedeutet das Attentat? Welche Partei kann dafür die Verantwortung übernehmen? Ob ich nicht durch mein Auftreten die unerwünschte Aufmerksamkeit der deutschen Polizei auf mich lenken würde? ›Sie befürchten‹, fragte ich den Alten vorsichtig, indem ich mich an die Geschichte mit [dem 1907 wegen seiner Teilnahme an einem sozialdemokratischen Kongreß von der Polizei ausgewiesenen britischen Sozialisten Harry] Quelch in Stuttgart erinnerte, ›daß mein Auftreten gewisse Schwierigkeiten verursachen könnte?‹ ›Ja‹, antwortete Bebel, ›ich gestehe, ich würde es lieber sehen, daß Sie nicht auftreten.‹ ›In diesem Falle kann von meinem Auftreten nicht die Rede sein.‹ Bebel atmete erleichtert auf. Nach einer Minute stürzte Liebknecht aufgeregt zu mir: ›Ist es wahr, daß sie Ihnen nahegelegt haben, nicht aufzutreten? Und Sie stimmten zu?‹ ›Wie konnte ich nicht zustimmen‹, rechtfertigte ich mich, ›hier ist doch Bebel der Herr und nicht ich‹. Seiner Empörung gab Liebknecht in der Rede Ausdruck, in der er schonungslos gegen die zaristische Regierung losging, ohne die Signale des Präsidiums zu beachten, das keine Komplikationen durch Majestätsbeleidigung entstehen lassen wollte. Die gesamte weitere Entwicklung der Partei ist in dieser kleinen Episode enthalten (...)«

* aus: Leo Trotzki: »Mein Leben«, Berlin 1930, S. 207