Junge Welt 11.09.2010
/ Thema / Seite 10
Der NATO-Putsch
Geschichte. Vor 30 Jahren ergriff das Militär die
Macht in der Türkei. Das nordatlantische Bündnis, besonders die USA und
Deutschland, sichert den Staatsstreich zu Beginn der neoliberalen Ära ab
Von Nick
Brauns
Am Morgen
des 12. September 1980 wurden die Menschen in der Türkei mit der über Rundfunk
verbreiteten Nachricht geweckt, daß »die Armee für
das Wohl und die Unteilbarkeit des Landes die Macht übernommen« habe. Dieser
dritte Militärputsch in der Geschichte der modernen Türkei sollte die türkische
Gesellschaft bis heute fast ebenso einschneidend prägen wie die Gründung der
Republik Türkei aus den Trümmern des Osmanischen Reichs im Jahr 1923.
Ein Ultimatum des Generalstabs hatte am 1. Januar 1980 den Countdown zum Putsch
eingeleitet: »Unsere Nation kann nicht länger diejenigen dulden, die die
großzügigen, in unserer Verfassung verankerten Freiheiten mißbrauchen,
diejenigen, die die kommunistische ›Internationale‹ anstelle unserer
Nationalhymne singen, oder diejenigen, die das demokratische System durch
irgendeine Art von Faschismus, Anarchie, Zerstörung und Separatismus ersetzen
wollen.«1 Die parlamentarischen Parteien wurden aufgefordert, ihre Differenzen
zu überwinden und stabile Verhältnisse im Land zu schaffen. Im Oktober 1979
hatte der konservative Politiker Süleyman Demirel den Kemalisten Bülent Ecevit
als Ministerpräsident abgelöst, doch die Minderheitsregierung seiner
Gerechtigkeitspartei AP mußte sich auf die faschistische
Nationale Bewegungspartei MHP von Alparslan Türkes
und die islamistische Nationale Heilspartei MSP von Necmettin Erbakan stützen.
Die Instabilität auf parlamentarischer Ebene wurde deutlich durch die Tatsache,
daß es auch nach 120 Wahlgängen nicht gelang, einen
neuen Staatspräsidenten zu wählen.
Die Wirtschaftslage des Landes war desolat. Durch die Ölpreisteigerung
war seit 1974 die Auslandsverschuldung der Türkei sprunghaft auf 20 Milliarden
US-Dollar angestiegen, dringend benötigte Güter konnten aufgrund des
Devisenmangels nicht importiert werden, Industriekapazitäten brachen wegen
Rohstoff- und Ersatzteilmangel ein. Koordiniert vom niedersächsischen
Wirtschaftsminister Walther Leisler Kiep (CDU) und Bundesfinanzminister Hans Matthöfer (SPD)
wurde zur Abwendung des Staatsbankrotts für das international nicht mehr als
kreditwürdig geltende Land ein Drei-Milliarden-Dollar-Kredit ausgehandelt. Die
vom Internationalen Währungsfonds IWF geforderten Bedingungen lauteten:
Aufhebung des Streik- und Tarifrechts, Einfrieren der Löhne und Gehälter,
Privatisierungen, Abwertung der Währung, Senkung der Staatsausgaben im Sozial-,
Gesundheits- und Bildungsbereich, Senkung der Zuschüsse für Lebensmittel.
Ministerpräsident Demirel beauftragte den früheren Weltbankmitarbeiter und
Vorsitzenden des Unternehmerverbandes TÜSIAD, Turgut Özal, mit der Umsetzung
dieses am 24. Januar in Kraft getretenen Programms, daß
die neoliberale Wende der Türkei von Protektionismus zur Weltmarktöffnung und
zu einer exportorientierten Ökonomie einleitete. Gegen eine Inflationsrate von
über 100 Prozent, Massenentlassungen und Privatisierungen kam es zu Streiks vor
allem von in der Föderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften DISK
organisierten Beschäftigten in der Metall-, Glas- und Textilindustrie. Im
September befanden sich etwa 55000 Arbeiter im Streik, weitere 300000 drohten,
in den Ausstand zu treten. Deutlich wurde, daß die
Umsetzung des IWF-Anpassungsprogramms ohne eine »eiserne Hand« nicht
durchzuführen war.
Brutale Putschvorbereitung
In der
Bevölkerung herrschte eine starke Verunsicherung durch die sich seit der
zweiten Hälfte der 70er Jahre immer weiter ausbreitende politische Gewalt auf
der Straße, die bis zum Herbst 1980 rund 5000 Menschenleben gekostet hatte.
