junge Welt vom 17.09.2005

 

Wochenendbeilage

Israelisches Lego

Zwischen Trennmauer und islamischer Herausforderung. Eindrücke aus Israel und Palästina während der Wochen des Gazarückzuges

Nick Brauns

 

Orangefarbene Schleifen sind in den Tagen des Gazarückzugs im Straßenbild von Westjerusalem allgegenwärtig. Sie signalisieren Solidarität mit der Siedlerbewegung. Allabendlich versammeln sich Jugendliche mit den Bändern unter der Aufsicht eines bärtigen Rabbiners in der Ben-Jehuda-Fußgängerzone, um mit religiösen Liedern gegen den Abzug der israelischen Siedler und Armee aus dem Gazastreifen zu protestieren. Auf Plakaten mit dem deutschen Text »Judenrein« und dem Bild eines Jungen im Warschauer Ghetto wird die Räumung der Siedlungen mit dem Vernichtungskrieg der Nazis gleichgesetzt. Innerhalb der Altstadtmauern haben schwerbewaffnete Soldaten zahlreiche Checkpoints errichtet, weil radikale Siedler mit einem Anschlag auf die Al-Aksa-Moschee und den Felsendom drohen. Schon die letzte Intifada, der im Jahr 2000 begonnene Palästinenseraufstand, war durch den provokativen Besuch des jetzigen Regierungschefs Israels, Ariel Scharon, bei diesem drittwichtigsten Heiligtum des Islam ausgelöst worden. Kontrolliert werden von den Soldaten jedoch vor allem die Bewohner des arabischen Viertels um den Tempelberg.

Noch während die Räumung der Gazasiedlungen nach einem zwischen Militärführung und Siedlungsrabbinern abgesprochenen Drehbuch tränenreich über die Bildschirme lief, kündigte Premier Scharon den weiteren Ausbau von Siedlungen bei Jerusalem an. Der seit 1967 besetzte arabische Ostteil der Stadt soll vom Westjordanland getrennt werden, um zu verhindern, daß er zur Hauptstadt eines palästinensischen Staates wird. Dazu ist ein jüdischer Siedlungskorridor von der Altstadt bis Ma´ale Adumim, der größten Siedlung in der Westbank, geplant. »Wir brechen den Zusammenhang der Araber und ihren Anspruch auf Ostjerusalem, indem wir isolierte Inseln jüdischer Präsenz in arabische Wohngebiete setzen«, erläuterte kürzlich Uri Bank, ein Führer der Siedlerpartei Modelet, das Vorgehen, »Dann setzen wir alles daran, diese Inseln zu verbinden, um unseren eigenen Zusammenhang zu schaffen. Es ist wie Lego – man legt die Teile aus und verbindet die Punkte.«

Enteignete Häuser

Im Schatten der Al-Aksa-Moschee hinter den Altstadtmauern befindet sich der arabische Ort Silwan, eine der ärmsten, von der Stadtverwaltung systematisch vernachlässigten Gemeinden Jerusalems. Eng schmiegen sich die Häuser an den Hang. Es riecht nach verbranntem Müll. An der steilen Straße sieht man zwischen den ärmlichen Flachbauten der Araber mit Stacheldraht geschützte Siedlerhäuser und Container mit Wachtürmen, auf denen die Fahne mit dem Davidstern weht. »Dieses Haus gehörte einem Araber. Weil er keine Baugenehmigung hatte, mußte er sein Haus an einen Siedler verkaufen, der sofort eine Legalisierung bekam«, zeigt ein Anwohner auf ein Grundstück.

Weil in Silwan der biblische König David vor 3 000 Jahren seine Stadt gegründet haben soll, will Oberbürgermeister Uri Lupolianski hier einen archäologischen Park anlegen. Dazu wurde die Weisung zum Abriß von 88 Häusern im Stadtteil Bustan gegeben. Es seien Schwarzbauten, so die Begründung. Doch Palästinenser bekommen im besetzten Ostjerusalem grundsätzlich keine Baugenehmigung.

