Junge Welt 23.06.2004 Ausland
Istanbul wird zum NATO-Valley
»Rote Zone« während Gipfeltreffens hermetisch abgeriegelt. Kundgebungen und Gegenkongresse geplant
Wenige Tage vor Beginn des NATO-Gipfels herrscht in Istanbul
der Ausnahmezustand. Große Teile der Innenstadt wurden offiziell zum
NATO-Valley erklärt und dem Militär unterstellt. Für den Schutz der
Delegationen sind 30 000 Polizisten in der Stadt stationiert. Hunderttausende
Bewohner der Stadtviertel Beyoglu, Besiktas und Sisli wurden mit Hilfe der
Gemeindeämter überprüft und dürfen während des Gipfels zu Beginn kommender
Woche diese »rote Zone« nur mit einem Sonderausweis betreten. Hochzeitsfeiern
und Verlobungen im Innenstadtbereich wurden verboten, Beerdigungen dürfen nur
unter strengen Sicherheitsvorkehrungen stattfinden. Der weltberühmte überdachte
Basar wird während des Gipfels nur den NATO-Vertretern offenstehen.
Eine ursprünglich vorgesehene Sperrung des Bosporus für jeden Schiffsverkehr
war auf Grund internationaler Verträge nicht möglich. Den Schutz von
US-Präsident George Bush sollen allerdings auch Kriegsschiffe gewährleisten,
die vor seinem Domizil im Ciragan-Palast ankern. Der Luftraum über der Stadt
wird für den zivilen Luftverkehr gesperrt und von AWACS-Aufklärern der NATO
kontrolliert. Der staatliche Rundfunksender Radio Istanbul muß während des
Gipfels seine Sendungen unter Polizeikontrolle ausstrahlen. »Die Knechtschaft
der AKP (Regierungspartei) kennt keine Grenzen: Es ist sogar untersagt zu
heiraten, wenn Bush das Land betritt!«, heißt es in einer Erklärung der
Revolutionären Volksbefreiungsfont DHKP-C. »Um folternde und perverse
Machthaber wie Bush zu beschützen, will die AKP-Regierung unser Land in ein
offenes Gefängnis verwandeln.«
Von der Polizei genehmigte Großkundgebungen der »Allianz gegen NATO und Bush«
finden am Samstag in Ankara und am Sonntag im Aksaray-Viertel von Istanbul
statt. Unter den rund 120 Aufrufern befinden sich die Gewerkschaft des
öffentlichen Dienstes KESK, die kurdische Demokratiepartei des Volkes DEHAP,
die Sozialistisch-Demokratische Partei und eine Vielzahl weiterer linker
Organisationen. Für Montag und Dienstag planen antiimperialistische Gruppen
Gegenkongresse in Ankara und Istanbul. Am 26. Juni 2004 finden zudem europaweit
Demonstrationen gegen den NATO-Gipfel statt.
Nick Brauns