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Sieg der Realos
Das Einknicken der Sozialdemokratie vor dem Imperialismus auf dem Jenaer
Parteitag vor 95 Jahren
Nick Brauns
Auf dem Jenaer Parteitag der Sozialdemokratischen Partei
Deutschlands vom 10. bis 16. September 1911 stand erstmals ein außenpolitisches
Thema im Mittelpunkt. Der Parteivorstand mußte sich für seine abwartende
Haltung während der vorangegangenen Marokko-Krise rechtfertigen. Die Entsendung
des deutschen Kriegsschiffs SMS Panther nach Agadir mit der Forderung nach
Abtretung französischer Kolonialgebiete an Deutschland hatte die Welt im Juli
an den Rand eines großen Krieges gebracht (siehe jW vom 1./2. Juli 2006).
Um den bürgerlichen Parteien keinen Anlaß zu geben, die Sozialdemokratie im
bevorstehenden Reichstagswahlkampf als »vaterlandslose Gesellen« zu
brandmarken, hatte der sozialdemokratische Parteivorstand wochenlang auf eine
Initiative zu Protestaktionen gegen die Kriegsgefahr verzichtet. »Ich sehe in
dem ganzen Streich etwas, womit unsere Staatslenker die allgemeine
Aufmerksamkeit von den inneren Zuständen ablenken und Stimmung für die
Reichstagswahlen machen wollen«, sprach sich Parteivorstandsmitglied Hermann
Molkenbuhr gegen eine Konferenz des Internationalen Sozialistischen Büros zur
Vorbereitung internationaler Antikriegskundgebungen aus. Rosa Luxemburg hatte
diesen privat gehaltenen Brief Molkenbuhrs in der Leipziger Volkszeitung
veröffentlicht. Erst fünf Wochen nach dem »Panthersprung nach Agadir« hatte der
Parteivorstand auf Druck der Massen einen Aufruf zu Großdemonstrationen gegen
den Krieg herausgegeben, dem Hunderttausende folgten.
Richtungskampf
August Bebel lobte in seinem Parteitagsreferat zur
Marokko-Krise das angebliche Verdienst von Kaiser Wilhelm II. an der Erhaltung
des Friedens und schob »alldeutschen und großindustriellen Kriegshetzern«
allein die Verantwortung an der Verschärfung der Kriegsgefahr zu. Zwar bestritt
der Parteivorsitzende die Notwendigkeit deutschen Gebietserwerbs in Marokko,
doch er betonte, Deutschland müsse volle Gleichberechtigung seiner
industriellen und Handelsinteressen gegenüber der französischen und britischen
Regierung fordern. Ausdrücklich schloß Bebel einen Massenstreik der deutschen
Arbeiterklasse zur Kriegsverhinderung aus, um das »Geschrei von der sogenannten
Vaterlandslosigkeit der Sozialdemokratie« zu widerlegen.
»Wir können jetzt noch nicht Schluß der Debatte machen!«, rief Karl Liebknecht
entsetzt, als auf Antrag der Parteirechten mit großer Mehrheit beschlossen
wurde, keine Diskussion über Bebels Referat durchzuführen. Er vermisse in
Bebels Vortrag fast jeden Hinweis auf die vorangegangenen Massenaktionen der
Arbeiterklasse gegen die Kriegsgefahr. »Es ist unbedingt notwendig, daß in der
Resolution der Massen nicht vergessen wird.«
Rosa Luxemburgs Ergänzungsantrag zur Marokko-Resolution hatte eine deutlich
antikolonialistische Stoßrichtung. Luxemburg kritisierte, daß sich die
Vorstandsresolution nur gegen einen Krieg »zwischen Kulturvölkern« wandte.
»Vergessen wir nicht, daß zum Beispiel in Marokko schon seit längerer Zeit ein
Krieg gegen die eingeborenen Stämme geführt wird, gegen den wir uns genauso
wenden müssen wie gegen einen Krieg unter Kulturvölkern.« Gegen die
Machenschaften kapitalistischer Cliquen in den Kolonien müßte nicht nur
protestiert werden, weil diese schädlich für die Interessen der europäischen
Arbeiterklasse seien, sondern weil sie auch die vitalsten Interessen der
Eingeborenen in den Kolonialländern beeinträchtigten. Schließlich forderte
Luxemburg auch eine Stellungnahme »gegen eine Vergrößerung des deutschen
Kolonialbesitzes in friedlicher Weise, durch einen gewöhnlichen
Diplomatenschacher hinter dem Rücken der Nation und ihrer gesetzgebenden
Vertreter«.
Bebels taktische Konzeption zielte indes darauf, jegliche inhaltliche Debatte
zur Marokko-Affäre zu verhindern und Luxemburg durch persönliche
Diskreditierung zu isolieren, indem er ihre angebliche Illoyalität bei der
Veröffentlichung des Molkebuhr-Briefes brandmarkte. In einer so geschaffenen
Atmosphäre alter Kameradschaft, aus der sich Luxemburg ausgeschlossen habe,
nahmen die 338 Delegierten die Parteivorstandsresolution zur Marokko-Frage
einstimmig an und stimmten mit großer Mehrheit gegen Liebknechts und Luxemburgs
Ergänzungen. Ein von den Parteirechten beantragtes Disziplinarverfahren gegen
Luxemburg konnte dagegen zu Fall gebracht werden.
