"Programmfragen sind Machtfragen"

Überlegungen zur Programmdebatte in der PDS

(ein Artikel, den die Mitteilungen der KPF aus nicht genannten Gründen nicht abdrucken wollten)

 

Es gibt die bekannte Anekdote vom Parteisekretär der Sozialdemokratischen Partei, Ignatz Auer, der einmal auf einem Parteitag 1903 mit Eduard Bernstein aneinandergeraten war. "Eduard, Du Esel! So etwas schreibt man nicht. Man macht es einfach!" beklagte der dem rechten Parteiflügel zugehörende Auer, nachdem der Parteitag gerade mehrheitlich Bernsteins Buch "Die Aufgaben der Sozialdemokratie" pro forma verdammt hatte.

Es war tatsächlich nicht Bernsteins Buch, sondern die reformistische Tagespolitik einer zunehmenden Anzahl von sozialdemokratischen Mandatsträgern, Gewerkschaftsführer, Genossenschaftsleitern, Vereinsvorsitzenden und Kneipenwirten die in der Gesellschaft des Kaiserreichs "angekommen" waren, die den Verrat vom 4.August 1914 und den Verrat der Revolution von 1918/19 vorbereitete. Eduard Bernstein, Kurt Eisner und andere Theoretiker des Revisionismus standen dagegen in der Praxis während des Krieges auf der Seite der Kriegsgegner in der Unabhängigen-SPD. Erst weitere Jahrzehnte der Klassenkollaboration mußten ins Land gehen, bis die Partei auch theoretisch reif für das Godesberger Programm war.

"Mein Gott Gregor, so etwas schreibt man doch nicht, so etwas macht man einfach stillschweigend", mag auch mancher ostdeutsche PDS-Mandatsträger in Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt gedacht haben, als Gysi seine "modernen Thesen" auf den Mark warf.

 

Woher kommt der Revisionismus in der PDS?

 

Gysi und die seinen produzieren ihr postmodernes Gewäsch nicht im luftleeren Raum. Sie stützen sich auf tatsächlich vorhandene Kräfte - sowohl in der Partei, als auch in der Gesellschaft. In der Partei ist es jene Gruppe von Funktions- und Mandatsträgern, deren gesellschaftliches und soziales Überleben an die Partei gekettet ist. Mit dem im bundesrepublikanischen Maßstäben gemessenen "Manko" einer alleinigen Ausbildung an einer M-L-Kaderschmiede der SED oder als Pionierleiterin weisen sie keine Qualifikation für den Arbeitsmarkt des "neuen" Deutschland auf. Ohne ihren Posten in einem Kommunal- oder Landesparlament, oder einer Mitarbeiter- oder Referentenstelle in der Partei droht ihnen bei der verheerenden Arbeitsmarktlage vor allem in Ostdeutschland der Sturz ins Nichts. Daß eine solche berechtigte Angst bürokratisches Bewußtsein mit dem Zwang zur Anpassung, zum "Ankommen", zum Überbordwerfen bisherigen "ideologischen Ballastes" mit sich bringt, ist verständlich. Daß diese Genossen sich und die PDS so auf Dauer erst recht überflüssig machen, ist die Tragik der Geschichte und die Schwäche der Moderne-Sozialisten.

Weiterhin stützen sich die "modernen Sozialisten" auf eine zunehmende Schicht von ostdeutschen Kleinunternehmern und Selbstständigen, die in der PDS zurecht die einzige antimonopolistische Kraft erkennen, die zudem glaubwürdig ostdeutsche Interessen vertritt. Jedoch bestimmt letztlich auch bei Kleinunternehmern das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein. Und eine gemeinsame Gegnerschaft zum Monopol- und Finanzkapital schließt eine Verschärfung des Gegensatzes zwischen Arbeit und Kapital im eigenen Betrieb nicht aus. Je mehr die PDS unter den ostdeutschen Kleinunternehmern ein stützendes Klientel entwickelt, desto mehr wird sie auch zur Anpassung an deren Bedürfnisse, Wünsche und letztlich deren Ideologien gedrängt. Auch hier können Gysi & Co auf eine tatsächlich vorhandene gesellschaftliche Strömung, auf ein Klientel für ihre programmatischen Überlegungen verweisen. Neben der sich entwickelnden Parteibürokratie und dem Mittelstand haben die "modernen Sozialisten" noch eine gewaltige Macht auf ihrer Seite, die sie zum Teil unbewußt in ihren Bann zieht: das Kapital und seine antikommunistische Monopolpresse. Von Focus bis BZ steht die bürgerliche Presse bereit, jederzeit die neuesten Entschuldigungen, Programmrevisionen, Distanzierungen etc. zu verbreiten und die Parteimitgliedschaft, die all das erst einige Tage später im Neuen Deutschland lesen darf, vor vollendete Tatsachen zu stellen. Da bleibt auch das Lob von der falschen (?) Seite nicht aus. In seiner Ausgabe vom 15.12.99 lobte das großbürgerliche Handelsblatt die PDS. "Die Thesen der Programmkommisson zeigen, daß sich die SED-Nachfolger mit der bundesrepublikanischen Wirklichkeit zumindestens ein wenig angefreundet haben." Und weiter: "Inzwischen erkennen die Reformer unter den Sozialisten ausdrücklich an, dass die kapitalistische Konkurrenz zu "ständiger Innovation" führt und die Arbeitsproduktivität steigert."

