Ludwig-Maximilians-Universität München im WS 1995/6

Neuere Deutsche Literatur: Hauptseminar Gotthold Ephraim Lessing

Dozent: Prof. Dr. J. Scharfschwerdt

 

Die Konstituierung einer neuen "Vater"-Autorität in Lessings "Nathan der Weise"

 

Von: Nikolaus Brauns

 

 

1. Einleitung.. 1

2. Der gesellschaftsgeschichtliche Hintergrund.. 2

3. Leistungsprinzip contra Tradition.. 3

4. Patriarchalismus und Familie. 4

6. Die "Ringparabel". 6

7. Nathan der Vater und Bürger.. 9

8. Die Erziehung als Leistung.. 11

9. Recha.. 14

10. Der Tempelherr.. 15

11. Saladin und Sittah.. 20

12. Lessings aufklärerischer Realismus.. 24

13. Bibliographie. 25

 

1. Einleitung

 

Mit dem dramatischen Gedicht "Nathan der Weise"[1] schuf Gotthold Ephraim Lessing einen Höhepunkt der deutschen Aufklärung. Vielfältige Interpretationen und Deutungen existieren zu dem Stück.[2] Handelt es sich auf den ersten Blick um die Auseinandersetzung zwischen den drei Weltreligionen Christentum, Judentum und Islam, um die Frage nach der "wahren Religion", so betonen auch die meisten Untersuchungen das Postulat religiöser Toleranz als Kernaussage des Stückes. Die Ideen allgemeiner Menschenliebe, Toleranz und vernunftgeleiteten Aufeinanderzugehens, statt vorurteilsgeladener und dogmatischer Ressentiments, sind Kernbestandteile des fortschrittlichen Gedankengutes der Aufklärung. Schon Lessings Frühwerk rankt sich um die Problematik der Vorbehalte und der Feindschaft gegenüber dem Judentum. Griff Lessing in seinem Lustspiel "Die Juden" von 1749 noch die antisemitische Legende an, wonach die Juden allesamt Räuber seien, und klammerte die theologische Frage aus, so steht die unmittelbarere religiöse Auseinandersetzung in Lessings zweitem Werk mit einem Juden als Hauptperson, dem zwanzig Jahre später erschienenen "Nathan", im Mittelpunkt. Diese religionstheoretische Betrachtungsweise des "Nathan" soll in der folgenden Arbeit keinesfalls negiert werden. Es geht nicht darum, die religiöse Thematik als bloß vorgeschoben zu entlarven und gänzlich andere Motive aus dem Stück herauszulesen. Gleichwohl soll im Folgenden auf die theologische Debatte verzichtet werden und vielmehr eine Thematik herausgearbeitet werden, die im Stück wesentlich tiefer verborgen liegt als die religiöse.

Der "Nathan" behandelt seinem Wesen nach eine Familienthematik. Neben den Beziehungen der Religionen untereinander treten vor allem die als zunehmend verwandtschaftlich erscheinenden Beziehungen der meisten handelnden Personen in den Vordergrund. Wenn am Schluß des Stückes "unter stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen" der Vorhang fällt, ist  die glückliche Familie geschaffen, die Harmonie als Grundbedürfnis erfüllt. Der Zuschauer oder Leser weiß nun um die geschwisterliche Bindung Rechas zum Tempelherren, hat den Sultan Saladin und dessen Schwester Sittah als Onkel und Tante des Geschwisterpaars erkannt und Nathan ist als Adoptivvater Rechas entlarvt und gleichwohl akzeptiert in der Familie integriert. Ein Familienkonflikt, der durch die nach dem religiösen Gesetz verbotene Adoption der Christin Recha durch den Juden Nathan vorbereitet und durch die Liebe des Tempelherren zu Recha ausgelöst wurde, ist beigelegt. Zentrale Figur, die die Verwandten als solche erkennt und vereint, ist Nathan. Im Folgenden soll daher untersucht werden, wie Nathan eine neue, im Stück sichtbare Autorität verkörpert, die in erster Linie als "Vater"-Autorität wirkt, gleichwohl aber, wie gezeigt werden soll, auch die Autorität und Identität Nathans als Bourgeois darstellt.

 

 

2. Der gesellschaftsgeschichtliche Hintergrund

 

Wenn für ein literarisches Werk wie dem "Nathan" ein wirkliches Verständnis entwickelt werden soll, ist es unabdingbar, es im Zusammenhang mit der geschichtlichen Entwicklung und als Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Kräfte zu sehen. Sicherlich ist ein Werk wie der "Nathan" in erster Linie direktes Produkt seines Autors Lessing. Doch allein die zeitgenössische Rezeption und die bis heute deutlich sichtbare Aktualität des Stückes zeigen, daß es mehr als nur Lessings Werk ist. Es ist vielmehr das Spiegelbild breiter gesellschaftlicher Kräfte und Auseinandersetzungen in der  Epoche seiner Entstehung.

Philosophie und Literatur der Aufklärung im 18.Jahrhundert entstanden in Deutschland vor dem Hintergrund des Aufstieges des Bürgertums in der feudalabsolutistischen Gesellschaft. Die Aufklärung als fortschrittlichste Philosophie des Bürgertums richtete sich in ihrer Grundtendenz gegen die herrschenden politischen, sozialen, ökonomischen, philosophischen, ästhetischen und theologischen Anschauungen und politischen Institutionen des Feudalismus. "Religion, Naturanschauung, Gesellschaft, Staatsordnung, alles wurde der schonungslosesten Kritik unterworfen; alles sollte seine Existenz vor dem Richterstuhl der Vernunft rechtfertigen oder auf die Existenz verzichten", so Friedrich Engels über die Aufklärung.[3]

Unter dem Druck des Adels und eingeengt in die Kleinstaaterei konnte das deutsche Bürgertum im 18.Jahrhundert nicht solche Machtpositionen im wirtschaftlichen Bereich und daran anknüpfend in der politischen Sphäre besetzen, wie etwa in England oder Frankreich. Aus dem Mangel an ökonomischer Entwicklung ergab sich, daß das deutsche Bürgertum seinen Kampf gegen die Feudalgewalten nicht in der unmittelbaren Auseinandersetzung um wirtschaftliche und politische Positionen führte, die in anderen Nationen in Revolutionen gipfelte. Es war vielmehr die Literatur, besonders Romane und Dramen, in der sich die Herausbildung der bürgerlichen Ideologie entfaltete. Vor der Eroberung der politischen Macht lag hier der langandauernde Stellungskrieg zur Eroberung "kultureller Hegemonie".

Kultur und Moral des Feudaladels wurden als überkommen angegriffen und  ihnen eine neue bürgerliche Moral entgegengestellt. In der Literatur und dem Theater, den beiden Medien, die über die Grenzen der Kleinstaaten hinweg das sich zur gesamtdeutschen Klasse entwickelnde  Bürgertum erreichten, wurde diese neue Moral propagiert und auch kritisch überprüft.[4]

 

 

3. Leistungsprinzip contra Tradition

 

Vor dem eben geschilderten Hintergrund des antifeudalen Emanzipationskampfes ist auch Lessings Werk zu verstehen. Die politische Macht des absolutistischen Adels beruhte auf den feudalgesellschaftlichen Prinzipien von "Blut", "Erbe" und "Schwert". Der Weg, auf dem die politische Macht vergeben wurde, war das blutsverwandtschaftliche Erbprinzip. Mit der an den Sohn weitervererbten Königskrone oder Fürstenwürde nahm der Sohn auch die gesellschaftliche Position des Vaters ein. Die Feudalgesellschaft war undurchlässig, der Aufstieg aus den Unterklassen nahezu unmöglich. Die Macht wurde im Rahmen der blutsverwandtschaftlichen Beziehungen vererbt, der Kreis der Machthaber exklusiv eingegrenzt durch Heiraten unter machtpolitischen Gesichtspunkten innerhalb der adeligen Cliquen. Die ökonomische Macht der Adelsgesellschaft lag im Besitz von Ländereien, die von den Vorfahren ererbt waren. Nach innen und außen wurde die Macht und der Reichtum mit Waffengewalt gehalten. Der Befehl über Söldner und Soldaten lag bei den Fürsten.

Gegen diese auf feudaler Tradition beruhende Adelsherrschaft standen die Werte und das Selbstverständnis des Bürgertums. Nicht die ererbte Leistung langverstorbener Urahnen war es, die dem Bürgertum gesellschaftlichen Einfluß sicherte, sondern die selbst erbrachte Leistung. Das Bürgertum hatte seinen Reichtum durch sein wirtschaftliches Engagement, seine Geschäftstüchtigkeit und seinen Arbeitseinsatz errungen. Einmal erlangtes Kapital galt es wieder einzusetzen und zu vermehren. Konnte sich der feudale Herrscher auf seiner ererbten Macht ausruhen, mußte der Bourgeois seine Stellung immer wieder neu beweisen. Nicht ein ererbter Titel, sondern letztendlich das Kapital sicherte die gesellschaftliche Position ab. Es ist das Leistungsprinzip, das bis heute den Kernbestandteil bürgerlicher Ideologie ausmacht.

