Junge Welt 08.11.2003
Den Frieden erzwungen
Rote Fahnen über Deutschland.
Vor 85 Jahren siegte die bürgerliche Revolution in Deutschland
Im Herbst 1918 kam auch die Oberste Heeresleitung nicht mehr
umhin einzusehen, daß die deutsche Kriegsniederlage unvermeidbar war. Um einen
vollständigen Zusammenbruch der Fronten und die drohende Besetzung Deutschlands
durch Truppen der Entente abzuwenden, mußte der Krieg um jeden Preis beendet
werden. General Erich Ludendorff, Erster Generalquartiermeister in der von Paul
von Hindenburg geführten Obersten Heeresleitung, war sich bewußt, daß die
Entente nicht mit den alten Machthabern in Friedensverhandlungen treten würde.
Zudem hatten Ludendorff und Hindenburg ein dringendes Interesse, die Verantwortung
für den drohenden Zusammenbruch auf die zivilen Kräfte im Reich abzuwälzen.
Unter Reichskanzler Max von Baden wurde eine neue Regierung gebildet, die sich
auf die Reichstagsmehrheit aus katholischem Zentrum, liberaler
Fortschrittspartei und gemäßigter Mehrheitssozialdemokratie (MSPD) stützte.
Durch eine Verfassungsreform vom 28. Oktober wurde das Kaiserreich auf dem
Papier zu einer parlamentarischen Monarchie.
Während die Reichsregierung mit US-Präsident Wilson über die Bedingungen eines
Waffenstillstands verhandelte, bereitete die deutsche Admiralität einen letzten
Vorstoß der Flotte gegen England vor. Doch die Mannschaften waren nicht mehr
bereit, ihr Leben einem Himmelfahrtskommando zu opfern. Am 29. und 30. Oktober
rissen die Heizer der Schiffe »Thüringen« und »Helgoland« die Feuerung aus den
Kesseln, und Matrosen hißten die rote Fahne. 600 Meuterer wurden auf Weisung
der Admiralität inhaftiert. Nun sprang der Funken auf die anderen Schiffe über.
Auch die Werftarbeiter traten in den Streik. Nach bewaffneten Zusammenstößen
mit Offizieren besetzten Matrosen am 4. November die Stadt Kiel. Ein Arbeiter-
und Soldatenrat übernahm die örtliche Gewalt. Neben der Freilassung der
verhafteten Meuterer und der Straffreiheit für alle Teilnehmer der Matrosenrevolte
forderte er vor allem eine einheitliche Menage für Offiziere und Mannschaften
und die Abschaffung der Grußpflicht gegenüber Vorgesetzten außerhalb der
Dienstzeit. Die Reichsregierung entsandte den SPD-Abgeordneten Gustav Noske
nach Kiel, um die Revolte unter Kontrolle zu bekommen. Tatsächlich wurde Noske,
der dem äußersten rechten Parteiflügel angehörte, zum Vorsitzenden des
Soldatenrates gewählt und übernahm den Posten des Kieler Gouverneurs. Zu seiner
ersten Amtshandlung gehörte das »Verbot des Waffentragens außerhalb des
Dienstes«.
Schon am 5. November war die revolutionäre Bewegung auf Lübeck und Hamburg
übergesprungen. Auch dort übernahmen Arbeiter- und Soldatenräte die Macht. Bis
zum 7. November hatten sich fast alle Marineeinheiten der Meuterei
angeschlossen. Die roten Matrosen überfluteten nun ganz Deutschland und
forderten in allen größeren Städten die Menschen auf, ihrem Beispiel zu folgen.