Zwar propagierten einige linke Gruppierungen den bewaffneten Kampf und führten
Banküberfälle durch, doch die linke Gewalt war im wesentlichen
eine Reaktion auf den faschistischen Terror. Allein im Sommer 1980 gab es
monatlich rund 150 bis 200 politische Morde, von denen selbst nach
konservativen Schätzungen drei Viertel auf das Konto der Grauen Wölfe, der
Jugendorganisation der MHP, gingen. »Das Gefängnis war ein Rekrutierungsfeld.
Wir haben in den Gefängnissen unsere Mitglieder in Judo, Karate und
Bombenherstellung unterwiesen und sie dort ideologisch unterrichtet«,
schilderte ein ehemaliger Faschistenführer. »Wegen
kleiner Delikte verurteilte MHP-Sympathisanten wurden dort zu bezahlten Killern
ausgebildet. Wir haben eine Todesliste gehabt, die mit allem MHP-Vorstandsmitgliedern
abgestimmt war.«2 Neben der gezielten Ermordung linker
Aktivisten und Intellektueller gelang es der MHP mit stillschweigender Duldung
durch die Demirel-Regierung, insbesondere in Mittelanatolien
Behörden und Unternehmen mit eigenen Leuten zu besetzen und von der
Staatsgewalt weitgehend unkontrollierte »befreite« Gebiete zu schaffen.
Der Rechtsterrorismus in der Türkei war Teil einer »Strategie der Spannung«
durch die NATO-Konterguerilla Gladio, mit der –
ähnlich wie durch eine Anschlagswelle in Italien – unter der verunsicherten
Bevölkerung die Stimmung für die Errichtung eines autoritären Regimes erzeugt
werden sollte. Die Grauen Wölfe, die 1980 rund 200000 registrierte Mitglieder
und eine Million Sympathisanten hatten, wurden ein bevorzugtes Rekrutierungsfeld
für die türkische Konterguerilla, die als »Amt für spezielle Kriegführung«
direkt dem Putschistenführer Generalstabschef Kenan Evren unterstand. Diese
Konterguerilla war für das Massaker am 1. Mai 1977 auf dem Istanbuler Taksim-Platz verantwortlich, als Scharfschützen aus einem
Hotel das Feuer auf eine Kundgebung von über einer halben Million
Gewerkschafter eröffneten und 38 Menschen töteten. Auch an dem faschistischen
Pogrom im Dezember 1978 in Kahramanmaras, bei dem 107 Anhänger der alewitischen Religionsgemeinschaft ermordet wurden, war die
Konterguerilla beteiligt.
Die politische Instabilität an ihrer Südostflanke erregte so bei den
NATO-Partnern Unbehagen. Der nationale
Sicherheitsberater des US-Präsidenten James Carter, Zbigniew Brzezinski,
vertrat offen die Auffassung, daß »für die Türkei
genauso wie für Brasilien eine Militärregierung die beste Lösung wäre«. Nach
dem Verlust des Iran für den Westen durch die islamische Revolution 1979 hatte
die strategische Bedeutung der Türkei noch einmal zugenommen. Das Land sollte
im Rahmen der US- und NATO-Kriegspläne als Angriffsplattform gegen die
Südflanke der Warschauer Vertragsstaaten und als Gegenbedrohung der südlichen
Sowjetunion fungieren. Darüber hinaus diente die Türkei der NATO als Basis für
mögliche Nah- und Mittelostinterventionen.
Die USA hatten im Januar 1980 mit der Türkei einen neuen Militärvertrag über
die Einrichtung von 26 Stützpunkten wie der Spionagestation Sinop
am Schwarzen Meer und dem Luftwaffenstützpunkt Incirlik
am Mittelmeer ausgehandelt, auf denen 5000 US-Militärs stationiert waren. Ein
weiteres Abkommen vom März garantierte den USA die Nutzung türkischer
Stützpunkte im Gegenzug für Rüstungshilfe. Die New York Times berichtete, daß türkische Militärs erklärt hatten, nicht ohne
Einverständnis Washingtons zu handeln, und ein Sprecher des Außenministeriums
in Washington bestätigte gegenüber der internationalen Presse am 13. September,
daß die USA vor dem Staatsstreich vom türkischen
Militär informiert wurden.
