Aus: junge Welt  28.11.2018, Seite 14 / Feuilleton

Rotlicht: Migration

Von Nick Brauns

Zu allen Zeiten verließen Menschen ihre Heimat, um ihr Glück in der Fremde zu suchen. Im modernen Kapitalismus werden Millionen durch Wirtschaftskrisen, Kriege oder ethnisch und religiös verbrämte Verteilungskämpfe zur Flucht getrieben. Die Herrschenden in den Metropolen wiederum versuchen, die Migrationsströme gemäß der ökonomischen Interessen des Kapitals mit seinem steten Bedarf an billigen Arbeitskräften lenk- und nutzbar zu machen.

Die englische Bourgeoisie habe das irische Elend ausgenutzt, um durch die erzwungene Einwanderung armer Iren die Lage der Arbeiterklasse in England zu verschlechtern, meinte Karl Marx bereits 1870 und erkannte in dem von der Bourgeoisie künstlich geschürten Antagonismus zwischen den Proletariern »das wahre Geheimnis der Erhaltung ihrer Macht«. Dies gelte es durch den Aufbau internationaler Arbeitervereinigungen zu durchkreuzen.

Lenin geißelte auf dem Sozialistenkongress in Stuttgart 1907 die von rechten Sozialdemokraten im Namen des »Schutzes der heimischen Arbeiter« erhobene Forderung nach einem Einreiseverbot für »Arbeiter rückständiger Rassen (wie Chinesen, Neger usw.)« mit den Worten: »Das ist derselbe Geist des Aristokratismus unter Proletariern einiger ›zivilisierter‹ Länder, die aus ihrer privilegierten Lage gewisse Vorteile ziehen und daher geneigt sind, die Forderungen internationaler Klassensolidarität zu vergessen.«

Die Vertreter des linken Flügels der Internationale erkannten durchaus die Gefahr, dass Migranten zur Senkung erkämpfter sozialer Standards missbraucht würden. Sie lehnten es aber ab, den Repressionsapparat des bürgerlich-kapitalistischen Staates zur Einwanderungskontrolle zu nutzen. Statt dessen verdeutlichte Karl Liebknecht, dass rechtliche Gleichstellung von Eingewanderten und Einheimischen eine Notwendigkeit des Klassenkampfes sei. »Fort mit dem Damoklesschwert der Ausweisung! Das ist die erste Voraussetzung dafür, dass die Ausländer aufhören, die prädestinierten Lohndrücker und Streikbrecher zu sein Der Sozialistenkongress sprach sich für die Abschaffung aller Beschränkungen aus, welche bestimmte Nationalitäten oder »Rassen« vom Aufenthalt in einem Lande und den sozialen, politischen und ökonomischen Rechten der Einheimischen ausschließen. Lenin betonte 1913 ausdrücklich die für den Klassenkampf »fortschrittliche Bedeutung dieser modernen Völkerwanderung«, die »die nationalen Schranken und Vorurteile zerstört und die Arbeiter aller Länder in den großen Fabriken und Gruben Amerikas, Deutschlands usw. miteinander vereinigt«.

Heute weisen linke Kritiker von Migration wie die Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Sahra Wagenknecht, auf negative Folgen für die Länder des globalen Südens hin, denen durch einen Braindrain die jungen Fachkräfte entzogen werden. Dass Migration »Quelle des Wohlstands, der Innovation und der nachhaltigen Entwicklung« ist, wie im derzeit heftig debattierten »Globalen Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration« der Vereinten Nationen behauptet wird, entspricht kaum der Realität. Weder die Masse der rechtlos ausgebeuteten Arbeitsmigranten noch die durch diese Konkurrenz unter Druck geratenen Lohnabhängigen der Einwanderungsländer spüren viel vom »Wohlstand«. Und die Geldtransfers der Ausgewanderten an ihre Familien schaffen zwar dauernde Abhängigkeit, aber keine »nachhaltige Entwicklung« in den Herkunftsländern.

Derartige Kritik der durch globale soziale Ungleichheit erzwungenen Migration und ihrer sozialen Folgen entbindet Linke nicht von der Pflicht, Solidarität mit den Migranten als ersten Opfern dieser Entwicklung zu üben. Gleichzeitig gilt es, die Ursachen unfreiwilliger Migration – ausbeuterische Freihandelsabkommen, durch Rüstungsexporte und westliche Militärinterventionen angeheizte Kriege, Umweltzerstörungen in Folge rücksichtslosen kapitalistischen Profitstrebens etc. – zu benennen und zu bekämpfen.