Neue Heimat für jüdisches Leben

 

Am 9. November wurde der Grundstein für das neue jüdische Zentrum in München gelegt

 

Seit der Reichspogromnacht vor 65 Jahren spielte sich das alltägliche jüdische Leben in München unsichtbar hinter streng bewachten Mauern ab. Mit der gestrigen Grundsteinlegung für das neue jüdische Zentrum auf dem Sankt-Jakobsplatz kehrt es wieder sichtbar und erfahrbar in das Herz der Stadt zurück. „Wer baut, der bleibt“ bekannte Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. „Seit dem 9.November 1938 war ein Teil von mir immer noch auf der Flucht. Heute Abend werde ich damit beginnen, diese Koffer zu öffnen und jedes einzelne Teil an den Platz zu räumen, den ich dafür freigehalten habe. Heute nach 65 Jahren bin auch ich ganz wieder in meiner Heimat angekommen.“ Unter den geladenen Gästen befanden sich Bundespräsident Johannes Rau, Ministerpräsident Edmund Stoiber, Oberbürgermeister Christian Ude, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland Paul Spiegel und der Israelische Botschafter Simon Stein. Nach der Grundsteinlegung wurde der Bauplatz für die Allgemeinheit geöffnet. Prominente und Zeitzeugen stellten sich Fragen zur Vergangenheit und Zukunft der fast 1000 jährigen jüdischen Gemeinde in München und Paul Spiegel beantwortete bei einer Buchpräsentation die Frage „Was ist koscher?“.

 

Bis zum Jahr 2007 soll die neue Heimat der Münchner jüdischen Gemeinde vollendet werden. Eine gläserne Kuppel über der neuen Hauptsynagoge wird Offenheit und Zuversicht symbolisieren. Im Gemeindezentrum werden sich ein Kindergarten, eine Sozialstation, eine Grund- und eine Volkshochschule, ein Jugend- und ein Seminarzentrum sowie eine Bibliothek befinden. Ein koscheres Restaurant und ein Kulturzentrum sollen dazu beitragen, das Zentrum zu einem Ort der Begegnung von Juden und Nichtjuden zu machen. Ein Drittel des 60 Millionen teuren Neubaus wird durch den Verkauf des Grundstücks finanziert, auf dem die 1938 zerstörte Hauptsynagoge stand. Der Freistaat Bayern fördert das Projekt mit sieben Million Euro. Den Rest des Geldes bringen Spender auf. Den Baugrund selber hatte die Stadt München der Israelitischen Kultusgemeinde kostenlos überlassen. Die Stadt tritt auch als Bauherrin des Jüdischen Museums auf, dessen Schwerpunkt auf der Geschichte der Münchner jüdischen Gemeine als Einwanderergemeinde liegt.

 

Rechtzeitig zur Grundsteinlegung hatten Historiker im Münchner Stadtarchiv einen Fund von hoher historischer Bedeutung gemacht: die Grundsteinbüchse der im Juni 1938 noch vor der Reichspogromnacht von den Nazis abgerissenen Hauptsynagoge in der Herzog-Max-Straße. Es ist die einzige noch existierende Grundsteinbüchse einer zerstörten Synagoge. „Ein Schandfleck verschwindet“, hatte der „Stürmer“ gejubelt, als auf dem Gelände des jüdischen Gotteshauses ein Parkplatz gebaut wurde. Für Juden in ganz Deutschland war dies das Signal, dass die nationalsozialistische Judenverfolgung in eine neue eliminatorische Etappe ging, die keinen Platz mehr für jüdisches Leben in Deutschland lassen sollte. Kurz nach dem 9.November 1938 begann die Deportation jüdischer Männer ins KZ Dachau. 1945 fanden die amerikanischen Truppen in der ehemaligen „Hauptstadt der Bewegung“ gerade noch 84 Juden. Vor Beginn der NS-Diktatur waren es 9000. Fast so viele Münchner bekennen sich heute wieder zum Judentum. Nachdem in den 90er Jahren viele Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach München gekommen sind, verfügt die Stadt heute über die zweitgrößte jüdische Gemeinde in Deutschland. „Die Erinnerung an die Vergangenheit ist ein wesentlicher Teil des geistigen Fundaments, auf dem wir unsere Zukunft bauen“, erklärte Charlotte Knobloch bei der Grundsteinlegung. Symbolisch hierfür wurde eine Kassette mit Namenslisten der während des Holocaust ermordeten jüdischen Münchner zusammen mit der Grundsteinbüchse im Jakobsplatz versenkt.

 

Seit Mittwoch stand der Jakobsplatz unter ständiger Polizeibeobachtung. Sprengstoffhunde und Scharfschützen waren im Einsatz. Die kürzlich aufgedeckten Attentatspläne einer neonazistische Terrorzelle gegen den Neubau des jüdischen Zentrums machen deutlich, dass die Grundsteinlegung noch lange nicht der erhoffte „Beginn einer Normalität jüdischen Lebens in der Stadt“ ist. 14 Kilogramm Sprengstoff hatten die Mitglieder der Kameradschaft Süd um Martin Wiese beschafft, um ihn in der Kanalisation unter dem Jakobsplatz zu zünden. Generalbundesanwalt Kay Nehm will jetzt gegen 13 Neonazis Anklage wegen Unterstützung oder Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung erheben.

 

Neben den neonazistischen Terrordrohungen belastete auch die antisemitische Rede des CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann die Grundsteinlegung in München. „Wer mit dümmlichen Geschichtsvergleichen die Shoa relativiert, stellt sich außerhalb des Verfassungsbogen. Wer als Repräsentant des deutschen Volkes eine besondere Vorbildfunktion hat und hier unverantwortlich handelt, macht sich schuldig am Andenken der Opfer und der Lebenden und Überlebenden“, erklärte Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber. Auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland Paul Spiegel nannte es unerträglich, „dass im deutschen Bundestag jemand sitzt und Stimme hat, der rechtsextremes Gedankengut verbreitet“.

 

Nikolaus Brauns, München

9. November 2003