Die Mehrheit der Programmkommission kann sich mit ihrer Sozialismuskonzeption, die so irrational ist, wie das Kleinbürgertum und das Bürgertum im Spätkapitalismus eben sind, durchaus auf mehrere gesellschaftliche Schichten als Träger dieser Moderne-Ideologie stützen. Dazu haben die Moderne-Sozialisten auch noch den Vorteil der strukturellen Macht in der Partei. Sie sitzen im Vorstand, sie kontrollieren einen Großteil der Parteimedien, sie haben die hauptamtlichen bezahlten Kräfte zur Ausarbeitung ihrer Thesen.

 

Die strategische Defensive der Linken in der PDS

 

Die marxistische Linke in der PDS hat sich in eine strategische Defensive drängen lassen. Dabei sprechen alle Umfragen dafür, daß die Minderheit in der Programmkommission in Wirklichkeit die moral maiority in der Mitgliedschaft ist. Doch es ist der Parteilinken bis heute nicht gelungen, diese Mehrheit mit ihrer Ablehnung des "modernen Sozialismus" tatsächlich für sich ins Felde zu führen. Hieran trägt sie sogar eine Mitschuld, hat sie doch den Lassalle´schen Grundsatz, wonach Verfassungs- respektive Programmfragen immer vor allem Machtfragen sind, ignoriert. Zum einen wäre es notwendig, in wesentlich organisierterer Form gegen die Revision des Parteiprogramms zu kämpfen, als bisher. KPF und Marxistisches Forum müssen beweisen, daß es uns ernst ist mit der Verteidigung des Marxismus. Die Mehrheit der Programmkommission wird sich nicht mit guten Ratschlägen überzeugen lassen, da sie schon lange den Boden des wissenschaftlichen Wettstreits - zumindest auf Grundlage des Marxismus - verlassen haben. Worauf diese Genossinnen und Genossen noch hören, ist die Macht des Faktischen, ist eine Gegenmacht in der Partei und Gesellschaft. Wenn wir aus der Defensive herauskommen wollen, müssen wir uns dazu gesellschaftlicher Kräfte bedienen und entsprechende Allianzen schließen. Als Marxisten sehen wir in der Arbeiterklasse den Träger des historischen Fortschrittes und im Klassenkampf den Motor der Geschichte. Wenn auch kein Genosse der KPF dieser Erkenntnis widersprechen mag, so zeigt allein die Lektüre der letzten Jahrgänge der "Mitteilungen der KPF", daß der Klassenkampf hier nur in seiner ideologischen Form einen Widerhall findet. Es mag der sozialen Zusammensetzung der KPF und überhaupt der ostdeutschen PDS geschuldet sein, daß gerade die ökonomischen und politischen Kämpfe der Klasse kaum Eingang in unsere Presse finden. Ich möchte lieber nicht zählen, wie selten das Wort "Betrieb" oder Gewerkschaft" bei uns eine Rolle spielte. Doch wenn es uns Marxisten nicht gelingt, den wissenschaftlichen Sozialismus wieder mit der Arbeiterbewegung zu verbinden, wird unsere Defensive in unserem Untergang enden.

 

Die Notwendigkeit eines Aktionsprogrammes für die PDS

 

Notwendig wäre heute in der PDS vor allem der Kampf um ein Aktionsprogramm. Oft werde ich auf der Arbeit oder in der Uni darauf angesprochen, was die PDS eigentlich will. Im Bundestagswahlkampf konnte ich als Direktkandidat dieser Partei Interessierten zumindest ein Wahlprogramm in die Hand drücken, daß neben allerlei ideologisch zweifelhaftem Nebel vor allem eine Vielzahl sehr unterstützenswerter Forderungen enthalten hat. Die Stärke unserer bisherigen Wahlprogramme - auch der schlechtesten - liegt in ihrer Klarheit. Das Gewäsch der Programmkommission oder der Gysi-Thesen lebt dagegen von Unverständlichkeit, postmoderner Beliebigkeit und vor allem Unverbindlichkeit. Nur durch klar formulierte Ziele - dazu gehören Tageslosungen ebenso, wie Reformen, die schon in ihrer Konsequenz an die Grenzen des Systems gehen, als auch Übergangslosungen, die den Rahmen des Kapitalismus in Frage stellen, werden wir in den Augen unserer Anhänger überprüfbar. Wir hätten mit einem Aktionsprogramm ein Werkzeug in der Hand, mit dem wir im Betrieb, in der Universität, im Stadtviertel mobilisierend und organisierend auftreten könnten. Klar formulierte Aktionslosungen wären das Gegenteil von einem Programm der parlamentarischen Beliebigkeit, weil sie sich letztlich auf die direkte Aktion der Betroffenen stützen müssten und Erfolge oder Niederlagen meßbar machen. In den Augen einiger Bürokraten in der PDS mag so etwas natürlich unheimlich erscheinen.