Klare Fronten
Die bürgerliche Presse jubelte, daß mit der Ablehnung der
Ergänzungsanträge zur Marokko-Resolution August Bebel als erster maßgeblicher
Führer der Sozialdemokratie den Widerstand gegen »friedlichen« Kolonialerwerb
aufgegeben und die Notwendigkeit erkannt habe, die nationalen, wirtschaftlichen
und politischen Interessen Deutschlands zu schützen.
Gegenüber dieser zutreffenden Analyse waren selbst die Vertreter der
entschiedenen Linken innerhalb der Sozialdemokratie noch in Illusionen über den
marxistischen Charakter der Partei befangen. »Wir bestreiten nachdrücklich, daß
dem Votum des Parteitages die Bedeutung innewohnt, die die bürgerliche Presse
aus ihm herausdestilliert«, urteilte etwa Clara Zetkin. Es unterliege keinem
Zweifel, »daß der Jenaer Parteitag die feste Entschlossenheit der großen Mehrheit
der Sozialdemokratie bekundet hat, von der alten unerschütterten
grundsätzlichen Auffassung der gesellschaftlichen Entwicklung geleitet, auf dem
Wege der bisherigen Taktik weiterzumarschieren«.
Lediglich Rosa Luxemburg erkannte die entscheidende Kehrtwendung auf dem Jenaer
Parteitag: »Die ›Instanzen‹ wenden sich gegen die Linke. Der Parteivorstand,
der jahrelang unter Bebels Führung gegen die Rechte focht, akzeptiert jetzt die
Unterstützung der Rechten, um den Konservatismus gegen die Linke zu verteidigen.«
Daß der Jenaer Parteitag Klarheit über das Kräfteverhältnis in der Partei
gebracht und die Linke zum ersten Mal in geschlossener Reihe gegen den »Block
des Sumpfes mit der Rechten« geführt habe, sei dagegen zu begrüßen.
Im Gegensatz zum Jenaer Parteitag nahm das Internationale Sozialistische Büro
in seiner Sitzung vom 23. September 1911 in Zürich, an der unter anderem Lenin,
Luxemburg sowie für die deutsche Sozialdemokratie August Bebel und Hermann
Molkenbuhr teilnahmen, eine Resolution an, die sich ausdrücklich auch gegen die
Erweiterung von Kolonialbesitz auf »friedlichem Weg« wandte und die
Arbeiterklasse zu Protestaktionen gegen die Kriegsgefahr verpflichtete. Doch
dieser Erfolg der Linken konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die einstmals
marxistisch orientierte deutsche Sozialdemokratie bereits seit dem Jenaer
Parteitag 1911 den Rubikon zu einer reformistischen und in der Konsequenz
proimperialistischen Partei überschritten hatte. Die Zustimmung zu den
kaiserlichen Kriegskrediten am 4. August 1914 sollte die letzen Illusionen der
Parteilinken zerstören.
Quellentext: Leo Trotzki über eine Episode auf dem Jenaer Parteitag
»Auf dem sozialdemokratischen Parteitag in Jena im Jahre
1911 wurde mir auf Anregung von Liebknecht vorgeschlagen, über die
Vergewaltigung Finnlands durch die zaristische Regierung zu referieren. Bevor
ich jedoch zu meinem Referat kam, traf die telegraphische Nachricht ein von der
Ermordung [des ehemaligen zaristischen Ministerpräsidenten] Stolypins in Kiew.
Bebel nahm mich sofort ins Verhör: Was bedeutet das Attentat? Welche Partei
kann dafür die Verantwortung übernehmen? Ob ich nicht durch mein Auftreten die
unerwünschte Aufmerksamkeit der deutschen Polizei auf mich lenken würde? ›Sie
befürchten‹, fragte ich den Alten vorsichtig, indem ich mich an die Geschichte
mit [dem 1907 wegen seiner Teilnahme an einem sozialdemokratischen Kongreß von
der Polizei ausgewiesenen britischen Sozialisten Harry] Quelch in Stuttgart
erinnerte, ›daß mein Auftreten gewisse Schwierigkeiten verursachen könnte?‹
›Ja‹, antwortete Bebel, ›ich gestehe, ich würde es lieber sehen, daß Sie nicht
auftreten.‹ ›In diesem Falle kann von meinem Auftreten nicht die Rede sein.‹
Bebel atmete erleichtert auf. Nach einer Minute stürzte Liebknecht aufgeregt zu
mir: ›Ist es wahr, daß sie Ihnen nahegelegt haben, nicht aufzutreten? Und Sie
stimmten zu?‹ ›Wie konnte ich nicht zustimmen‹, rechtfertigte ich mich, ›hier
ist doch Bebel der Herr und nicht ich‹. Seiner Empörung gab Liebknecht in der
Rede Ausdruck, in der er schonungslos gegen die zaristische Regierung losging,
ohne die Signale des Präsidiums zu beachten, das keine Komplikationen durch
Majestätsbeleidigung entstehen lassen wollte. Die gesamte weitere Entwicklung
der Partei ist in dieser kleinen Episode enthalten (...)«
* aus: Leo Trotzki: »Mein Leben«, Berlin 1930, S. 207