Der Grundkonflikt zwischen der auf der erblichen Tradition beruhenden Adelsmacht und der durch Eigenleistung geschaffenen gesellschaftlichen Position ist häufig Bestandteil  des Dramas der Aufklärung. Auch im "Nathan" ist dieser gesellschaftliche Konflikt zwischen Bürgertum und Adel enthalten. Allerdings äußert sich dieser Konflikt nicht als offener Klassenkampf, sondern ist in der Familienproblematik enthalten. Daher soll hier kurz die Rolle der Familie und des Patriarchalismus skizziert werden.

 

 

4. Patriarchalismus und Familie

Der Patriarchalismus ist die auf der hausväterlichen Gewalt beruhende Organisations-und Herrschaftsform der antiken wie der christlich-abendländischen Gesellschaft. Im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung wandelte sich sowohl die Struktur der Familie, wie auch der Patriarchalismus. Bestimmend war dabei jeweils die sozio-ökonomische, rechtliche, politische und kulturelle Situation.[5] Konstantes Element ist dabei die hausväterliche Gewalt, die "patria potestas", die zwar ihre Herrschaftsmittel, nicht aber ihre Funktion verändert. So ist der in der bürgerlichen Gesellschaft vorherrschende und auch von Lessing porträtierte Familientyp die Kleinfamilie. Zentriert ist auch diese Familienform um den patriarchalen Hausvater.[6]

 Das Drama der Aufklärung lebt von der Konfrontation der "sentimentalen" familiären Sphäre mit der Außenwelt. Die glückliche und funktionierende Ordnung der Familie, im wesentlichen bestimmt durch den Familienvater, seine Kinder und die Bediensteten und in geringerem Maße durch die Ehefrau, wird durch äußere Einflüsse der Gesellschaft bedroht und aus dem Gleichgewicht gebracht. Es ist dann oft, so im Nathan, der Hausvater, der diese Störung der familiären Harmonie durch die feindlich anmutende Umwelt meistern und das Gefüge wiederherstellen muß. Der Patriarchalismus ist ein festgefügtes Wertesystem, das um die Autorität der Vaterfigur existiert. Dieses Wertesystem und damit die geordnete Familie gerät immer dann in Unordnung, wenn entweder ein Familienmitglied den Gehorsam gegen den Hausvater aufkündet, oder eben äußere Einflüsse und neue Autoritäten das familiäre Ordnungsgefüge in Bedrängnis bringen. Der letztere Fall ist beim "Nathan" gegeben. Der Störenfried der Vater-Tochter-Familie ist der Tempelherr, der mit dem christlichen Patriarchen und Saladin neue Autoritäten auf den Plan ruft, gegen die sich Nathan in seiner Position beweisen muß.  Es gelingt im "Nathan" dem Hauptakteur Nathan durch seine Klugheit und sein zwischenmenschliches Engagement, nicht nur die gestörte familiäre Harmonie wieder herzustellen, sondern vielmehr diese Familie auch noch um die weiteren Hauptfiguren des Stückes zu erweitern.[7]

Es ist wichtig, den Doppelcharakter des Patriarchalismus zu erkennen, wie Soerensen ausführt: "Der Patriarchalismus wird in seinem Wesen verkannt, wenn er nur als eine Form der Herrschaft aufgefaßt wird. Mit dem Herrschaftsanspruch des Vaters unlöslich verbunden war die Pflicht der Fürsorge und des Schutzes für die Hausangehörigen. ... Die Autoritätsordnung soll egaliter im Dienste der Familie stehen. Von hier aus gewinnt die Machtposition des Hausvaters ihre moralische Legitimierung, denn Schutz und Sicherheit kann nur gewähren, wer Macht hat. Der doppelten Funktion der patriarchalischen Vaterrolle entsprechend wurde vom Hausvater erwartet, daß er sein Amt nicht nur mit Ernst und Strenge, sondern auch mit Milde und Liebe ausübte, und so stand seit der Antike neben dem Bild des strafenden und zürnenden Vaterherrschers gleichwertig und unentbehrlich das Bild des gütigen und liebenden Vaters."[8]  Während der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts verschiebt sich das Gewicht zwischen den Polen "Furcht" und "Liebe". War trotz aller Schutzfunktion bisher die strafende Autorität die Hauptlinie des Patriarchalismus, so steht mehr und mehr der sentimentale, liebende  vor dem strafenden Vater. Die "Emotionalisierung" des Patriarchalismus führt dazu, daß um 1800 die Gefühle "Furcht" und "Liebe" sich häufig unvereinbar gegenüberstehen.[9] Die hausväterliche Herrschaft beruht nicht mehr auf Gewalt und Strafe, sondern auf der freiwilligen, vernunftgegebenen Unterordnung unter den Vater. Die Autorität als Familienoberhaupt kann der Vater nicht mehr einfach mit dem Recht auf Züchtigung durchsetzen, sondern er muß seine Autorität durch rationale Erziehung und Liebe zu den Kindern erst erkämpfen und immer wieder von neuem beweisen. "Hier zeichnet sich aber im Vernunftrecht der Aufklärung ein zukunftweisender Wandel ab: aus den Herrschaftsverbänden, zentriert um den "pater familias" als Herrschaftsträger, geht die Familie als Vertragsgesellschaft hervor. Unterwerfung beruht demnach nicht mehr auf religiös-institutionellen Vorgegebenheiten, sondern auf dem Willen von Vertragschließenden, die ihre freie Einsicht in die Sachnotwendigkeit von Herrschaft bekunden."[10] Zur Zeit der Entstehung des "Nathan" war dieser Wandel bereits in einem fortgeschrittenen Stadium. Die Autoritätsträger im Drama, in erster Linie Nathan, aber auch Saladin und der Tempelherr, spiegeln diese Entwicklung in ihren Wertvorstellungen.

 

Der "Nathan" ist dennoch kein Familienstück, wie Sorensen ausführt: "Nun wäre es sicherlich verfehlt, wenn man die Familie als den eigentlichen Gegenstand und das Ziel von Lessings Drama betrachten wollte. Die familiären Beziehungen werden vielmehr - wie oft hervorgehoben - als ein Modell benutzt, das für die zwischenmenschlichen Beziehungen überhaupt eine ideale Gültigkeit beansprucht. Indem die sittlich-emotionale Komponente dabei verabsolutiert und zum konstituierenden Element der familiären Beziehungen schlechthin erhoben wird, erfährt die Familie als konkretes biosoziales Phänomen zugleich eine Verklärung und eine Relativierung."[11] So muß auch die Bedeutung der Vaterautorität in einem breiteren gesellschaftlichen und politischen Rahmen verstanden werden.

 

 

6. Die "Ringparabel"

 

Die "Ringparabel", jenes "Märchen"[nb1] , das Nathan dem Sultan Saladin erzählt, um auf die Frage nach der wahren Religion zu antworten, stellt den Kern des dramatischen Gedichtes da. Die Postulate der Aufklärung nach allgemeiner Menschenliebe und Toleranz werden deutlich formuliert. Doch die Ringparabel enthält neben diesen Grundaussagen der Aufklärung auch den Kern der Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft: das Leistungsprinzip in der Konkurrenzgesellschaft.

Die Ringparabel handelt von einem Opal-Ring,

"Und der hatte die geheime Kraft, vor Gott

 Und Menschen angenehm zu machen, wer

 In dieser Zuversicht ihn trug." (III, 399-401)

 Der Besitzer dieses Ringes traf die Verfügung, "Auf ewig ihn bei seinem Hause zu Erhalten". Der Vater, der den Ring zuerst trug,

"ließ den Ring

 Von seinen Söhnen dem geliebtesten;

 Und setzte fest, daß dieser wiederum

 Den Ring von seinen Söhnen dem vermache,

 Der ihm der liebste sei; und stets der liebste,

 Ohn` Ansehn der Geburt, in Kraft allein

 Des Rings, das Haupt, der Fürst des Hauses werde." (III, 405-411)

Das Prinzip, das hier vorgestellt wird, ist im Wesentlichen der feudaladelige Weg der Machtübergabe. Die gesellschaftliche Position des Vaters als "Fürst des Hauses" wird in blutsverwandtschaftlicher Weise auf den Sohn vererbt. Der jeweilige Ringträger hat als Vater die unumschränkte Autorität, seinen Sohn zum neuen Fürsten zu machen und ihm seine Autorität zu vererben. Allein das Symbol des Ringes gibt seinem Träger Autorität und gesellschaftliche Macht. Der Ring entspricht so den Königs-oder Fürsteninsignien, die von Herrscher zu Herrscher vererbt werden.

 Allerdings hatte der Ring seine "Wundergabe" nur bei demjenigen, "wer / In dieser Zuversicht ihn trug." Es war letztendlich also genausowenig eine übersinnliche Macht in dem Ring wie in der Königskrone. Die Autorität des Ringes, wie der Krone, leitete sich aus dem Glauben der Untergebenen ebenso ab, wie aus der "Zuversicht" des Trägers, der dabei auf den Gehorsam der Untergebenen vertrauen mußte. Der Ring wird so zum Symbol der Autorität, solange er von den gesellschaftlichen Konventionen akzeptiert ist.