Bayern fortan ein Freistaat
Wie überall im Reich herrschte in der bayerischen Landeshauptstadt München
Lebensmittelknappheit und Kriegsverdruß. Dazu kam noch die Wut auf die Berliner
Zentralgewalt. Es ging das Gerücht um, vor allem bayerische Soldaten müßten als
Kanonenfutter für die »Saupreißn« hinhalten. Für den 7. November war eine
Friedenskundgebung auf der Münchner Theresienwiese angekündigt. Die
Mehrheitssozialdemokraten waren gezwungen, zur Kundgebung zu mobilisieren,
wollten sie nicht noch mehr Anhänger an die Unabhängigen Sozialdemokraten
(USPD) verlieren. Doch untertänigst versicherte der bayerische MSPD-Vorsitzende
Erhard Auer den königlichen Ministern, man werde USPD-Führer Kurt Eisner »schon
an die Wand drücken«. Der Literat Eisner hatte vor dem Krieg zum
revisionistischen Flügel der SPD gehört und sich dann als Pazifist den von der
Partei abgespaltenen Kriegsgegnern der USPD angeschlossen. Bereits bei der
Vorbereitung des Januarstreiks der Rüstungsarbeiter 1918 in München hatte
Eisner eine führende Rolle gespielt.
80000 Menschen strömten auf die Theresienwiese. Neben den Arbeitern der Münchner
Großbetriebe waren meuternde Soldaten, Bauern aus dem Umland sowie zahlreiche
Schwabinger Kaffeehausliteraten und Wirtshausrabauken erschienen. Da es keine
Megaphone gab, sprachen 25 Redner gleichzeitig an verschiedenen Stellen des
weiten Platzes. Während der königlich-bayerische Sozialdemokrat Erhard Auer
versuchte, die aufgebrachte Menge mit Versprechungen baldiger Reformen zu
besänftigen, warb der Anarchist Erich Mühsam für die Errichtung eines
Rätesystems nach sowjetischem Vorbild. Eisner forderte den Rücktritt des
bayerischen Königs und deutschen Kaisers, die Vereidigung des Heeres auf die
Verfassung, Demokratisierung des Staates und die Entfernung von Reaktionären
aus der Verwaltung. Die Forderung nach Annahme der alliierten
Waffenstillstandsbedingungen zur Erlangung eines sofortigen Friedens wurde von
nahezu allen Kundgebungsteilnehmern auch aus bürgerlichen Kreisen geteilt.
Während sich ein Teil der Demonstranten unter Führung Erhard Auers nach der
Kundgebung zerstreute, forderte der in feldgrauer Uniform gekleidete junge
USPD-Aktivist Felix Fechenbach: »Genossen! Unser Führer Kurt Eisner hat
gesprochen. Es hat keinen Zweck mehr, viele Worte zu verlieren. Wer für die
Revolution ist, uns nach! Marsch!« Zehntausende Menschen setzten sich in Bewegung,
an der Spitze Arm in Arm der hagere, weißbärtige Eisner und der
breitschultrige, blinde Bauernbundführer Ludwig Gandorfer. Ihr Ziel war die
nahegelegene Guldeinschule, in der Landstürmer untergebracht waren. Nachdem der
diensthabende Major sich weigerte, das Gebäude zu übergeben, stürmten die
Revolutionäre das Gebäude. Die Landsturmleute schlossen sich augenblicklich den
Aufständischen an. Waffen wurden verteilt.
Bei den anderen Münchner Kasernen ergab sich ein ähnliches Bild. Bis 22 Uhr
waren alle Münchner Kasernen, die Ministerien und der Landtag, Bahnhof, Post
und Telegrafenamt in der Hand der Revolutionäre. Wie weit die Revolution
vorgedrungen war, zeigte sich u. a. daran, daß König Ludwig III. für seine
Flucht aus der von Demonstranten belagerten Residenz den Fahrer einer
Mietwagenfirma holen mußte, da der königliche Chauffeur sich den Aufständischen
angeschlossen hatte.