Nachdem Gruppen wie das Israelische Komitee gegen Häuserzerstörung, aber auch der britische Außenminister Jack Straw die drohende Vertreibung von rund 1 000 Arabern mitten in Jerusalem kritisierten, hat der Bürgermeister den Bewohnern neuen Wohnraum versprochen – auf einem Gelände der palästinensischen Ortschaft Beit Hanina, deren Bewohner bereits vor 20 Jahren vertrieben worden sind. »Nur Allah weiß, wie es weitergeht«, klagt ein bärtiger Mann im weißen Kaftan, der mir die Trümmer eines von den Besatzern zur Einschüchterung zerstörten Hauses zeigt.

Systematische Vertreibung

An der Road No. 1, die bis zum Sechstagekrieg 1967 die Grenze zwischen dem israelischen und arabischen Teil der Stadt bildete, fallen pompöse Fünf-Sterne-Hotels ins Auge. »Diese Hotels sind Teil der ökonomischen Vertreibungspolitik. Sie wurden auf arabischen Grund gebaut, um die palästinensische Ökonomie in Ostjerusalem zu schädigen«, berichtet Abu Hassan. Der Aktivist der palästinensischen Fatah organisiert politische Touren, um die Siedlungs- und Vertreibungspolitik in Ostjerusalem zu verdeutlichen.

Nächste Station ist die israelische Siedlung Navi Jakoff inmitten der arabischen Stadt Beit Hanina am Rand von Jerusalem. Nicht religiöse Fanatiker wie in den Gazasiedlungen, sondern junge Familien wohnen hier, weil die Wohnungen billig sind. Hier treten die inneren Widersprüche der israelischen Siedlergesellschaft deutlich zutage. Ende der 80er Jahre wurden die ersten Wohneinheiten für sephardische Juden gebaut. Mitte der 90er Jahren kamen russische Juden dazu. Seitdem kommt es zu Spannungen zwischen diesen Gruppen. Die arabischen Juden beklagten sich, daß die russischen Juden von der Regierung finanziell bevorzugt werden, ihnen wegen billigerer Löhne und besserer Ausbildung die Arbeitsplätze wegnehmen und Prostitution ins Viertel brächten, erzählt Abu Hassan. Jüdische Religion und Kultur spielten für die russischen Zuwanderer keine große Rolle. Viele von ihnen sehen Israel nur als Durchgangsstation auf dem Weg in die USA. Aus Protest gegen ihre Benachteiligung haben die arabischen Juden Navi Jakoff zu einer Hochburg der rechtsextremen Schass-Partei werden lassen.

Mitten durch die arabischen Vororte von Jerusalem zieht sich das häßliche graue Band der Mauer, mit der die Westbank von Israel abgetrennt werden soll. Auf den ersten Blick wird deutlich, daß die Mauer nicht entlang der Grünen Linie von 1967 verläuft, sondern schlangenförmig immer wieder weit in palästinensisches Gebiet hineinschneidet. »Diese Apartheidmauer hat nichts mit Sicherheit zu tun, sondern wird einzig und allein aus politischen Gründen gebaut«, meint Abu Hassan. Arabische Viertel Ostjerusalems, wie das Flüchtlingslager Schafat direkt gegenüber der Navi-Jakoff-Siedlung, werden bald komplett eingemauert und von lebensnotwendigen Einrichtungen wie Schulen und Krankenhäusern abgeschnitten sein. So sollen die Bewohner zur Migration in die Westbank gezwungen werden. »Viele Palästinenser stehen noch unter Schock. Sie werden erst realisieren, was geschehen ist, wenn die Mauer zu ist.« Dann rechnet Abu Hassan mit einer neuen Intifada.

Im unmittelbar hinter der Mauer liegenden Lager Qualandia, wo seit 1948 palästinensische Flüchtlinge leben, sind die Folgen des Mauerbaus schon jetzt deutlich spürbar. Viele Bewohner haben ihre Arbeitsplätze verloren, weil sie wegen willkürlicher Schließungen oder stundenlanger Wartezeiten am Checkpoint nicht rechtzeitig zur Arbeit kamen. Es gab bereits über 20 Geburten in der Warteschlange. Während der Intifada haben israelische Heckenschützen hier zwölf Palästinenser erschossen.