 Nicht direkt dem feudalen Prinzip entspricht die Forderung, den Ring an den Lieblingssohn und nicht an den ältesten Sohn zu übergeben, doch stellt dies keine große Differenz zum tatsächlichen Erbprinzip dar, denn bindend ist das blutsverwandtschaftliche Erbprinzip und die Forderung, den Ring, also die Macht, in der Familie zu behalten.

Bezeichnend ist, wie die Söhne die Liebe ihres Vaters erringen. Die gehorsame Unterwerfung der Söhne ist es, die vom Vater als Voraussetzung für die Liebe und den Ring erwartet werden.

"So kam nun dieser Ring, von Sohn zu Sohn,

 Auf einen Vater endlich von drei Söhnen;

 Die alle drei ihm gleich gehorsam waren,

 Die alle drei er folglich gleich zu lieben

 Sich nicht entbehren konnte." (III, 414-417)

 Es zeigt sich, daß die väterliche Liebe noch nicht die Liebe als Herrschaftsform ist, zu der der Patriarchalismus sich im späten 18.Jahrhundert transformierte. Denn vor der väterlichen Liebe steht erst der Gehorsam der Söhne, motiviert durch die Furcht vor dem Vater und den Wunsch, mit dem Ring belohnt zu werden. Hier handelt es sich um eine patriarchale Liebe, die eher eine Anerkennung der Unterwerfung der Söhne darstellt.

 

Zum Bruch des feudalen Prinzips kommt es, als ein Vater drei Söhne hat, die er alle gleich liebt und denen er allen den Ring und die damit verbundene Macht versprochen hat. Einen Ausweg aus seiner Zwangslage schafft er mit zwei weiteren Ringen, die identische Kopien des echten Rings sind. So bekommt kurz vor dem Tod des Vaters jeder der Söhne einen Ring überreicht, den er für das Original hält. Nach dem Tod des Vaters streiten die Söhne um die mit dem Ring verbundene Fürstenwürde und treten zur Klärung vor einen Richter. Wirkte der Ring bisher nach außen - er machte "vor Gott und den Menschen" beliebt, so wirkt jetzt jeder der einzelnen Ringe nur noch nach "innen", jeder der Brüder liebt sich selber am meisten. Hier findet nun der Bruch mit den feudalistischen Prinzipien statt, der neue bürgerliche und egoistische Mensch ist erschienen. Dem trägt auch der Rat des Richters Rechnung:

"Es eifre jeder seiner unbestochnen

 Von Vorurteilen freien Liebe nach!

 Es strebe von euch jeder um die Wette,

 Die Kraft des Steins in seinem Ring` an Tag

 Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut,

 Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,

 Mit innigster Ergebenheit in Gott,

 Zu Hülf`! Und wenn sich dann der Steine Kräfte

 Bei euern Kindes-Kindeskindern äußern:

 So lad` ich über tausend Jahre,

 Sie wiederum vor diesen Stuhl." (III, 525-535)

Hier findet nun die totale Umwertung des alten Prinzips statt. Die objektivistische Magie des Ringzaubers wird entwertet und durch die subjektive Eigenverantwortung der Menschen ersetzt. Es vererbt sich mit dem Ring nicht mehr automatisch Stellung und Autorität des Vaters auf den Sohn, vielmehr müssen die Söhne mit eigener Anstrengung ihre Stellung erkämpfen. Statt der vormals klaren Hierarchie des Ringträgers als Fürst über die anderen Geschwister, die den Ring nicht bekamen, ihrem Vater also weniger bedeuteten, müssen die Brüder nun in den gegenseitigen Konkurrenzkampf treten. Das Zeitalter des Leistungsprinzips ist angebrochen. Die Väter als Ringbesitzer vererben nun nicht mehr die Macht mit dem Ring, sondern sie bieten symbolisch mit dem Ring ihren Nachfahren die Möglichkeit und den Anreiz zur eigenen Initiative. Die Tat muß den Gesinnungsnachweis liefern und nicht mehr Abstammung und Herrscherinsignien. Autorität muß erarbeitet werden und läßt sich nicht mehr vererben.

 

Denis Jonnes sieht in der Ringparabel sogar einen viel weitergehenden Aufbruch der alten Strukturen: "It is this view of the relationship between `abstraction' and `divisiveness' which, in a curious way, emerges in the Parable of the Rings. ... The distribution of the three rings, while demonstrating the father´s love and sense of justice, also destroys the order-preserving structure of authority which had been predicated upon the idea of a single master or, in the terms of the parable, a single truth. ... An act of love is transformed into a source of conflict, but precisely, the logic of the parable argues, because love, in addressing an abstract generality (a group) rather than a concrete individual, subverts the possibility of personal attachment, hence of the genuine social cohesiveness. By violating the tradition of the single ring and single truth, the father has introduced an element of uncertainty which results not in reconciliation but in subsequent conflict between the sons."[12] 

Indem der Vater die - auf die Gesellschaft übertragen feudale - Ordnung des einen, durch seine Insignien ausgezeichneten Herrschers zerstört, werden zwar die Nachkommen von der "Tyrannei des einen Rings" befreit. Doch diese neue Freiheit, die Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft, ist die Freiheit des Leistungsprinzips und der Konkurrenz, des Kampfes aller gegen alle. Unter der "Tyrannei des einen Rings" herrschte eine festgefügte soziale Ordnung, die auch die Söhne, die den Ring nicht erlangten, nicht anzuzweifeln wagten. Nun ist die Zukunft offen, die "Kindes-Kindeskinder" noch werden um die Kraft des Steines, also des eigenen, auf persönlicher Leistung aufbauenden Erfolgs, wetteifern müssen.

Im konkreten Fall Nathans bedeutet dies den Kampf um die Anerkennung seiner Vaterschaft über Recha, einer Vaterschaft, die er durch eigene Leistung erworben hat, und die nicht auf Blutsbanden basiert. Nathan wird die "Tyrannei des einen Ringes", die für ihn die Tyrannei des einen biologischen Vaters ist, beenden müssen. Hier liegt die nicht-theologische Aussage der Ringparabel.

 

 

7. Nathan der Vater und Bürger

 

Nathan verkörpert auf mehrfache Weise die neue bürgerliche Identität der durch Eigenleistung erworbenen Autorität. Obwohl Angehöriger des bei Christen und Muslimen oftmals verachteten Judentums, gelingt es Nathan, sich vollste Achtung in der Gesellschaft zu erarbeiten. Beurteilen die Menschen Nathan zuerst nach seiner "Rolle" als "Jude", so erwirbt er sich mit seiner Weisheit, bestehend aus Menschenkenntnis, pädagogischem Verständnis und Rhetorik, schnell Vertrauen und Hochachtung. Lautet die Anrede des Tempelherren bei der ersten Begegnung mit Nathan noch "Was, Jude? was?"(II, 415) so gelangt er trotz anfänglicher Vorurteile zu der Erkenntnis: "Nathan, ja; / Wir müssen, müssen Freunde werden."(II, 532) Auch bei Saladin wird unter dem Eindruck der Ringparabel die Figur "Jude" zum Menschen "Nathan"(II, 260-664).

"Nathan der Weise" wird mehrfach als "Nathan der Reiche" betitelt oder beschrieben. Nathans Erfolg als Geschäftsmann liefert zuerst die Basis für seine Weisheit und Menschenkenntnis, die er auf seinen Handelsfahrten erworben hat, seine Güte anderen Menschen gegenüber, die auch wesentlich durch seine wirtschaftliche Überlegenheit bestimmt ist,  und seinen gesellschaftlichen Erfolg. In seinem Aufsatz "Nathan der Bürger"[13] führt Paul Hernadi aus: "Gewiß steht uns auch Nathan als mildherzig-wohltätiger Mensch vor Augen. Der positive Wertakzent liegt bei Lessing jedoch auf dem Bürger, der geben kann, weil er stets aufs neue klug und emsig erwirbt. Was für Saladin prinzipiell `der Kleinigkeiten kleinste` ist, `das leidige, verwünschte Geld`(III, 4; II, i), gilt dem Bürger Nathan als wichtiges, ernstzunehmendes Mittel." Belohnungen für die Rettung Rechas aus den Flammen, ebenso wie die Bestechung Dajas für ihr Schweigen über Rechas Herkunft, sollen grundsätzlich in Geld oder materiellen Gütern erfolgen. Auch Nathans Menschenkenntnis, seine Weisheit resultiert aus seinen geschäftlichen Erfahrungen und Reisen.[14]

Schon in der ersten Szene des ersten Auftrittes wird uns noch vor Nathan dem Vater Nathan der Kaufmann vorgestellt. Ein Kaufmann, dem in erster Linie sein Geschäft wichtig ist:

"Ja, Daja; Gott sei Dank! Doch warum endlich?

 Hab`ich denn eher wiederkommen wollen?

 Und wiederkommen können? Babylon

 Ist von Jerusalem, wie ich den Weg,

 Seitab bald rechts, bald links, zu nehmen bin

 Genötigt worden, gut zweihundert Meilen;

 Und Schulden einkassieren, ist gewiß

 Auch kein Geschäft, das merklich fördert, das

 So von der Hand sich schlagen läßt." (I, 3-11)

Obwohl Nathan uns wenige Zeilen später als liebender Vater seiner Adoptivtochter Recha vorgeführt wird, sind doch seine Gedanken trotz langer Absenz von zu Hause bei seiner Ankunft noch beim Geschäft, bei Schuldeneintreiben und Profit. Baut also Nathans gesellschaftliche Autorität und Identität auf seiner Existenz als erfolgreicher Bourgeois auf,  so muß hier auch seine Rolle als Familienvater im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Werte verstanden werden.