Um 22.30 Uhr eröffnete Eisner im größten Münchner Bierkeller, dem Matthäserbräu
am Hauptbahnhof, die konstituierende Versammlung der Arbeiter-, Soldaten- und
Bauernräte. Anschließend marschierten die Ratsmitglieder zum Landtagsgebäude,
wo Eisner die bayerische Republik ausrief: »Die bayerische Revolution hat
gesiegt, sie hat den alten Plunder der Wittelsbacher Könige hinweggefegt. Der,
der in diesem Augenblick zu Ihnen spricht, setzt Ihr Einverständnis voraus, daß
er als provisorischer Ministerpräsident fungiert.« Am Morgen des 8. November
wehten rote Fahnen auf den Türmen der Münchner Frauenkirche, und die Presse
verkündete die Proklamation der Republik durch Ministerpräsident Eisner:
»Bayern ist fortan ein Freistaat!«
Berlin: Republik ausgerufen
In Berlin hatten sich die Revolutionären Obleute, eine linksradikale
Arbeitergruppe mit fester Basis unter den Metallarbeitern, den Anschauungen der
kommunistische Spartakusgruppe um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg
angenähert. Die besonnenen Obleute wollten erst am 11. November den Aufstand
wagen. Doch am 8. November wurde ihr Mitglied Ernst Däuming mit den
Aufstandsplänen verhaftet. Nun konnten die Revolutionäre nicht mehr warten. Der
Vollzugsausschuß der Revolutionären Obleute, dem auch Karl Liebknecht und
Wilhelm Pieck vom Spartakusbund sowie die USPD-Führer Georg Ledebour, Hugo
Haase und Emil Barth beigetreten waren, entsandte Kuriere in die Berliner
Großbetriebe, um für den 9. November zum Generalstreik aufzurufen.
»Wenn der Kaiser nicht abdankt, dann ist die soziale Revolution unvermeidlich.
Ich aber will sie nicht, ich hasse sie wie die Sünde«, hatte der
MSPD-Vorsitzende Friedrich Ebert gegenüber dem Reichskanzler erklärt.
Angesichts des drohenden Übergreifens der Revolution auf Berlin erklärte Max
von Baden am 9. November eigenmächtig die Abdankung Kaiser Wilhelm II. und
ernannte Ebert zum neuen Reichskanzler.
»Nach Bekanntwerden der Abdankung des Kaisers bot Berlin in den Mittagsstunden
ein ganz eigenartiges Straßenbild. Kein lauter Jubel, kein Hurrageschrei, keine
übertriebenen Demonstrationen«, berichtete die kommunistische Rote Fahne, die
unter der Leitung von Hermann Duncker im besetzten Gebäude des Berliner
Lokalanzeigers gedruckt wurde. »Die Straßen Berlins durchzogen unaufhörlich
ungeheure Menschenmengen, Arbeiter aus den Fabriken, die fast alle bis mittags
die Arbeit niedergelegt hatten. Den Zügen wurden rote Fahnen vorangetragen; die
Zugteilnehmer hatten rote Armbinden und rote Schleifen angelegt. Wie mit einem
Zauberschlage waren die Polizeimannschaften verschwunden. Und trotzdem
herrschte im ganzen und großen Ordnung. ... Offizieren, Unteroffizieren und
Feldwebeln, die sich widersetzen wollten, wurde Seitengewehr und Revolver
abgenommen. Ebenso wurde die Schutzmannschaft teilweise entwaffnet.« Sämtliche
Truppen der Garnison Groß-Berlin waren kampflos auf die Seite der
Aufständischen übergegangen. Lediglich in der Maikäfer-Kaserne erschoß ein
Offizier drei Demonstranten. Es blieben die einzigen Toten dieses Tages.
Vom Fenster des Reichstages rief der MSPD-Abgeordnete Philipp Scheidemann gegen
14 Uhr die deutsche Republik aus und ermahnte die Bürger zur Ruhe und Ordnung.
Dem radikalen Teil der Arbeiterschaft war dies nicht genug. Vom Balkon des
Berliner Stadtschlosses verkündete zwei Stunden später Karl Liebknecht: »Der
Tag der Revolution ist gekommen. Wir haben den Frieden erzwungen. Der Friede
ist in diesem Augenblick geschlossen. Das Alte ist nicht mehr. Die Herrschaft
der Hohenzollern, die in diesem Schloß jahrhundertelang gewohnt haben, ist
vorüber. In dieser Stunde proklamieren wir die freie sozialistische Republik
Deutschland.« Anschließend hoben die Versammelten die Hand zum Schwur auf die
sozialistische Republik und die Weltrevolution. Auf dem Mast der
Kaiserstandarte wurde die rote Fahne gehißt.