Bewegung gegen die Mauer

In mehreren arabischen Dörfern, denen durch den Mauerbau Land geraubt wird, hat sich eine Basisbewegung gegen die Mauer gebildet. Sie wird von Teilen der israelischen Friedensbewegung unterstützt. »Die Polizei greift uns regelmäßig mit Tränengas an«, berichtet Yossi von den »Anarchisten gegen die Mauer«. »Wir werden auch festgenommen. Aber weil wir Israelis sind, kommen wir schnell wieder frei.« Bei arabischen Demonstranten setzt das Militär dagegen auch tödliche Munition ein. Gebaut werden Mauer und Siedlungen von palästinensischen Tagelöhnern. Häufig bekommen sie am Ende keinen Lohn. »Sie arbeiten oft illegal, und die Unternehmer drohen ihnen mit der Armee und jagen sie fort«, erzählt Abu Hassan.

Shir Hever, ein junger Israeli, der beim israelisch-palästinensischen Alternative Information Center sozioökonomische Studien über die Kosten der Besatzung betreibt, glaubt nicht, daß die Mauer lange Bestand haben wird. »Keine gesunde Gesellschaft kann überleben, wenn sie durch eine Mauer geteilt ist. Es leben Hunderttausende Siedler östlich der Mauer und eine Million Palästinenser westlich, so daß es keine Chance einer dauerhaften Separation gibt.« Zudem würde ein palästinensischer Staat wegen der Konfiszierung aller natürlichen Ressourcen durch die Okkupanten, der Enteignung von Land und der Massenarmut weiterhin von Israel vollständig abhängig sein.

Abstecher zu Arafat

Tag und Nacht pulsiert das Leben in den Straßen von Ramallah, der nur wenige Autominuten von Jerusalem entfernt gelegenen Hauptstadt der Westbank. Abseits vom Stadtzentrum befindet sich hinter unverputzten Betonmauern die kasernenähnliche Mukata. Der Amtssitz des palästinensischen Präsidenten wurde von der israelischen Armee während der Intifada fast vollständig zerstört. Nur der von Einschüssen übersäte Gebäudetrakt, in dem Arafat bis kurz vor seinem Tod ausharrte, blieb erhalten. Sein letztes Büro ist durch eine Fahne markiert. Polizisten in schwarzen Uniformen stehen vor der Glashalle mit dem blumengeschmückten Grab Arafats. Immer noch kommen Palästinenser und ausländische Besucher, um dem vor einem Jahr verstorbenen Staatsmann die letzte Ehre zu erweisen. Posterhändler bieten das Bild Arafats gleich neben Bildern von Jesus und Che Guevara an.

Zwar hat Arafats Nachfolger Mahmud Abbas eine Reihe führender Funktionäre der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) ausgewechselt. Doch Klagen über Korruption innerhalb der PA reißen nicht ab. Davon profitiert die islamische Hamas-Organisation. Auch wenn sich die vermummten Kämpfer der Al-Kassam-Brigaden nach dem Gazarückzug mit geschulterten Raketen als Sieger über die Okkupation feiern ließen, verdankt die Hamas ihre Massenbasis vor allem sozialen Aktivitäten. »Es ist doch ganz normal, daß man denjenigen unterstützt, der einem Arbeit, Wohnung oder Essen gibt«, höre ich immer wieder. Auch religiöse Gründe spielen eine Rolle. »Man hat uns alles geraubt. Nur unseren Glauben lassen wir uns nicht nehmen.«

