Junge Welt 23.02.2013
/ Geschichte / Seite 15
Gegen nationalen Taumel
Vor 100 Jahren verabschiedeten die deutsche und die
französische Sozialdemokratie ein Manifest gegen den Rüstungswahnsinn
Von Nick
Brauns
Der
Kanonendonner des Balkankrieges kündigte im Oktober 1912 bereits den kommenden
Weltbrand an. Schnell schlug der Befreiungskampf der christlichen Balkanvölker
von der osmanischen Herrschaft in gegenseitige Eroberungskriege der
Balkanstaaten um, bei denen die imperialistischen Blöcke im Hintergrund ihre
Ausgangspositionen für die weitere Aufteilung der Türkei absteckten. Angesichts
der drohenden Gefahr eines europäischen Krieges hatte die internationale
Sozialdemokratie auf einem außerordentlichen Kongreß
im November in Basel noch »die vollständige Einmütigkeit der sozialistischen
Parteien und Gewerkschaften aller Länder im Kriege gegen den Krieg« beschworen.
Gewollter Krieg
Doch nach
einem vorübergehenden Friedensschluß zwischen
Bulgarien und der Türkei setzte sich in der Führung der deutschen
Sozialdemokratie die Überzeugung durch, die akute Kriegsgefahr sei nun gebannt,
und die Partei könne zum Tagesgeschäft übergehen. Für die politische und
militärische Führung des Deutschen Reiches stand die Unvermeidbarkeit des
Krieges dagegen weiterhin auf der Tagesordnung. Das Jahr 1913 sollte als
hundertstes Jubiläumsjahr der Völkerschlacht von Leipzig, die den Untergang
Napoleons und der französischen Fremdherrschaft eingeläutet hatte, die
Bevölkerung mit einer massiven Welle militaristischer und chauvinistischer
Propaganda auf den absehbaren Krieg einstimmen. Die reichsweit begangenen
»Jahrhundertfeiern«, die neben dem reaktionären Mißbrauch
der Befreiungskriege die Feierlichkeiten zum 25. Thronjubiläum von Kaiser
Wilhelm II. einbezogen, sollte ihren krönenden Abschluß
am 18. Oktober in der Einweihung des Leipziger Völkerschlachtdenkmals finden.
Der nationalistische Taumel richtete sich nach außen gegen den »Erbfeind«
Frankreich und nach innen gegen die Sozialdemokratie.
Anfang 1913 bereitete die Reichsregierung eine Militärvorlage vor, die über die
umfangreichste Truppenvermehrung seit 1871 die Angriffsfähigkeit des Heeres
erhöhen sollte. »Wo übrigens dieser Rüstungswahnsinn hinaus soll, wissen die
Götter«, vermerkte der greise SPD-Vorsitzende August Bebel. »Wiederum ist es
Deutschland, das seit genau 50 Jahren zum soundsovielten
Mal das Signal zu großen militärischen Rüstungen gibt, genau wie vor 15 Jahren
zu den Marinerüstungen. (…) Als Wilhelm auf den Thron kam, sagte ich, jetzt
kommt der Zugrunderichter an die Spitze. Das Wort scheint Wahrheit werden zu
wollen.« Die SPD kämpfte gegen die Hochrüstungspläne
mit Anträgen im Reichstag, die auf Rüstungsstop und
eine Demokratisierung der Heeresverfassung abzielten. Eigentlich hatte die von
Parteirechten dominierte SPD-Führung aus Furcht vor einer Hetzkampagne der
bürgerlichen Presse erwogen, öffentliche Agitation gegen die kommende
Rüstungsvorlage bis zu deren erster Lesung im Reichstag im April allein dem
linksradikalen Parteiflügel um Karl Liebknecht zu überlassen.Doch
nachdem in Frankreich als weiterer Schritt zur Kriegsvorbereitung die
Wiedereinführung der dreijährigen Militärdienstzeit beschlossen wurde, einigten
sich die Spitzen der SPD und der Sozialistischen Partei Frankreichs auf ein
Signal der internationalen Solidarität. Wenige Tage bevor die antifranzösischen
Jahrhundertfeiern der Hohenzollernmonarchie offiziell eingeleitet wurden,
traten die französischen und deutschen Sozialdemokraten am 1. März mit einem
von den Vorständen und Parlamentsfraktionen beider Parteien unterzeichneten
»Manifest gegen die imperialistische Rüstungspolitik« an die Öffentlichkeit. Der
ursprüngliche französische Resolutionsentwurf wurde in zweitätigen
Verhandlungen von der SPD-Führung soweit entschärft, daß
es neben einer generellen Verurteilung von Hochrüstung, Chauvinismus und Krieg
nur noch die Forderungen nach internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, der
Ersetzung der stehenden Heere durch Volkswehren und der Abwälzung der
Rüstungslasten auf die »Reichen« enthielt. Doch schon dieser unkonkret
pazifistisch gefaßte Aufruf sowie die nach
Veröffentlichung der neuen Militärvorlage am 28. März eher schwach besuchten
antimilitaristischen Kundgebungen der SPD führten zu einer kaum dagewesenen
Flut von Anklagen und zu einer atemlosen Pressehetze gegen die »vaterlandslose«
Haltung der Sozialdemokratie.