Am 10. November um fünf Uhr früh verließ Kaiser Wilhelm II. mit seinem Hofzug
seine Residenz im belgischen Spa, um nach Holland ins Exil zu gehen. Am selben
Vormittag einigten sich SPD und USPD auf die Bildung einer gemeinsamen
Übergangsregierung. Diesem sechsköpfigen Rat der Volksbeauftragten gehörten
Ebert, Scheidemann und Landsberg für die MSPD und Haase, Dittmann und Barth für
die USPD an. Karl Liebknecht erklärte später: »Ich bin nicht in die Regierung
eingetreten, weil ich für die A[rbeiter] und S[oldaten] Räte die allein
entscheidende politische Macht forderte.«
Unter den Volksbeauftragten bestanden die Reichsministerien mit
Staatssekretären aus bürgerlichen Parteien weiter. »In Wirklichkeit war die
Regierung des 10. November eine etwas sozialistisch verschleierte Herrschaft
der alten Reichstagsmehrheit, ergänzt durch den rechten Flügel der USPD. Das
war die Regierung, wie sie dem Verlauf der Bewegung und dem damaligen
politischen Kräfteverhältnis in Deutschland entsprach«, erkannte der
marxistische Historiker Arthur Rosenberg. In einem Geheimpakt mit dem
Ludendorff-Nachfolger Wilhelm Groener hatte Ebert zudem die Entmachtung der
Soldatenräte, die Wiederherstellung der Kommandogewalt der Offiziere sowie die
Unterstützung der Reichswehr im Kampf gegen die Revolution vereinbart.
Ebenfalls am 10. November fanden die Wahlen zu den Berliner Arbeiter- und
Soldatenräten statt. Auf rund 200 Arbeiter oder Soldaten kam ein Delegierter.
Da die MSPD noch in der Nacht ihre Mitglieder mobilisiert hatte und häufig
Vorgesetzte oder Soldaten mit höherem Dienstgrad aufgrund ihrer größeren
Bekanntheit gewählt wurden, dominierten unter den Räten gemäßigte Auffassungen.
Während der Spartakusbund und der linke Flügel der USPD in den Räten den ersten
Schritt zur Errichtung einer Sowjetrepublik sahen, verstanden sich die Räte
selber nur als Provisorium auf dem Weg zur Wahl einer Nationalversammlung. Am
frühen Abend versammelten sich rund 3 000 Räte im Zirkus Busch. »Die
Konterrevolution ist mitten unter euch!«, warnte Karl Liebknecht mit Verweis
auf seinen Vorredner Friedrich Ebert. Ein Vollzugsrat aus jeweils sechs SPD und
USPD-Vertretern sowie sechs Soldaten wurde bestimmt und der Rat der
Volksbeauftragten als vorläufige Reichsregierung im Amt bestätigt. Der
Spartakus-Bund, der jede Zusammenarbeit mit der SPD ablehnte, verließ die
Versammlung.
»Von einer Diktatur des Proletariats war keine Rede. Denn der entscheidende
Teil der Räte, die Soldatenräte, waren in ihrer Mehrheit weder proletarisch
noch sozialistisch, noch wollten sie eine Diktatur ausüben«, lautete Arthur
Rosenbergs ernüchterndes Fazit. »Der preußische Militäradel und die Monarchie
waren gestürzt. Die Anhänger der sozialistischen Revolution hatten sich nicht
durchsetzen können. Die bürgerliche Republik hatte in Deutschland gesiegt.«
Daß die Spartakisten im Unterschied zu den russischen Bolschewiki bei Ausbruch
der Revolution noch nicht über eine eigenständige, in jahrelangen Kämpfen
erprobte und in den Betrieben verankerte Partei verfügten, trug zu dieser
Niederlage der sozialistischen Linken ebenso bei wie der Verrat der SPD-Führer
durch ihr Bündnis mit den alten Eliten von Reichswehr und
Ministerialbürokratie.
Nick Brauns