 

Die Vaterschaft Nathans wird von Anfang an durch ein Unheil überschattet. Der Leser erfährt später, daß Nathan nicht der biologische Vater Rechas ist, sondern sie als Baby adoptiert hat. Was an sich kein Frevel ist, wird aber nach damaligem religiösen Verständnis zum Schwerverbrechen. Recha ist als Tochter christlicher Eltern geboren und ihr neuer Vater Nathan ist gebürtiger Jude. Der Konflikt, den Nathan auszutragen hat, ist der Kampf um die Anerkennung der "pädagogischen Vaterschaft"[15] als der entscheidenden Vaterschaft gegenüber der Blutsverwandtschaft. Es gilt für Nathan das Prinzip der "abstrakten", auf rationalem Verständnis beruhenden Verwandtschaft gesellschaftsfähig zu machen.

 

 

8. Die Erziehung als Leistung

 

In der Philosophie der Aufklärung rankt sich ein wichtiger Diskurs um die Rolle der Erziehung im Gegensatz zur Biologie in der Herausbildung des Menschen als Menschen. Der Philosoph Rousseau sah es noch als einen Akt der Gewalt an, die "Stimme der Natur", also die angeblich durch das Blut überlieferten Eigenschaften eines Menschen durch die Erziehung, die "Stimme der Kultur" zu verzerren.[16] In der Aufklärung weicht die Betonung des Biologischen zu Gunsten der Erziehung als eigentlich den Menschen prägendes Merkmal. Die Erziehung wird zuletzt sogar als die einzige Quelle des Menschwerdens anerkannt. "Sie sei kein Zwang, der den Kindern angetan werde, sondern der eigentliche Akt der Zeugung, der sie aus der biologischen in die moralische Existenz überführe und damit erst für andere begehrenswert mache."[17]

Es ist der Klosterbruder, der als Vertreter eines auf natürlicher Religiosität begründeten Urchristentums jenseits von allem Dogmatismus die Wichtigkeit der Erziehung betont. So hatte er, um Recha als Baby zu retten, sie dem Juden Nathan gegeben, obwohl er über ihre christliche Herkunft wußte. Um ihr die für die "moralische Existenz" notwendige väterliche Liebe und Erziehung zu garantieren, war er zu diesem durch die Religion verbotenen Schritt bereit. Im Vordergrund stehen für den Klosterbruder die tatsächlichen christlichen Werte der allgemeinen Menschenliebe, ungeachtet der Herkunft und des Glaubens. Er begründet so auch Nathan gegenüber seine Tat:

"Trauet mir, Nathan!

Denn seht, ich denke so! Wenn an das gute,

Das ich zu tun vermeine, gar zu nah

Was gar zu Schlimmes grenzt: so tu`ich lieber

Das gute nicht; weil wir das Schlimme zwar

So zuverlässig kennen, aber

Bei weitem nicht das Gute.- War ja wohl

Natürlich; wenn das Christentöchterchen

Recht gut von Euch erzogen werden sollte: Daß Ihr`s als Euer eigen Töchterchen

Erzögt. - Das hättet Ihr mit aller Lieb`

Und Treue nun getan, und müßtet so

Belohnet werden? Das will mir nicht ein. Ei freilich, klüger hättet Ihr getan;

Wenn ihr die Christin durch die zweite Hand

Als Christin auferziehen lassen: aber

 So hättet Ihr das Kindchen Eures Freunds

 Auch nicht geliebt. Und Kinder brauchen Liebe,

 Wär`s eines wilden Tiers Liebe auch nur,

 In solchen Jahren mehr, als Christentum." (IV, 618-637)

Nathan erzieht dann Recha auch nicht als Jüdin oder Christin, sondern vermittelt ihr die allen großen Weltreligionen innewohnenden Prinzipien von Menschenliebe und Toleranz. Nathan hat sie konfessionslos erzogen und

"Das Mädchen nicht sowohl in seinem, als

 Vielmehr in keinem Glauben auferzogen,

 Und sie von Gott nicht mehr und nicht weniger

 Gelehrt, als der Vernunft genügt" (III, 177-197)

So drängt Nathan mit dem Vernunftprinzip auf Rechas Rationalismus, als sie in ihrem Retter, dem Tempelherren, einen übernatürlichen Engel sehen will:

 "Macht dann

 Der süße Wahn der süßeren Wahrheit Platz: -

 Denn, Daja, glaube mir; dem Menschen ist

 Ein Mensch noch immer lieber, als ein Engel -" (I, 163-165)

Hier zeigt Nathan, daß die von ihm in der Erziehung vermittelten Werte den Menschen, das Diesseits und die Rationalität zum Zentrum haben. Es sind aber konkrete Werte, die Nathan vermitteln will und nicht abstrakte Regeln. So muß Recha zugeben, daß sie bei Nathan nicht lesen gelernt hat, denn:

"Im ganzen  Ernst. Mein Vater liebt

 Die kalte Buchgelehrsamkeit, die sich

 Mit toten Zeichen ins Gehirn nur drückt,

 Zu wenig." (V, 383-384)

Nathan, der seine Weisheit vor allem durch seine Lebenserfahrung und seine Geschäftsreisen erlangt hat, möchte diese Erfahrungen und nicht die in der damaligen Zeit sicherlich meist religiös-dogmatisch verbrämten Buchweisheiten weitergeben. Lieber vermittelt er Recha gezielt seine Erfahrungen zu nachvollziehbaren Gelegenheiten. Sittah erkennt auch den Sinn dieser Erziehung:

"So hängt

 sich freilich alles besser an. So lernt

 Mit eins die ganze Seele." (V, 389-391)

Genau diese ganzheitliche Form der Wissensvermittlung ist es, die Nathan in seiner Erziehung bevorzugt.

 

Nathan ist sich durchaus bewußt, daß es die Erziehung ist, die den Menschen erst zum Menschen macht. Daraus leitet er seinen moralischen Eigentumsanspruch auf Recha ab. Auf die provokative Frage Dajas, ob er alles, was er besitzt, mit ebensoviel Recht das seine nennt, wie Recha, entgegnet er:

"Nichts mit größerm! Alles, was

 Ich sonst besitze, hat Natur und Glück

 Mir zugeteilt. Dies Eigentum allein

 Dank` ich der Tugend." (I, 34-36)

Nathan stellt hier seinen materiellen, durch Handelsgeschäfte erworbenen Reichtum Recha gegenüber. Während er verharmlosend seine Geschicklichkeit im Geschäft "Natur und Glück" zuschreibt, erkennt er in der Adoptivtochter sein eigenes Werk wieder.

Es geht Nathan allerdings nicht darum, am Prinzip der Blutsverwandtschaft an sich zu rütteln. Er anerkennt in der biologischen Vaterschaft einen juristischen Rechtsanspruch, den er auch nicht angreifen will:

"Wer

 Auf sie (Recha) nicht größre Rechte hat, als Ich;

 Muß frühre zum mindesten haben -

 ... die ihm Natur und Blut ertheilen." (IV, 704-706)

In seinem Einzelfall will er das moralische Recht, Rechas Vaterautorität darzustellen, in der Öffentlichkeit und vor dem Sultan erlangen, nicht jedoch die bisherigen gültigen Prinzipien umstürzen. Als er die Probleme erkennt, die seine Vaterschaft als Jude über eine Christin in der öffentlichen Meinung auslöst, überlegt er:

"Ich bliebe Rechas Vater

 Doch gar zu gern! - Zwar kann ich`s denn nicht bleiben,

 Auch wenn ich aufhör`, es zu heißen? - Ihr,

 Ihr selbst werd` ich`s doch immer auch noch heißen,

 Wenn sie erkennt, wie gern ich`s wäre." (IV, 135-138)

So ist es für Nathan nicht der formale Vatertitel, den er erstrebt, sondern die tatsächliche Vaterautorität. Er möchte weiter für Recha der Vater mit seiner Fürsorgeaufgabe, wie mit seiner Erziehungsfunktion sein.

 

 

9. Recha

 

So muß primär auch nicht bei der Gesellschaft die Akzeptanz für Nathans Handeln gefunden werden, den Beweis für den Erfolg von Nathans Vaterautorität muß letztlich die Adoptivtochter Recha liefern. Und Recha sieht, auch als sie über ihre Herkunft informiert wird, in Nahtan den Vater. So fleht sie den Sultan Saladin an:

"Nicht mehr, nicht weniger,

 Als meinen Vater mir zu lassen; und

Mich ihm!" (V, 499-500)

Recha vertritt ihr Recht auf eine selbstgewählte Familienbeziehung, die nicht durch Blut und Erbe eingeschränkt ist. Ihr Vater ist derjenige, der seinem Vaterauftrag mit der Erziehung nachkam und nicht der bloße biologische Schöpfer. In Nathans aufklärerischem Geist erzogen kann sich Recha auch nicht von den religiösen Verboten einschränken lassen. Sie fühlt sich keiner Religion zugehörig, sondern Nathan, dessen Werte sie übernommen hat.