Indirekte Zustimmung
Dennoch
traute sich die Regierung nicht, die mit der Heeresvorlage verbundenen Kosten
von 1,3 Milliarden Mark alleine durch indirekte Steuern auf die Lohnabhängigen
abzuwälzen. Eine Milliarde sollten durch die Besteuerung der Vermögen über
10000 Mark und eine einmalige Vermögensabgabe aufgebracht werden. Da Teile der
Nationalliberalen und die Konservativen eine solche Besitzsteuer strikt
ablehnten, setzte Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg auf die
Zustimmung der Sozialdemokratie. Erstmals wurden sozialdemokratische
Abgeordnete nun in die vertraulichen Vorbesprechungen im Finanzausschuß
des Reichstages einbezogen. Während Vertreter der Reichsregierung dort ihren
grundsätzlichen Friedenswillen versichern, enthüllt der geladene preußische
Kriegsminister Josias von Heeringen
vor den zur Verschwiegenheit verpflichteten SPD-Abgeordneten August Bebel,
Georg Ledebour und Ludwig Frank das Konzept des
geplanten Zweifrontenkrieges.
Der Plan des Reichskanzlers zur Umgarnung der Sozialdemokraten ging auf. Zwar wurde
die Wehrvorlage am 30. Juni gegen die Stimmen der SPD beschlossen. Doch die
sozialdemokratischen Abgeordneten hatten vorher der Deckungsvorlage zu ihrer
Finanzierung zugestimmt. Die auf dem Standpunkt bürgerlicher
Vaterlandsverteidigung stehenden Parteirechten wie Gustav Noske,
Albert Südekum und Eduard David feierten die
Deckungsvorlage als Einstieg in sozial gewichtetes Steuersystem. Doch auch
August Bebel hatte diesen mit 52 gegen 37 Stimmen bei sieben Enthaltungen hart
umkämpften Beschluß in der Fraktion herbeigeführt.
Dahinter stand seine irrige Hoffnung, die herrschenden Klassen in ihrem
Rüstungswahn zu bändigen, wenn sie dessen Kosten selber zu tragen hätten.
Während die linke Minderheit der Fraktion den prinzipiellen Kampf gegen den
Militarismus in den Vordergrund rücken wollte, ging es der Fraktionsmehrheit um
eine Verlagerung der Rüstungskosten auf die besitzenden Klassen und um
demokratische Reformen der Armee. Diese bereits Ende Februar konzipierte Taktik
war durch eine Passage des Manifestes gegen die Rüstungspolitik legitimiert
worden, in der es heißt: »Wenn aber trotz ihres entschlossenen Widerstands den
Völkern neue militärische Aufgaben auferlegt werden, so wird die
Sozialdemokratie beider Länder mit aller Energie dafür kämpfen, daß die finanziellen Lasten auf die Schultern der
Wohlhabenden und Reichen abgewälzt werden.« In Wirklichkeit stellte die
indirekte Zustimmung zum Militärhaushalt einen offener Bruch mit dem
antimilitaristischen Prinzip »Diesem System keinen Mann und keinen Groschen«
dar. Damit hatte die SPD die Tür zu dem Weg aufgestoßen, der im August 1914 zur
Zustimmung zu den Kriegskrediten führen sollte.
Quelle: Manifest von SPD und
SFIO vom 1. März 1913
In
Deutschland und in Frankreich bereiten die Regierungen wiederum Gesetzentwürfe
vor, durch welche die ungeheuren militärischen Lasten noch weiter gesteigert
werden. In dieser Stunde erachten es die französische und die deutsche
Sozialdemokratie als ihre Pflicht, sich noch enger aneinander anzuschließen, um
vereint den Kampf zu führen gegen dieses an Wahnsinn grenzende Treiben der
regierenden Klassen. (…) Um den Frieden, die Unabhängigkeit der Völker und den
Fortschritt der Demokratie auf allen Gebieten in beiden Staaten zu sichern,
fordert die Sozialdemokratie, daß alle Streitigkeiten
zwischen den Völkern schiedsgerichtlich geschlichtet werden; sie empfindet die
Entscheidung auf dem Wege der Gewalt als Barbarei und Schande für die
Menschheit. Sie fordert weiter die Beseitigung des stehenden Heeres, das eine
stete Bedrohung der Nationen bildet, und an dessen Stelle die Einführung einer
Volkswehr auf demokratischer Grundlage, die nur der Landesverteidigung zu
dienen hat. (…) Unter der Fahne der Internationale, die die Freiheit und
Unabhängigkeit jeder Nation zur Voraussetzung hat, werden die deutschen und
französischen Sozialisten mit steigender Kraft den Kampf fortführen gegen den
unersättlichen Militarismus, gegen länderverwüstenden Krieg, für die
gegenseitige Verständigung, für den dauernden Völkerfrieden.
Dokumente
und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. IV, Berlin
1967, S. 445 f.