Ein Aktionsprogramm kann natürlich nicht am grünen Tisch im Liebknecht-Haus oder der Luxemburg-Stiftung entstehen, sondern muß sich schon in seiner Entstehung auf die tatsächlich vorhandenen Initiativen und Bewegungen im Landes stützen, als da unter anderem wären: die Gewerkschaften und die Arbeitsloseninitiativen, antifaschistische Gruppen und die Bewegung für die Rechte der Emigranten, die Anti-Atom-Bewegung und die Frauenbewegung, die Studenten- und Schülerbewegung, die Friedensbewegung etc. 

In all diesem Bewegungen werden von den Kämpfenden selbst Forderungen aufgestellt, die in ein Aktionsprogramm einfließen könnten. Wichtig bei diesen Aktionslosungen ist, daß sie an den unmittelbaren Bedürfnissen, Interessen und laufenden Kämpfen der Menschen anknüpfen, aber einen Weg in eine andere Gesellschaft weisen. Vom linken Flügel der Gewerkschaften und der Arbeitslosenbewegung wird seit langem die Forderung nach Einführung der 32 Stunden Woche bei vollem Lohnausgleich und ohne Erhöhung der Arbeitsdichte erhoben. Diese Forderung tauchte auch immer wieder in PDS-Wahlprogrammen auf, wenn auch versucht wurde, die "volle Lohnfortzahlung" einzuschränken. Eine derartige Losung könnte mit der weitergehenden, aber nachvollziehbaren Losung "Weitere Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich -  solange, bis alle Arbeit haben", ergänzt werden. In ihrer Konsequenz hat diese Forderung, die breiten Kreisen in den Gewerkschaften gerechtfertigt erscheint, schon systemsprengenden Charakter.

Wo sich tatsächliche Kämpfe um eine solche Forderung entwickeln, wird es zu betrieblichen Auseinandersetzungen  kommen. Zentral müßte für die PDS hier die Losung "Weg mit dem Betriebsverfassungsgesetz!" sein, daß den Klassenkampf durch die Hintertür verbieten will. Auch die Forderung nach "Öffnung der Betriebsbücher für Arbeitervertreter" war nicht nur bei der Holzmann-Pleite aktuell und stellt zugleich das Privateigentum und die daraus abgeleitete Unternehmermacht in Frage. Die Forderung nach Verstaatlichung der Großbanken und Konzerne würde sich am Ende eines solchen Aktionsprogramms logisch anschließen. In den Städten bietet sich als Losung die Forderung nach "Nulltarif im Personennahverkehr" an. Sowohl von der Studentenbewegung, wie auch von Arbeitslosen wird die Forderung nach einer sozialen Grundsicherung von DM 1500,- plus Miete erhoben.

Es gäbe genug Ansatzpunkte für ein Aktionsprogramm, daß sich auf die tatsächlich vorhandenen Kämpfe der Arbeiterklasse und der neuen sozialen Bewegungen stützten kann. Wenn die PDS als sozialistische Partei überleben will und wenn wir marxistische Inhalte erfolgreich in der Partei verteidigen wollen, ist ein Bündnis mit diesen Bewegungen unerläßlich. Auch die Mehrheit der Programmkommission gibt dies in ihren Thesen zu. Und in einem Beitrag im Neuen Deutschland dachte Micha Brie selber die Frage an, ob nicht statt einem neuen Parteiprogramm ein "Strategiepapier für die nächsten 10 Jahre" ausreichen würde. In diese Lücke sollten wir Marxisten schlagen. Denn nur gestützt auf gesellschaftliche Kräfte, die sich auch materiell formieren, können wir die Revision des Parteiprogramms, der schon lange eine Revision des sozialistischen Charakters in vielen praktischen Einzelfällen voranging, zurückdrehen.

Genossinnen und Genossen, denkt daran: Programmfragen sind Machtfragen - in der Partei und in der Gesellschaft. Kämpfen wir endlich darum!

 

Nick Brauns

Mitglied im Landessprecherrat der KPF Bayern, Anfang 2000