Verzweifelt fragt Recha:

"Aber macht denn nur Blut

 Den Vater? nur das Blut?" (V, 502-503)

Und Sittah wird angefleht:

"Nein; meine Freundin, meine Schwester

Gibt das nicht zu! Gibt nimmer zu, daß mir

Ein andrer Vater aufgedrungen werde!" (V, 417-418)

Recha weiß, daß sie ihre Existenz als Mensch, das heißt als ein mit Bildung und Erziehung versehenes Individuum, Nathan verdankt. Diese Erkenntnis hat sie gewonnen, auch, wenn sie noch nicht weiß, daß sie tatsächlich ihr Leben Nathan verdankte, da Nathan das elternlose Kind als Baby zu sich genommen hatte.

Nathan herrscht zweifellos als patriarchaler Vater über Recha. Doch verkörpert er das gewandelte Ideal eines Patriarchalismus, der auf Zuneigung und Liebe statt Strafe und Furcht baut. In seinem Drängen auf eine rationale Sicht der Dinge, letztlich auch eine rationale Menschenliebe, setzt Nathan vielmehr auf die freiwillige, aus der Vernunft entspringende Unterordnung unter den Vater. Recha muß die pädagogische Leistung Nathans anerkennen und sich ihm freiwillig unterwerfen. Ein "aufgeklärter Patriarchalismus" ist das Herrschaftsmodell der von Nathan verkörperten "neuen Vaterautorität". Selbst als Recha durch Daja erfährt, daß Nathan nicht ihr biologischer Vater ist, nimmt dies in ihren Augen nichts von seiner Autorität. Denn die Vaterautorität entspringt für Recha eben nicht aus biologischen Ansprüchen, sondern muß durch die Tat als Gesinnungsnachweis bewiesen werden. Recha gegenüber hat Nathan mit seiner Erziehung und Fürsorge diesen Gesinnungsnachweis gebracht. Nun muß er ihn auch gegenüber den anderen Personen des Stückes durchsetzen.

 

 

10. Der Tempelherr

 

Der Tempelherr stellt eine der Figuren im Stück dar, die ihre Haltung zur Frage der Blutsverwandtschaft unter dem Eindruck der Ereignisse ändern. Bei seiner ersten Begegnung mit Nathan erscheint der Tempelherr als ein schematisch denkender Mensch. Nathan ist für ihn nur durch seine religiöse Abstammung definiert als der "Jude". Sein "Jud`ist Jude" (I, 777) soll ausdrücken, daß für ihn der Jude ein feststehender Typus mit festumschriebenen, für ihn im wesentlichen negativ erscheinenden Eigenschaften ist. Nach dem gleichen Rollendenken stellt er allerdings auch sich selbst dar. Auch er möchte nicht als "Mensch" erscheinen, sondern als Vertreter einer Rolle, die sich durch seine Zugehörigkeit zur christlichen Religion und zum Tempelritterorden definiert. So negiert er die von Nathan angenommene ethische Motivation bei der Rettung Rechas aus dem brennenden Haus. Der Tempelherr leugnet seine eigenen menschlichen Motive und schiebt die Rettungsaktion lediglich seiner Rolle als Ritter zu:

"Es ist der Tempelherren Pflicht, dem Ersten

 Dem Besten beyzuspringen, dessen Noth

 Sie sehn. Mein Leben war mir ohnedem

 In diesem Augenblicke lästig. Gern,

 Sehr gern ergriff ich die Gelegenheit,

 Es für ein andres Leben in die Schanze

 Zu schlagen: für ein andres - wenns auch nur

 Das Leben einer Jüdin wäre." (II, 426-433)

Es war also für den Tempelritter nur die eigene begrenzte  und nicht die allgemeine Liebe zum Menschen, die ihn handeln ließ. Und selbst diese Standesethik, der ja eine christliche Motivation der Nächstenliebe zugrundeliegt,  wird durch das rein egoistische Motiv des eigenen Lebensüberdrusses noch in Frage gestellt.[18] Auch Daja (I, 766-769) und Saladin (IV, 346-350) gegenüber vertritt er diesen Standpunkt und beweist damit, daß es sich eben nicht nur um einen Abwehrreflex gegen die Dankbarkeit Nathans handelt, sondern um einen durchgehenden Charakterzug.

 

Nachdem der Tempelherr auf Nathans Drängen mit Recha zusammentrifft, verliebt er sich in das Mädchen. Hatte schon die Begegnung mit Nathan seine bisherige Denkweise über den Haufen geworfen und hatte er gelernt, Nathan als Menschen und Freund anstatt nur als den Juden zu sehen, so hat die Begegnung mit Recha abermals einen Wandlungsprozeß in dem Tempelritter ausgelöst. Von Selbstzweifeln geplagt monologisiert er:

"Sie sehn,

 Die ich zu sehn so wenig lüstern war, -

 Sie sehn, und der Entschluß, sie wieder aus

 Den Augen nie zu lassen - Was Entschluß?

 Entschluß ist Vorsatz, Tat: und ich , ich litt`,

 Ich litte bloß.- Sie sehn, und das Gefühl,

 An sie verstrickt, in sie verwebt zu sein,

 War eins.- bleibt eins. - Von ihr getrennt

 Zu leben, ist mir ganz undenkbar; wär`

 Mein Tod, - und wo mir immer nach dem Tode

 Noch sind, auch da mein Tod. - Ist das nun Liebe:

So - liebt der Tempelritter freilich, - liebt

 Der Christ das Judenmädchen freilich.-Hm!" ( III, 603-615)

Um sich die Liebe einzugestehen, ohne darin einen schwerwiegenden Verstoß gegen die theologischen Gebote zu sehen, schließlich liebte ein Christ eine scheinbare Jüdin, ist der Tempelherr bereit, seine alte Identität als christlicher Ritter abzulegen. So sieht er im Begnadigungsakt durch den Sultan Saladin seine Wiedergeburt als neuer Mensch:

"Was will mein Orden auch? Ich Tempelherr

 Bin tot, war von dem Augenblick ihm tot,

 Der mich zu Saladins Gefangenen machte.

 Der Kopf, den Saladin mir schenkte, wär`

 Mein alter? - Ist ein neuer; der von allem

 Nichts weiß, was jenem eingeplaudert ward,

 Was jenen band."  (III, 619-625)

Der Tempelherr hat das Rollendenken nicht hinter sich gelassen, vielmehr erleichtert ihm diese formalistische Denkweise, einfach eine alte, durch die Umstände störende Rolle abzuwerfen. So kann er die religiösen Dogmen zumindestens für den Augenblick als für sich ungültig erklären.

Nun tritt der Tempelherr Nathan in der Absicht gegenüber, von ihm die Hand Rechas versprochen zu bekommen. Die Anrede und die mit ihr verbundene persönliche Beziehung, die sich schon vom "Jude" der ersten Begegnung zum vertrauten "Nathan" gewandelt hat, erfährt nun abermals eine vertrauliche Steigerung, als der Tempelherr Nathan um den Hals fällt und ihn "Mein Vater!" nennt. Mit dieser vertraulichen Anrede verbindet der Ritter auch die erhoffte Funktion Nathans als "Schwiegervater". Doch Nathan, der die Verwandtschaft des Ritters mit Recha erahnt und daher einer Hochzeit nicht zustimmen will, muß die Anrede als "Vater" zurückweisen. Er nennt den Templer nicht in der erhofften Weise "Sohn", sondern weicht auf das absolut unverbindliche und unpersönliche "Lieber junger Mann!"aus. Auch auf das weitere Drängen "Nicht Sohn - Ich bitt`Euch, Nathan! - Ich beschwör' / Euch bei den ersten Banden der Natur!"wehrt Nathan ab. Der Titel "Sohn", der in der gegebenen Situation die Funktion "Schwiegersohn" beinhaltet hätte, bleibt dem Templer verweigert zugunsten eines nichtssagenden "Lieber, lieber Freund!..."oder "junger Ritter". (III, 662-674)

Der Tempelritter, der natürlich nichts von Nathans Vermutungen bezüglich der Verwandtschaft mit Recha weiß und in Nathans Erkundigungen über seine Ahnen nichts als schickanöse Neugier erblickt, zweifelt abermals an den Chancen seiner Liebe. Daja gegenüber redet er vom "Unsinn" dieser Liebe:

"Weil er (der Unsinn) sich von selbst versteht? -

 Ein Tempelherr ein Judenmädchen lieben!..." (III, 762)

In seiner Wut über Nathans Ablehnung einer Ehe verfällt der Tempelherr einem gedanklichen "Roussoismus", als er von Daja über Rechas christliche Herkunft aufgeklärt wird:

"Nathan - Wie? -

 Der weise gute Nathan hätte sich

 Erlaubt, die Stimme der Natur so zu

 Verfälschen? - die Ergießung eines Herzens

 So zu verlenken, die sich selbst gelassen,

 Ganz andre Wege nehmen würde?"(III, 842-846)