Offiziere mit Kapitalinteressen
Zur
Absicherung des Putsches fand ab dem 11. September im europäischen Teil der
Türkei unter der Oberhoheit des Südostkommandos der NATO das Manöver »Anvil Express« mit 3000 Soldaten der Schnellen
Eingreiftruppe statt. »Unsere Jungs haben es geschafft«, meldete Paul Henze,
der ehemalige Leiter der CIA-Niederlassung in Ankara, am Tag nach dem Putsch
dem US-Präsidenten. Der CIA-General, der die Türkei kurz davor verlassen hatte,
um Carters Sicherheitsberater und Chef der
Türkei-Abteilung in Washington zu werden, gilt als »Baumeister des
12.-September-Putsches«. Der türkische Generalstabschef Evren,
ein enger Vertrauensmann des Pentagon, beeilte sich, unmittelbar nach dem von
den NATO-Partnern mit spürbarer Erleichterung aufgenommenen Putsch zu
versichern, die Türkei werde ihren vertraglichen Verpflichtungen im Rahmen des
Bündnisses selbstverständlich nachkommen.
Von 1980 zu 1981 stieg der türkische Militäretat um 65 Prozent. Der erste
Militärputsch im Jahr 1960 – der, vor allem von Offizieren der unteren und
mittleren Ränge organisiert, die Herrschaft der reaktionären proamerikanischen
Menderes-Regierung beendete – hatte ein Jahr später zur Einsetzung einer
liberalen Verfassung geführt, die erstmals das Streikrecht und sozialistisches
Gedankengut legitimierte. Doch schon beim Putsch von 1971 und erst recht 1980
zeigte sich eine geänderte Interessenslage innerhalb des Offizierskorps, die
ihre Ursache in der Integration der Armee in das Wirtschaftssystem hatte. Auf
Anraten von US-Beratern war 1961 die Unterstützungskasse der Armee (OYAK)
gegründet worden, an die Offiziere zehn Prozent ihres Soldes abführen mußten. Bis 1980 war OYAK mit Beteiligungen nicht nur an
der türkischen Rüstungsindustrie, sondern auch an Tochtergesellschaften
internationaler Konzerne wie Goodyear, Mobil Oil,
Shell und Hilton zur zweitgrößten Unternehmensgruppe der Türkei angewachsen.
Vertraten die jungen Putschoffiziere von 1960 noch die kemalistischen
Ideale nationaler Unabhängigkeit und eigenständiger wirtschaftlicher Entwicklung,
so war das Offizierskorps nun materiell auf das engste mit den Interessen des
Kapitals verbunden.
Zu den ersten Maßnahmen der Putschisten vom September 1980 gehörte die
Verhängung des Kriegsrechts über das ganze Land, die Auflösung des Parlaments,
das Verbot aller Parteien sowie die Verhaftung von über 200 Parlamentariern.
Streiks wurden verboten, ebenso der linke Gewerkschaftsverband DISK sowie als
Zeichen scheinbarer Ausgewogenheit eine unbedeutende faschistische
Gewerkschaft. Gegen Linke, Gewerkschafter und die kurdische Befreiungsbewegung
begann eine massive Verhaftungswelle. Elf Tage nach dem Putsch setzte die sich
als »Nationaler Sicherheitsrat« konstituierte Junta aus Generalstabschef Evren und den Kommandierenden der Teilstreikkräfte Heer,
Marine, Luftwaffe und Gendarmerie eine unter ihrer Autorität stehende »zivile« Technokratenregierung ein.
Für die weitere Umsetzung des neoliberalen Wirtschaftskurses des US-Ökonomen
Milton Friedman war erneut Turgut Özal zuständig. Widerstand regte sich kaum.
Die Linke war zu zersplittert und zu wenig in der Bevölkerung verankert, und
der Gewerkschaftsverband DISK, der im Falle eines Putsches mit einem
Generalstreik gedroht hatte, war nicht auf die Illegalität vorbereitet. Zudem
genossen die Putschisten nach Jahren der Unruhe durchaus Massenunterstützung
unter der Bevölkerung. Um sich diese Unterstützung auch weiterhin zu sichern,
bedienten sich die Militärs, die sich heute gerne als Hüter des Laizismus
aufspielen, auch des politischen Islam. Erstmals wurde so der islamische
Religionsunterricht als Pflichtfach an den Schulen eingeführt.
