Revolutionäre Ungeduld

Klaus Dallmer befasst sich mit Anpassung, Aufbäumen und Untergang der ersten deutschen Arbeiterbewegung

Von Nick Brauns

Das zum 100. Jahrestag der deutschen Revolution im Berliner Verlag „Die Buchmacherei“ erschienene Buch „Die Meuterei auf der ‚Deutschland’ 1918/19 - Anpassung, Aufbäumen und Untergang der ersten deutschen Arbeiterbewegung“ will eine „verständliche Darstellung des roten Fadens des Geschehens“ liefern.

Der Autor, Jahrgang 1951, engagierte sich nach seinem Politikwissenschaftsstudium und einer Ausbildung zum Werkzeugmacher jahrzehntelang in gewerkschaftlicher Basisarbeit in Berliner Fabriken. Auch diese Erfahrung mit dem „revolutionären Subjekt, das noch keines sein wollte“ prägt seinen Blick. Dallmer macht aus seinen Sympathien für Rosa Luxemburg, deren Sichtweise er erklärtermaßen zum Maßstab seiner Darstellung nimmt, sowie der „rechten“ KPD-Opposition in der Weimarer Republik zwar keinen Hehl. Dennoch schreibt er weitgehend ohne partei- oder strömungspolitische Rücksichten und Dogmen, seien sie marxistisch-leninistischer, brandlerister, trotzkistischer oder anarchistischer Art.

Im ersten Drittel des Buches beschreibt Dallmer die Herausbildung der deutschen Arbeiterbewegung vom Vormärz bis zum ersten Weltkrieg. Er geht auf Auseinandersetzungen wie den Revisionismusstreit und die Massenstreikdebatte ein und analysiert die Anpassung der Sozialdemokratie, die „mit Tausend Fäden mit den Institutionen des Staates und der Wirtschaft verwoben und verwachsen“ war, an das kapitalistische System. Von einem „Verrat“ der SPD an der Revolution will Dallmer nur bedingt sprechen. Vielmehr habe deren Einsatz für den Erhalt der alten Machtstrukturen aus Wirtschaft, Verwaltung, Justiz, Politik und Militär „materielle Gründe“ gehabt, „die bürgerlich-demokratische Ideologie war nur deren geistiger Reflex“. Ausführlich schildert der Autor die Revolutionsereignisse 1918/19 und die bis 1923 reichende revolutionäre Nachkriegsphase, um sich im letzten Viertel des Buches mit der weiten Entwicklung der gespaltenen Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik bis zu ihrem „Untergang“ durch die Machtübernahme der Faschisten zu befassen.

Der deutsche Kommunismus scheiterte nach Dallmers Ansicht an der revolutionären Ungeduld und Empörung der radikalisierten Minderheit der Arbeiterschaft, die sich von dem siegreichen, aber auf Deutschland nicht eins zu eins übertragbaren russischen Beispiel blenden ließ. Dieser Radikalismus prägte bereits die von Dallmer im Unterschied zur marxistisch-leninistischen Historiographie nicht als zu spät sondern vielmehr als vorschnell bezeichnete Gründungskonferenz der KPD. Rosa Luxemburg blieb dort mit ihrer Forderung nach Teilnahme an den Wahlen zur Nationalversammlung und der Arbeit innerhalb der bestehenden Gewerkschaften in der Minderheit. Die junge kommunistische Partei isolierte sich damit gleichzeitig von der noch Illusionen in den Parlamentarismus nachhängenden Mehrheit der Arbeiterklasse wie von der tatsächlichen proletarische Vorhut in Gestalt der Revolutionären Obleute.

Der „Widerspruch zwischen radikalisierten revolutionären Massen, die aber noch in der Minderheit waren, und der abwartenden Mehrheit“, bestimmte auch Ende der 20er Jahre die Politik der KPD. Die „revolutionäre Isolierung“ der von Ernst Thälmann geführten KPD war allerdings nicht nur selbstgewählt, wie Dallmer diese Politik mit Unterwürfigkeit gegenüber sowjetischen Eingriffen bei Unterdrückung einer freien Diskussion innerhalb der Partei zu erklären sucht. Auch die soziale Zusammensetzung der KPD, die sich im Zuge der Weltwirtschaftskrise von einer Arbeiter- zu einer Arbeitslosenpartei mit großer Mitgliederfluktuation gewandelt hatte, trug zu einer Politik bei, in der verbalradikale Losungen auf fruchtbaren Boden fielen.

Die für ein Industrieland mit einer über Jahrzehnte unter der Arbeiterklasse breit verankerten Sozialdemokratie angemessene Herangehensweise einer geduldigen Einheitsfrontpolitik hatten nicht nur die KPD-O-Vordenker Heinrich Brandler und August Thalheimer angemahnt. Lenin selbst hatte 1920 in seiner Schrift „Der linke Radikalismus – die Kinderkrankheit im Kommunismus“ Kritik an der revolutionären Ungeduld mancher westeuropäischer kommunistischer Strömungen geübt. Dieses Buch taucht in Dallmers Literaturverzeichnis allerdings ebenso wenig auf, wie die anderen Schriften Lenins. Dallmer, der vor zwei Jahren die lesenswerte Darstellung „Wladimir Lenins Großer Sozialistischer Oktoberumsturz und die Folgen“ veröffentlicht hatte, konstruiert stattdessen einen Gegensatz zwischen einer an Luxemburg orientierten „eigenständigen, demokratischen Tradition des deutschen Kommunismus“ und Lenins „autoritären Organisationsvorstellungen“.

Auch wenn der Leser nicht jeder Wertung des Autors folgen muss, kann die „Meuterei“ insbesondere historisch Interessierten ohne große Vorkenntnisse als gelungene Überblicksdarstellung zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung bis 1933 empfohlen werden. Als Defätismus möchte Dallmer seine Abrechnung mit dieser von ihm als „Frühform“ bezeichneten ersten Arbeiterbewegung keineswegs verstanden wissen: „Wenn Meuterei wieder erste Passagierpflicht wird, sollte man sich vergangen Erfahrungen nutzbar machen, denn wer aus der Geschichte nichts lernt, läuft Gefahr, Fehler zu wiederholen.“

 

Klaus Dallmer: Die Meuterei auf der ‚Deutschland’ 1918/19 – Anpassung, Aufbäumen und Untergang der ersten deutschen Arbeiterbewegung, Die Buchmacherei, Berlin 1918, ISBN: 978-3-9819243-5-0, 320 Seiten, 12 Euro

 

Erschien leicht gekürzt in junge Welt vom 1. April 2019