Er, der selber noch kurz zuvor bereit war, gegen die religiösen Verbote, letztlich auch gegen die "Stimme der Natur" zu verstoßen, um das scheinbare Judenmädchen zu heiraten, sieht nun Gewalt in Nathans Tat. Seine Wut über Nathans ablehnende und in seinen Augen auch noch demütigende Haltung hat seine alte Denkweise wieder dermaßen gefestigt, daß er sogar zum Verrat beim Patriarchen von Jerusalem bereit ist. Bisher hatte der Tempelritter jegliche Dienste für diesen Hüter der christlichen Orthodoxie zurückgewiesen. Steht der Klosterbruder für ein freiheitliches Urchristentum der Mönche und der Tempelherr für einen wandlungsfähigen christlichen Glauben, so verkörpert der Patriarch die christliche Religion in ihrer dogmatischen und verknöchertsten Form. Der Tempelherr schildert dem Patriarchen den Fall, allerdings ohne Nathans Namen zu nennen. Doch schon diese Beschreibung der Tat Nathans ist nicht mehr wertneutral oder gar negativ, sondern läßt Nathan in positivem Licht dastehen:

"Gesetzt, ehrwürd`ger Vater,

Ein Jude hätt`ein einzig Kind, - es sei

Ein Mädchen, - das er mit größter Sorgfalt

Zu allem Guten auferzogen, das

Er liebe mehr als seine Seele, das

 Ihn wieder mit der frömmsten Liebe liebe." (IV, 117-121)

Die vorgegangene Wut über Nathan, der Vorwurf der "Verfälschung der Stimme der Natur" ist nicht mehr rauszuhören. Stattdessen betont der Tempelherr nun im Angesicht des christlichen Dogmatikers, der nur abstrakt die Apostasie ungeachtet ihres Motivs und Hintergrunds beurteilt, die subjektiven Seiten des Falls. Er anerkennt nun Nathans Erziehungsleistung und, was entscheidend ist, er gesteht zu, daß Recha ihren Vater "wieder mit der frömmsten Liebe liebe". Auch gesteht er ein, daß Nathan seine Tochter religionslos "nicht sowohl in seinem als / Vielmehr in keinem Glauben auferzogen" (IV, 176-177) im Sinne der Vernunft. War der Templer gerade noch im Zorn über Nathan zum Patriarchen gekommen, muß er gegenüber dem monotonen "Tut nichts! Der Jude wird verbrannt" (IV, 178) immer mehr die Haltung des Verteidigers einnehmen und auch vor sich Nathans tatsächlichen Verdienst um Recha eingestehen.

In einem Monolog, den der Tempelherr  nach seinem Gespräch mit Saladin führt, während er auf Nathan wartet, konkretisiert er seine Gedanken:

"Freilich;

Kein kleiner Raub, ein solch Geschöpf! - Geschöpf?

Und wessen? - Doch des Sklaven nicht, der auf

Des Lebens öden Strand den Block geflößt,

Und sich davon gemacht? Des Künstlers doch

Wohl mehr, der in dem hingeworfnen Blocke

die göttliche Gestalt sich dachte, die

Er darstellt!" (V, 91-98)

In den Gedanken des Ritters erscheint nun Recha als ureigenes "Kunstprodukt" ihres Erziehers. Er greift damit die Idee des Menschen als ursprünglicher "tabula rasa" auf, die erst durch Erziehung und Bildung mit Leben gefüllt werden muß, um zur wirklichen Existenz als menschliches Individuum zu gelangen. Nicht der biologische Erzeuger, der ja nur den unbearbeiteten "Block hingeworfen" hat, steht so als der Schöpfer da, sondern derjenige, der gleichsam als Künstler diesem Block Leben in Form von Erziehung und Bildung beibringt.

Sorensen weist auf eine entscheidende Beobachtung hin: "Der bemerkenswerte Umschwung in den Auffassungen des Tempelherrn und auch Saladins und Sittahs, was die Rechtmäßigkeit der Vaterschaft Nathans betrifft, wird nicht durch Argumentation, noch durch einen theoretischen Diskurs hervorgerufen, sondern erfolgt unter dem unmittelbaren Eindruck vom menschlichen Wesen Rechas als dem Spiegelbild und dem Ergebnis von Nathans väterlicher Erziehung und Bildung. Als der Tempelherr sich auf die von ihm geliebte Individualität Rechas besinnt, erkennt er den ursächlichen Zusammenhang zwischen den "höhern Wert" Rechas einerseits, der sie von anderen Mädchen unterscheidet, und der väterlichen Erziehung andererseits."[nb2] [19]

Der Tempelritter erkennt nun, daß die Züge Rechas, die sie für ihn liebenswert machen, ohne Nathans Leistung nicht existieren würden:

"Wenn ich mir

Sie lediglich als Christendirne denke,

Sie sonder alles das mir denke, was

Allein ihr so ein Jude geben konnte:-

Sprich, Herz, - was wär`an ihr, das dir gefiel`?

Nichts! Wenig! Selbst ihr Lächeln, wär`es nichts

Als sanfte schöne Zuckung ihres Muskeln;

Wär`, was sie lächeln macht, des Reizes unwert,

In den es sich auf ihrem Mund kleidet:-

Nein; selbst ihr Lächeln nicht! Ich hab`es ja

Wohl schöner noch an Aberwitz, an Tand,

An Höhnerei, an Schmeichler und an Buhler,

Verschwenden sehn! - Hat`s da mich auch bezaubert?

Hat`s da mir auch den Wunsch entlockt, mein Leben

In seinem Sonnenscheine zu verflattern?-

Ich wüste nicht. Und bin auf den launisch,

Der diesen höhern Wert allein ihr gab?" (V, 100-116)

Nathan allein hat ihr also diesen "höhern Wert" gegeben, der Recha aus der Masse hebt und ihr Individualität verleiht. In der Wandlung der Auffassung des Tempelherren über Nathans Vaterrecht liegt eine bemerkenswerte Parallele zur Ringparabel. Nathan, der sowohl dem Sultan, als auch dem Tempelherren zuerst nur als der "Jude" erscheint und mehr oder weniger verachtet wird, gelingt es, kraft seiner eigenen Leistung eine Wandlung in der Haltung dieser Personen ihm gegenüber zu erreichen. Ganz im Sinne des Spruchs des weisen Richters aus der Ringparabel muß Nathan mit seiner eigenen Leistung seine Autorität beweisen und sich "beliebt" machen. Beide Male ist es sein Werk, mit dem er den mißtrauischen oder vorurteilsgeladenen Gesprächspartner für sich einnehmen kann. Mit seinem rhetorischen und geistigen Werk, der Ringparabel, gelingt es ihm, sich vor dem Sultan beliebt zu machen und mit seinem erzieherischen Werk, der einnehmenden Persönlichkeit Rechas, gelingt es ihm, den Tempelherren und später auch Sittah und Saladin von der Rechtmäßigkeit seiner pädagogischen Vaterschaft zu überzeugen.

Überzeugt vom Wesen Rechas gelangt der Tempelherr so zu der entscheidenden Erkenntnis:

"Ach! Rechas wahrer Vater

Bleibt, trotz dem Christen, der sie zeugte - bleibt

In Ewigkeit der Jude.-"(V, 98-100)

Diese Erkenntnis ist im Grunde für den Tempelherren notwendig, will er nicht seine Liebe zu Recha verleugnen müssen. Denn letztlich weiß er, daß er nur das Produkt von Nathans Erziehung liebt. "Dessen Vaterschaft zu bestreiten, hieße deshalb, das Fundament, auf dem seine Liebe gründet, zu ignorieren," so Saße.[20]  So ist es letztendlich ein durch die Liebe zu Recha ausgelöster Erfahrungsprozeß, der den Tempelherren vom anfänglichen formalistischen Rollendenken zu einer aufgeklärteren Denkweise verhilft, in der er vom "Menschen" als Mittelpunkt ausgeht und nicht mehr von dessen Rolle als Vertreter einer Religion. "Indem er sich selbstkritisch über die konfessionellen Vorurteile hinwegsetzt - den "Christen" in sich zugunsten des "Menschen" überwindet - gelangt er zu dem Ergebnis."[21] Nur so kann er vom Verständnis der biologischen Vaterautorität des Erzeugers zur pädagogischen Vaterautorität des Erziehers gelangen.

Später warnt der Tempelherr, dem vor kurzem noch die Adoption Rechas durch einen Juden als Gewalt erschien, davor, sie einem unbekannten christlichen Verwandten auszuliefern. Nun sieht er Gewalt vielmehr darin, Recha ihrem Lebenszusammenhang, dem Hause Nathans, zu entreißen und damit Nathans Erziehungswerk zu zerstören:

"Wird sie nicht

Die Christin spielen müssen, unter Christen?

Und wird sie was sie lange genug gespielt,

Nicht endlich werden? Wird den lauteren Weizen,

Den Ihr gesä`t, das Unkraut endlich nicht

Ersticken?" (V, 321-326)

Der Tempelherr ist im Stück diejenige Person, die sich am meisten wandelt. Vom abstrakten und vorurteilsgeladenen Rollendenken, das die Menschen nur als Vertreter ihrer Religion sah, wandelte er sich zu einem ganzheitlicheren Denken im Sinne einer allgemeinen Menschenliebe, ungeachtet von Religion, Beruf oder Stand. Vom Vertreter eines rein auf Blutsverwandtschaft beruhenden Familienbildes gelangte er durch die Erfahrung der Liebe zu Recha zu der aufklärerischen Erkenntnis, daß es die Erziehung und Bildung ist, die die Persönlichkeit des Menschen ausmacht und nicht das Blut.