SPD/FDP-Regierung liefert Waffen
»Die nicht
ablehnende Haltung der NATO und der EG-Staaten gegenüber der Militärregierung
trägt zur Stabilisierung der Regierung im Lande bei. Die westliche Welt
genehmigte der türkischen Demokratie die ›Winterpause‹«, stellte der in
Deutschland lebende Türkei-Experte Faruk Sen kurz nach dem Putsch fest. Politische
und militärische Unterstützung erhielt das Putschregime insbesondere aus der
Bundesrepublik. Nur einzelne SPD-Abgeordnete, die zuvor schon gegen die
Türkei-Hilfe gestimmt hatten, forderten politische Konsequenzen der
Bundesregierung. Bundesfinanzminister Matthöfer, der zuvor den Milliardenkredit
für die Türkei koordiniert hatte, erklärte nach Bekanntwerden des Putsches der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13. September 1980, »er hoffe auf einen
heilsamen Schock, aus dem ein Arrangement hervorgehe, an dem sowohl die
demokratischen Kräfte als auch die Armee beteiligt seien.«
Das erste internationale Abkommen, das die Junta unterzeichnete, war ein
Vertrag mit der damals noch sozialliberalen Bundesregierung über Polizeihilfe,
darunter Waffen, Munition und Fahrzeuge, im Wert von 15 Millionen DM. Noch im
Dezember 1980 wurden die ersten 27 Polizeifahrzeuge an die Türkei ausgeliefert.
Eine Bundestagsdelegation unter Leitung des CDU-Abgeordneten Alois Mertes, der
unter anderem die Abgeordneten Karsten Voigt (SPD) und Helga Schuchardt (FDP)
angehörten, stellte nach einem Türkei-Besuch im März 1981 fest, daß die Türkei keineswegs diktatorisch regiert werde,
sondern die Junta sich auf Zufriedenheit in der Bevölkerung stütze. Während die
Menschenrechtsorganisation Amnesty International im Frühjahr 1981 die
offensichtliche »Kontinuität der Anwendung der Folter« beklagte, behauptete die
Bundestagsdelegation nach dem Besuch eines vom Militär sorgfältig präparierten
Gefängnisses für »offenen Strafvollzug«, es gäbe in der Türkei »keine
systematische Folter«. Das regimetreue Massenblatt Hürriyet jubelte am 11. März
1981: »Die deutschen Parlamentarier haben die Feinde der Türkei widerlegt.«
Massenhafte Folter
Die Realität
sah freilich gänzlich anders aus, als es die deutschen Abgeordneten wahrhaben
wollten. Insgesamt wurden in der Türkei 650000 Personen festgenommen. Ein Jahr
nach dem Putsch gab es 123000 politische Gefangene, Ende 1985 waren es immer
noch über 6000. Fast jeder inhaftierte Oppositionelle mußte
Folter erleiden. Auf die Übermittlung von 70 Namen von Personen, die in der
Haft ums Leben gekommen waren, erklärte Staatsminister Uhan
Öztrak 1982 gegenüber Amnesty International, es seien
»nur« 15 mutmaßliche Terroristen zu Tode gefoltert worden, die anderen hätten
Selbstmord begangen oder seien auf der Flucht erschossen worden. 98404
mutmaßliche »Anhänger illegaler Organisationen« wurden angeklagt, ebenso rund
71000 Meinungsdelikte. 27 Gefangene – 18 linksorientierte, acht
rechtsorientierte und ein armenischer Nationalist – wurden hingerichtet, 517
weitere Todesurteile verhängt und in 7000 Fällen die Todesstrafe beantragt, so
gegen 78 DISK-Gewerkschafter und 186 Mitglieder der Organisation Dev Yol (Revolutionärer Weg). 460
Personen wurden allein im ersten Jahr der Diktatur bei militärischen
Operationen exekutiert. Ein völliges Willkürregime mit Massenverhaftungen,
Dorfrazzien und Todesschwadronen herrschte insbesondere in den kurdischen
Landesteilen.
Um die scheinbare Unparteilichkeit des Militärregimes zu demonstrieren, wurden
im Mai 1981 auch 220 Faschisten wegen 694 Morden angeklagt. »Unsere Gedanken
waren an der Macht, während wir im Gefängnis saßen«, erklärte MHP-Führer
Alparslan Türkes, gegen den ebenfalls zum Schein eine
Anklage erhoben worden war, in seiner Verteidigungsrede. Den faschistischen
Gefangenen bot der türkische Geheimdienst ihre Freilassung und ein gesichertes
Einkommen an, wenn sie sich den in den kurdischen Landesteilen operierenden
Konterguerillaeinheiten anschlossen. Derartige Todesschwadronen ermordeten bis
Ende der 90er Jahre 17000 kurdische Zivilisten.
