Junge Welt 26.04.2010
/ Feuilleton
Der Wolf mit der Glocke
Der kurdische Film »Min Dît:
Die Kinder von Diyarbakir« ist in deutschen Kinos angelaufen
Von Nick
Brauns
Mitte April erschoß
ein PKK-Kommando in der Schwarzmeerstadt Samsun zwei Polizisten als Vergeltung
für die Übergriffe des türkischen Staates auf Kurden. Blutige Rache am Mörder
ihrer Eltern will auch die 10jährige Gulistan nehmen.
Mit großen Augen schaut sie den nackt im Bett liegenden Geheimagenten an, der
ihre Eltern, Journalisten einer oppositionellen Tageszeitung, vor ihren Augen
an einer Straßensperre hingerichtet hatte. Doch die dem Agenten entwendete
Pistole zittert in der Hand des Mädchens, Tränen laufen ihr die Wangen
herunter.
Da erinnert sich Gulistan an das alte Volksmärchen
vom bösen Wolf. Die Dorfbewohner hatten beschlossen, den Wolf nicht zu töten,
sondern ihn lieber durch eine Glocke weithin erkennbar als Wolf zu markieren,
damit die Schafe gewarnt sind. Eine Kassette mit diesem Märchen, das ihre
Mutter für Gulistan und ihren kleinen Bruder Firat
aufgenommen hatte, ist das letzte Andenken, das den nun auf der Straße lebenden
Kindern an die Eltern geblieben ist. Gemeinsam mit ihren Freunden, einer von
Kleinkriminalität lebenden Kinderbande und der jungen Prostituierten Dilan, hängen nun auch Gulistan
und Firat dem Geheimdienstkiller Nuri Kaya im übertragenen Sinn eine solche
Glocke um, damit dieser nie wieder im Kreise seiner Nachbarschaft als
treusorgenden Familienvater erscheinen kann.
Der bereits mehrfach preisgekrönte Film »Min Dît«
(Ich habe gesehen) von Regisseur Miraz Bezar ist der erste kurdischsprachige
Film, der offiziell in der Türkei gezeigt wird. Schon dies ist eine kleine
Revolution in einem Land, in dem immer noch Politiker wegen des Gebrauchs der
kurdischen Sprache zu Haftstrafen verurteilt und kurdischer Schulunterricht von
der Verfassung verboten wird. Im Film gibt es eine Szene, in der die
Jugendbande um ein Lagerfeuer sitzt und singt: »Wo ist meine Heimat Kurdistan?« Auf dem Filmfestival »Golden Orange« im türkischen
Badeort Antalya verließen mehrere Zuschauer erbost das Kino, als das K-Wort
ertönte, und eine kleine Gruppe türkischer Faschisten protestierte lautstark
gegen den Film.
Als Regisseur Miraz Bezar,
Kurde aus Berlin, Ende 2005 in die kurdische Metropole Diyarbakir im Osten der
Türkei ging, um einen Film zu drehen, hatte er weder ein Drehbuch noch mehr
Geld als zum Mieten einer Kamera notwendig war. Gemeinsam mit seiner Koautorin,
der Mitte April erst 34jährig an Krebs verstorbenen Journalistin Evrim Alatas, sammelte Bezar die
persönlichen Geschichten der vielfach durch den Krieg traumatisierten Menschen.
»Alles, was ich in dem Film erzähle, hat in der einen oder anderen Form in
Diyarbakir stattgefunden. Speziell der Überlebenskampf zweier Kinder, die ihre
kleine Schwester verlieren, weil sie ganz ohne Unterstützung von Erwachsenen
für sich selbst sorgen müssen, basiert auf wahren Begebenheiten«, so Bezar. »Anstelle epischer Fiktion wollte ich eine Collage
dieser Splitter wirklichen Lebens montieren. Ich wollte eine Vielzahl von
Themen ansprechen, ohne dabei allerdings einen Kompilationsfilm zu produzieren.«
Die überzeugend agierenden Senay Orak (Gulistan), Muhammed Al (Firat) und die anderen Kinder im
Film sind Laiendarsteller vor allem aus den armen Vierteln. »Emil und die
Detektive« kommt einem kurzzeitig in den Sinn, als die Kinderbande mit Glück
und List den Täter aufgespürt hat. Doch weil die Handlung in Kurdistan und
nicht in Berlin spielt, sind die Hintergründe ungleich realistischer und härter
als in Erich Kästners Roman.
In den 1990er Jahren wurden 17000 kurdische Zivilisten durch »unbekannte Täter«
ermordet. »Solange das Geschehene nicht gesellschaftlich aufgearbeitet wird,
kann die Gewalt jederzeit wieder eskalieren«, warnt Regisseur Bezar. Tatsächlich sind die Wölfe sind noch unter uns.
Gerade meldet die türkische Menschenrechtsstiftung bereits zwölf »extralegale
Tötungen« durch Sicherheitskräfte in diesem Jahr. Am 3. April wurde Metin
Alatas, Journalist der kurdischsprachigen
Tageszeitung Azadiya Welat,
erhängt aufgefunden. Seine Freunde zweifeln an einem Selbstmord. Am 31. März
wurde der 14jährige Mehmet Nuri Tancoban von der
Militärpolizei im Dorf Caldiran erschossen. Zwei
Wochen vorher war Kerem Gün, ein Jugendfunktionär der verbotenen Partei für
eine Demokratische Gesellschaft DTP, in Sirnak von
Soldaten mit mehreren Schüssen regelrecht hingerichtet worden. Doch nicht
Vergeltung sondern die Aufdeckung der Wahrheit ist das Gebot der Stunde, lautet
die Botschaft von »Min Dît«, die Solidarität der
Schwachen kann gegen einen überlegenen Feind bestehen.
»Min Dît: Die Kinder von
Diyarbakir«, Regie: Miraz Bezar,
Deutschland/Türkei 2009, 102 min, bereits angelaufen