 

 

11. Saladin und Sittah

 

Wenn auch Lessing das Theaterstück in die Zeit der Kreuzzüge verlegt hat, so symbolisieren der Sultan Saladin und seine Schwester Sittah das Ideal der aufgeklärt absolutistischen Fürsten. Saladin ist bereit, sich die Geschichte des Juden Nathan, die Ringparabel, anzuhören und ändert durch diese Erfahrung seine Haltung zu Nathan, den er nun zum Freund haben will. Auch gegenüber den anderen Religionen läßt Saladin Toleranz walten, nachdem er die Essenz der Ringparabel verinnerlicht hat. So äußert der Fürst gegenüber dem Tempelherren:

"Als Christ, als Muselmann: gleich viel!

Im weißen Mantel, oder Jamerlonk;

Im Tulban, oder deinem Filze: wie

Du willst! Gleich viel! Ich hab nie verlangt,

Daß allen Bäumen e i n e Rinde wachse." (IV, 306-310)

Dies entspricht dem aufgeklärten Herrscher, der, obwohl mit absoluter Macht herrschend, dennoch die Freiheit der Andersdenkenden zuläßt.

In seiner Haltung zur Blutsverwandtschaft und zur Vaterautorität findet auch bei Saladin eine Wandlung statt, die jedoch nicht so weitgehend ist, wie beim Tempelherren. Schon zu Anfang, vor seinem ersten Auftritt im Stück lernen wir Saladin als einen Menschen kennen, dem das blutsverwandtschaftliche Prinzip viel bedeutet. So erfährt der verwunderte Nathan, daß seine Tochter von einem Tempelritter gerettet wurde, obwohl doch der moslemische Sultan alle christlichen Ritter, die Jerusalem angriffen, hinrichten ließ. Nur bei einem hat er eine Ausnahme gemacht. Daja erklärt dies:

"Nun ja.- So sagt man freilich; - doch man sagt

Zugleich, daß Saladin den Tempelherrn

Begnadigt, weil er seiner Brüder einem,

Den er besonders liebgehabt, so ähnlich sehe.

Doch da es viele zwanzig Jahre her,

Daß dieser Bruder nicht mehr lebt, - er hieß,

Ich weiß nicht wie; - er blieb, ich weiß nicht wo: -

So klingt das ja so gar - so gar unglaublich,

Daß an der ganzen Sache wohl nichts ist." (I, 247-255)

Daß das von Daja wiedergegebene Gerücht der Wahrheit entspricht, zeigt sich im späteren Dialog des Tempelritters mit Saladin, wenn er erklärt:

"Ich hab mich mit dir in nichts

Betrogen, braver junger Mann! Du bist

Mit Seel`und Leib mein Assad. Sieh! Ich könnte

dich fragen: wo du denn die ganze Zeit

Gesteckt? in welcher Höhle du geschlafen?" (IV, 285-289)

Allein durch die äußerliche Ähnlichkeit zu seinem Bruder Assad, die, wie sich am Ende des Stückes zeigen wird, in tatsächlicher Verwandtschaft begründet liegt, fühlt sich der Sultan zur einzigartigen Begnadigung des Ritters verpflichtet. Er glaubt, dies seinem Blut schuldig zu sein.

Das blutsverwandtschaftliche Prinzip ist auch bis zum Ende des Stückes für Saladin das dominante familiäre Prinzip. Dennoch wird Saladin das Toleranzprinzip gelten lassen und den Ausnahmefall von Nathans nicht-biologischer Vaterschaft anerkennen.

Als Saladin vom Tempelherren erfährt, daß Nathan nicht der biologische Vater Rechas ist, schließt er sich zuerst der Argumentation des Ritters an. Da der biologische Vater nicht mehr zu finden ist, gehen die Beschützerrechte über Recha an denjenigen über, der ihr Leben rettete, also den Tempelritter, der sie aus den Flammen rettete:

"Allerdings! Was hätte Nathan,

So bald er nicht ihr Vater ist, für Recht

Auf sie? Wer ihr das Leben so erhielt,

Tritt einzig in die Rechte des, der ihr

Es gab."(IV 463-466)

 Daß Nathan durch seine Aufnahme Rechas, ihre Mutter war verstorben, der Vater mußte sie verlassen, letztlich genauso zur Rettung Rechas beigetragen hat, kommt nicht zur Sprache. Allerdings leitet er die Rechte des Templers auch nicht primär aus dessen Christentum ab.

Wie schon beim Tempelherren, ist es Rechas einnehmendes Wesen, daß auch den Sultan beeindruckt. Eben noch Anhänger des blutsverwandtschaftlichen Prinzips, bietet er Recha die Vaterschaft an. Völlig ignoriert er dabei auch das religiöse Dogma. Schließlich dürfte auch er als Moslem die Christin nicht adoptieren und würde sich so desselben Frevels wie Nathan schuldig machen. Es folgt eine entscheidende Absage an die Blutsverwandtschaft als einziges Kriterium:

"Jawohl: das Blut, das Blut allein

Macht lange noch den Vater nicht! macht kaum

Den Vater eines Tieres! gibt zum höchsten

Das erste Recht, sich diesen Namen zu

Erwerben!" (V, 511-515)

Aus dem Munde des Sultans als personifiziertem Gesetz erhalten diese Worte so programmatischen Charakter. Saladin erklärt deutlich, daß die Vaterautorität erst erworben werden muß. Dieses Erwerben kann durch eine Rettungsaktion geschehen, wie beim Tempelherren. Aber es kann auch die pädagogische Leistung sein, wie sie von Nathan geleistet wurde. Naturgemäß ist es meist der biologische Vater, der zuerst die Gelegenheit hat, sich als Vater zu beweisen. Als Rechstinstanz der Gesellschaft hat Saladin die "moralische Vaterschaft" anerkannt und Nathan kann so auch gefahrlos Recha versichern:

"Dein Vater ist

Dir unverloren." (V, 556-557)

 

Sittah macht ebenso wie Saladin einen Prozeß des Umdenkens durch. So schlägt sie anfangs noch vor, Recha gleich ihrem Adoptivvater Nathan zu rauben:

"Wie also, Saladin? wenn du

Nur gleich das Mädchen zu dir nähmst? Sie nur

Dem unrechtmäßigen Besitzer gleich

Entzögest?"  (IV, 467-468)

Doch ist es wieder der Eindruck von Rechas Wesen, der auch sie umstimmt. Sittah muß beeindruckt durch Rechas Schwärmerei über Nathan gestehen:

"O was ist dein Vater für

Ein Mann!"  (V, 397)

Es wäre dennoch eine grobe Täuschung zu glauben, der Sultan hätte nun das Prinzip der Blutsverwandtschaft verbannt. So wird zwar im Einzelfall Nathans die moralische Vaterschaft akzeptiert, auch wird anerkannt, daß das Blut allein nicht die Vaterautorität schafft, doch als die Verwandtschaftsbeziehungen der Akteure untereinander aufgeklärt wird, besteht der Sultan wieder auf der Gültigkeit des Blutes. Aus der Verwandtschaft leitet er Pflichten und Rechte ab, wenn er vom Templer fordert:

"Nun mußt du wohl, Trotzkopf, mußt mich lieben!" (V, 690)

und zu Recha:

"Nun bin ich doch, wozu ich mich erboth?

Magst wollen, oder nicht!" (V, 691-692)

Nathan, der mit seiner aufklärerischen Vernunft die Schlüsselrolle im Stück spielt und in der Schlußszene als wahrhafter "Aufklärer" die anwesenden Akteure über ihre verwandtschaftliche Beziehung aufklärt, hat nicht das letzte Wort. Nach geleisteter Aufklärungsarbeit ist nun doch wieder das Blut stärkstes Kriterium. Das Schlußwort hat so der Sultan Saladin. Der Tempelherr gibt zu erkennen:

"Ich deines Bluts! - So waren jene Träume,

Womit man meine Kindheit wiegte, doch -

Doch mehr als Träume!" (V, 694-696)

Worauf Saladin entgegnet:

"Seht den Bösewicht!