Putsch-Verfassung gilt bis heute
Mit einem Referendum über eine vom
Nationalen Sicherheitsrat vorgelegte Verfassung begann 1982 der Übergang von
der offenen Militärdiktatur zur »gelenkten Demokratie«. »Es galt darum, dafür
zu sorgen, daß die Gesellschaft den 12. September
1980 als eine Denk- und Lebensweise und als bewußte
Entscheidung, als eine Staatsform und gesellschaftliche Formation
verinnerlichte und ihn als eine schon immer vorhandene, natürliche
Lebensrealität akzeptierte«, schreibt der damals als Marxist von seiner Dozentenstelle an der Universität Ankara entlassene
Politologe Haluk Gerger. »Das politische Standbein
der neuen Struktur bildete eine autoritäre Demokratie, in der für Menschenrechte,
Freiheit und Mitbestimmung kein Platz war. Das eigentliche Ziel war die
Einführung eines brutalen kapitalistischen Akkumulationsmodells.«3
Mehr als 91 Prozent der Wähler gaben der Verfassung, über die jede kritische
Diskussion in der Öffentlichkeit verboten war, am 7. November 1982 ihre
Zustimmung. In Gegensatz zu liberalen Verfassungen, die den Schutz von
bürgerlichen Freiheitsrechten garantieren sollen, hatte diese nach der Doktrin
vom »Staat der nationalen Sicherheit« entworfene Verfassung die Funktion,
Freiheit zu beschränken und staatliche Eingriffe zu legitimieren.
Entscheidungen des Nationalen Sicherheitsrates wurde Bindungswirkung verliehen
und damit die Vorherrschaft der Militärs institutionalisiert. Die »unteilbare
Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk« wurde als unabänderlich
festgeschrieben und bei gleichzeitiger Betonung des Türkentums
so Autonomie oder auch nur muttersprachlicher Schulunterricht für die Kurden
ausgeschlossen. Eine Zehn-Prozent-Hürde bei Wahlen sollte den Einzug
prokurdischer und sozialistischer Parteien ins Parlament verhindern, soweit
diese nicht gleich als verfassungsfeindlich verboten werden. Ergänzt wurde die
Verfassung 1983 durch ein neues Arbeitsgesetz mit weitgehenden Einschränkungen
der gewerkschaftlichen Organisation und des Streikrechts.
Mit der Annahme der Verfassung war General Evren
automatisch zum Staatspräsidenten gewählt worden. Zu den Parlamentswahlen im
November 1983 ließen die Militärs lediglich drei Parteien antreten, von denen
sie zwei selbst ins Leben gerufen hatten. Der Technokrat Turgut Özal wurde mit
seiner scheinbar vom Militär unabhängigen Mutterlandspartei AnaP,
in der zahlreiche ehemalige Funktionäre der verbotenen MSP und MHP Aufnahme
gefunden hatten, zum großen Wahlsieger. Özals Wirtschaftspolitik führte zwar
tatsächlich zu einem Aufschwung – doch auf Kosten der Verarmung eines Großteils
der Bevölkerung. So sanken die Reallöhne zwischen 1977 und 1984 um rund die
Hälfte, und die Arbeitslosigkeit stieg kontinuierlich an. Erst langsam regte
sich Widerstand gegen die nur oberflächlich demokratisch verbrämte
Militärdiktatur. Nachdem die Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, im August 1984 den
Guerillakampf aufgenommen hatte, kam es im folgenden Jahr in Istanbul zu
Massenprotesten »Für Demokratie und Freiheit – gegen Teuerung und
Arbeitslosigkeit«.
Die Putschverfassung ist bis heute gültig. Auch das symbolträchtig am 30.
Jahrestag des Staatsstreichs von der islamisch-konservativen AKP-Regierung von
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zum Referendum
vorgelegte Reformpaket ändert nichts an der autoritären Gesamtausrichtung
dieser Verfassung, die weiterhin den Geist des 12. September atmet.
Sozialistische und prokurdische Parteien und Gewerkschaften fordern daher die
Ausarbeitung einer neuen, demokratischen Verfassung, die die Rechte der
werktätigen Bevölkerung ebenso anerkennt, wie die verschiedenen Ethnien und
Religionsgruppen innerhalb der Türkei.
Anmerkungen
1 Zitiert nach: blätter des iz3w, Nr. 89, November 1980, S. 7
2 Frankfurter Rundschau vom 29.8.1980
3 Haluk Gerger: Die türkische Außenpolitik nach 1945,
Köln 2008, S. 137
Von Nick Brauns erschien vor kurzem zusammen mit
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