Bisher hat die Hamas jede Mitarbeit in der PA abgelehnt, die sie als Instrument der Kollaboration mit den Okkupanten betrachtet. Doch nun will die islamische Bewegung zur Parlamentswahl im kommenden Januar antreten. Erstmals hat die Hamas dafür sogar Bilder und Lebensläufe führender Aktivisten im Internet veröffentlicht. »Die Bevölkerung erwartet, daß wir eine Alternative zur Korruption, zum Despotismus der örtlichen herrschenden Klasse und zum Ausverkauf palästinensischer Interessen bieten«, so Adib Ziadeh, der Leiter des islamische Al-Burak-Kulturzentrums in Ramallah. »Wir fordern vor allem eine Umverteilung des öffentlichen Budgets.« Die PA hat in diesem Jahr 1,8 Milliarden Dollar zur Verfügung. Davon gingen 26 Prozent in den Aufbau des Sicherheitsapparates. »Wir brauchen nicht elf verschiedene Sicherheitsdienste, die Polizei wäre ausreichend. Außerdem wurden die Sicherheitsdienste nicht zur Befreiung der Palästinenser, sondern zu ihrer Unterdrückung geschaffen.«

Überall in Ramallah finden sich Organisationen, die schon in ihrem Namen Entwicklung, Bildung und Demokratie versprechen. Viele Aktivisten der linken Parteien haben inzwischen ihr Auskommen bei einer der vielen von Europa oder den USA finanzierten Nichtregierungsorganisationen gefunden. Der marxistische Ökonom Adel Samara warnt daher vor einer »NGOsiation« der palästinensischen Linken. »Das Ziel der NGOs ist es, den kapitalistischen Metropolen unter einer humanitären Maske das Eindringen in die soziale Struktur der Peripherie zu ermöglichen«, meint der Herausgeber der Zeitschrift Kanaan.

Im Stadtzentrum von Ramallah wehen rote Fahnen. Tausende Anhänger der marxistisch-leninistischen Volksfront für die Befreiung Palästinas PFLP demonstrieren für die Freilassung ihres vor vier Jahren verhafteten Generalsekretärs Ahmad Saadat. »Auf Druck der USA und Israels hat die PA unseren Vorsitzenden inhaftiert. Obwohl sich das Gefängnis in Jericho innerhalb der palästinensischen Selbstverwaltungsgebiete befindet, steht es unter Aufsicht von britischen und US-Militärpolizisten«, berichtet ein Funktionär der in Europa und den USA als Terrororganisation angesehenen Partei. Offiziell gibt es auch das Parteibüro in Ramallah, in dem wir Kaffee trinken, nicht mehr. Auf Druck Israels wurde es geschlossen, nachdem ein Kommando der PFLP im Jahr 2001 den ultrarechten israelischen Tourismusminister Rechawam Seewi erschoß. Jetzt residiert hier eine PFLP-nahe Gewerkschaftslinke. »Theoretisch könnte die palästinensische Polizei uns hier jederzeit festnehmen.«

Die Fahne der PFLP zeigt die Umrisse des historischen Palästina vor 1948. Nach wie vor ist das Ziel der Partei ein laizistischer, demokratischer Staat auf dem gesamten Territorium des ehemaligen Palästinas. Auch auf israelischer Seite finden sich Unterstützer einer Einstaatenlösung. »Ich bin für einen gemeinsamen Staat. Ein exklusiv jüdischer Staat ist ein Apartheidstaat«, meint etwa Mordechai Vanunu. Der israelische Friedensaktivist verbrachte 18 Jahre im Gefängnis, weil er die Weltöffentlichkeit über Israels Atomrüstung informierte. Seit einem Jahr in Freiheit, darf der im anglikanischen St. Georgs Gästehaus von Ostjerusalem wohnende Physiker das Land nicht verlassen und offiziell auch nicht mit Ausländern sprechen. »Ein jüdischer Staat war vor 2000 Jahren richtig. Jetzt brauchen wir einen säkularen Staat, in dem alle Einwohner als Menschen respektiert werden und nicht aufgrund ihrer Religion.«

Daß es sich nicht um einen religiösen Konflikt handelt, betont dagegen der islamische Aktivist Adib Ziadeh vom Al-Burak-Kulturzentrum. »Wir kämpfen gegen Besatzer, nicht gegen Juden. Wenn wir uns die Geschichte dieses Landes anschauen, war es immer möglich, daß Muslime zusammen mit Juden und Christen in Palästina lebten.«

 

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Ausdruck erstellt am 16.09.2005 um 22:44:52 Uhr

 

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