Er wußte was davon, und konnte mich

Zu seinem Mörder machen wollen! Wart!" (V, 697-699)

Erst als Saladin den Ritter so als potentiellen "Verräter am eigenen Blut" hingestellt hat, fällt der Vorhang unter der "stummen Wiederholung allseitiger Umarmungen". Es mag nun diskutiert werden, warum Lessing am Schluß des Stückes wieder das Blutsprinzip gelten und seinen Helden Nathan dazu schweigen läßt. Saße versucht eine Erklärung: "Wenn man sich nun vor Augen hält, daß nicht nur die Gesellschaft zur Zeit Lessings, sondern auch die des Stücks selbst als Feudalgesellschaft eine Gesellschaft geburtsständischer Privilegien ist, und daß es hier besonders die Blutsverwandtschaft ist, die die Menschen vereinigt, indem sie sie von anderen trennt, dann wird nicht nur an den vom Schlußtableau ausgeschlossenen Personen, sondern auch an Saladins Reklamation der Blutsverwandtschaft als Zugehörigkeitskriterium die Welt sichtbar, `wie sie wirklich ist`. Dies ist der ins Drama aufgenommene Widerspruch der Empire gegen ihre utopische Aufhebung, der deutlich macht, daß die durch das Verständigungshandeln Nathans erzeugte Gesinnungsgemeinschaft ein Gegenbild ist, das die Gesellschaft in ihrer auf Trennungen beruhenden Ordnung nicht auslöscht, sondern nur kontrapunktiert."[22]

 

 

12. Lessings aufklärerischer Realismus

 

Lessing hat in dem dramatischen Gedicht "Nathan der Weise" die aufklärerische Programmatik einer auf einer inneren Vernunftreligion beruhenden religiösen Toleranz und allgemeinen Menschenliebe thematisiert. Wie im Vorangegangenen ausgeführt, handelt der "Nathan" dabei auch von der Durchsetzung des bürgerlichen Leistungsprinzips, das die Stellung und Funktion eines Menschen jenseits von Religion, Stand und Abstammung bestimmen soll. Das gilt für die Vaterfunktion ebenso, wie für die Kinder, die sich ihr Menschsein auch erst durch Erziehung und Bildung erwerben müssen. Im "Nathan" wird dieses aufklärerische Erziehungsprogramms einer neuen Vaterautorität vorgeführt, die sich im Gegensatz zur feudalen, aus Blut und Zwang abgeleiteten Vaterautorität aus einer pädagogischen und moralischen Vaterschaft ableitet und so auf freiwilligen, rationalen Gehorsam baut.

Nathan ist es durch seine Weisheit, seine Geschäftstüchtigkeit und seine Offenheit im zwischenmenschlichen Umgang gelungen, zuerst ablehnende und vorurteilsgeladene Menschen für sich und seine Sache zu gewinnen. So den Tempelherren, Sittah und Saladin. Doch muß der Leser illusionslos erkennen, daß letztlich nur Recha durch Nathans Erziehung und der Tempelherr in einem inneren, durch die Liebe zu Recha ausgelösten Wandlungsprozeß Nathans aufklärerische Gedanken völlig akzeptieren. Saladin und wohl auch Sittah sind bereit, den Einzelfall Nathans zu tolerieren und die Erziehung als wahren Erwerb der Vaterautorität anzuerkennen. Doch bleiben sie, wie die Schlußszene zeigt, der Blutsverwandtschaft als dominantem Prinzip verhaftet. Gänzlich scheitern muß Nathan bei der religiösen Fanatikerin Daja. In dieser Abstufung der Übernahme des aufklärerischen bürgerlichen Programms zeigt sich Nathans gesellschaftlicher Realismus. Trotz aller utopischen Elemente im Stück soll der Leser doch auf dem Boden der realen Gesellschaft bleiben. Auch die Formulierung einer durch allgemeine Menschenliebe bestimmten Gegengesellschaft soll nicht darüber hinwegtäuschen, daß es die existierende Gesellschaft ist, die verändert werden muß.

Lessing ist kein Revolutionär, sondern er erstrebt die Durchsetzung eines aufklärerischen Humanismus  im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung. Nicht die Aufhebung des Patriarchalismus wird angestrebt, ebensowenig, wie eine Kritik am politischen Absolutismus. Vielmehr schwebt Lessing das Ideal eines "aufgeklärten Patriarchalismus" als familiärer Herrschaftsform, personifiziert durch Nathan, einerseits, und ein "aufgeklärter Absolutismus" als politischer Herrschaftsform andererseits, personifiziert durch Saladin, vor.

 

 

 

 

 

 

13. Bibliographie

 

- Barner, Wilfried / Grimm, Gunter / Kiesel, Helmuth / Kramer, Martin (Hg.):

   Lessing: Epoche - Werk - Wirkung. München 3.Aufl. 1977.

- Bohnen, Klaus (Hg.): Lessings Nathan der Weise. Darmstadt 1984.

- Buchholz, Stephan: s.v. Familie. In: Schneider, Werner (Hg.):

   Lexikon der Aufklärung: Deutschland und Europa. München 1995.

- Düffel, Peter von (Hg.): Gotthold Ephraim Lessing. Nathan der Weise.

   Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 1972.

- Göbel, Helmut (Hg.): Lessings Nathan. Der Autor, der Text, seine Umwelt,

   seine Folgen. Berlin 2.Auflage 1993.

- Hernadi, Paul: Nathan der Bürger: Lessings Mythos vom aufgeklärten Kaufmann.

   In: Lessing Yearbook, 1971, Vol. III, 1971, S. 150-159.

- Jonnes, Denis: Solche Väter: The Sentimental Family Paradigm in Lessing`s Drama.

  In: Lessing Yearbook, 1981, Vol XII, S. 157-174.

- Lessing, Gotthold Ephraim: Werke 1778-1780, Bd.9. Hg. von Wilfried Barner.

  Frankfurt/M. 1993.

- Marx, Karl/ Engels Friedrich: Werke (MEW) Bd. 20. Berlin 1988.

- Das Räuberbuch: Die Rolle der Literaturwissenschaft in der Ideologie des deutschen

  Bürgertums am Beispiel von Schillers "Die Räuber". Frankfurt/M. 1974.

- Rohrmoser, Günter: Lessing. Nathan der Weise. In: Wiese, Benno (Hg.):

  Das deutsche Drama vom Barock bis zur Gegenwart. Interpretationen, Bd. 1.

  Düsseldorf 1958.

- Saße, Günter: Die aufgeklärte Familie. Tübingen 1988.

- Sorensen, Bengt Algot: Herrschaft und Zärtlichkeit - Der Patriarchalismus und das

  Drama im 18.Jahrhundert. München 1984.

- Tellenbach, Hubertus (Hg.): Das Vaterbild im Abendland I.

   Rom, Frühes Christentum, Mittelalter, Neuzeit, Gegenwart.

   Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1978.

 

 



[1]Lessing, Gotthold Ephraim: Werke 1778-1780, Bd.9. Hg. von Wilfried Barner. Frankfurt/M. 1993, S. 483-627.

 

[2] Siehe besonders: -Barner, Wilfried (Hg.): Lessing: Epoche, Werk, Wirkung. München 3.Aufl. 1977.

-Bohnen, Klaus (Hg.): Lessings "Nathan der Weise". Darmstadt 1984.

-Düffel, Peter von (Hg.): Gotthold Ephraim Lessing. Nathan der Weise. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 1972.

- Göbel, Helmut: Lessings Nathan. Der Autor, der Text, seine Umwelt, seine Folgen. Berlin 2.Aufl. 1993.

-Rohrmoser, Günter: Lessing. Nathan der Weise. In: Wiese, Benno von (Hg.): Das deutsche Drama vom Barock bis zur Gegenwart. Interpretationen, Bd.1. Düsseldorf 1958.

 

[3] Marx, Karl / Engels, Friedrich: Werke (MEW) Bd.20, Berlin 1988, S.16.

 

[4] Siehe.: Das Räuberbuch: Die Rolle der Literaturwissenschaft in der Ideologie des deutschen Bürgertums am Beispiel von Schillers "Die Räuber". Frankfurt/M. 1974.

 

[5] Zum Patriarchalismus und Vaterbild siehe: -Sorensen, Bengt Algot: Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und das Drama im 18.Jahrhundert. München 1984.

- Tellenbach, Hubertus (Hg.): Das Vaterbild im Abendland I. Rom, Frühes Christentum, Mittelalter, Neuzeit, Gegewart. Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1978.

 

[6] Zur Entstehung und Funktion der bürgerlichen Kleinfamilie siehe: Räuberbuch, S. 72ff.

 

[7] Vgl.: Jonnes, Denis: Solche Väter: The Sentimental Family Paradigm in Lessing`s Drama. In: Lessing Yearbook 1981, Vol.XII, S. 158.

- Sorensen 18f.

 

[8] Sorensen 34.

 

[9] Sorensen 37f.

 

[10] Buchholz, Stephan: s.v. Familie. In: Schneiders, Werner (Hg.): Lexikon der Aufklärung: Deutschland und Europa. München 1995, S.115f.

 

[11] Sorensen 94.

 

[12] Jonnes 172.

 

[13]Hernadi, Paul: Nathan der Bürger: Lessings Mythos von aufgeklärten Kaufmann. In: Lessing Yearbook, 1971, Vol.III, S. 151-159.

 

[14] Hernadi 153.

 

[15] Saße, Günter: Die aufgeklärte Familie. Tübingen 1988, S.247.

 

[16] Siehe z.B.: Sorensen 32.

 

[17] Saße 246.

 

[18] Saße 232.

 

[19] Sorensen 95.

 

[20] Saße 246. Vgl. Sorensen 95.

 

[21] Sorensen 95.

 

[22] Saße 261.


Seite: 7
 [nb1] 3. Aufzug, 7.Auftritt.

Seite: 19
 [nb2]