Junge Welt 18.10.2010
/ Politisches Buch / Seite 15
Die Machtkrankheit
Ein zentrales Werk Abdullah Öcalans ist auf deutsch
erschienen
Von Nick
Brauns
Der seit
seiner Verschleppung im Februar 1999 auf der Gefängnisinsel Imrali
inhaftierte Abdullah Öcalan ist auch heute noch der einflußreichste
kurdische Politiker in der Türkei. Meldungen über eine Verschlechterung seiner
Haftsituation führten mehrfach zu wochenlangen Unruhen in den kurdischen
Landesteilen, während auf seine Anregung hin Waffenstillstände der
Arbeiterpartei Kurdistans PKK ausgerufen wurden. Ohne eine Einbeziehung Öcalans
wird es keine Lösung der kurdischen Frage geben. Das mußte
auch die türkische Regierung zur Kenntnis nehmen, die im September dieses
Jahres erstmals zugab, daß Geheimdienstvertreter in
einen Dialog mit Öcalan getreten seien. Dank der »Internationalen Initiative
Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan« liegt jetzt unter dem
Titel »Jenseits von Staat, Macht und Gewalt« ein zentrales Grundlagenwerk
Öcalans sorgfältig ediert in deutscher Sprache vor. »Dieses Buch ist die bisher
ausführlichste Darstellung von Philosophie und Politik der PKK und der
kurdischen Befreiungsbewegung aus der Feder ihres wichtigsten politischen
Repräsentanten«, versprechen die Herausgeber.
Konföderalismus
Um das
bereits 2004 verfaßte mehr als 550seitige Werk an der
Militärzensur vorbei aus der Gefängniszelle zu bringen, wurde es offiziell als
Eingabe an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte formuliert. Doch vor
allem wollte Öcalan der kurdischen Befreiungsbewegung eine neue
emanzipatorische Orientierung geben, als sich unter dem Eindruck der
Etablierung der kurdischen Autonomieregion im Nordirak eine rechte Gruppe um
seinen Bruder Osman von der PKK getrennt hatte, um mit der US-Besatzungsmacht
zu kollaborieren. »Nationalismus, Religion und Etatismus
lasten auf der mittelöstlichen Gesellschaft schwerer als irgendwo sonst und
schnüren ihr die Luft ab« – aus dieser Feststellung leitet Öcalan das Projekt
eines »demokratischen Konföderalismus« durch
Selbstorganisation der kurdischen Nation im Rahmen einer »demokratischen
Autonomie« innerhalb der bestehenden Staatsgrenzen ab. Einer nationalstaatlichen
Lösung durch Separation erteilt er dagegen eine entschiedene Absage.
Bei seiner Argumentation greift Öcalan weit bis in die Epoche der
Urgesellschaft zurück. Er untersucht die Entstehung von Hierarchien und
Machtstrukturen und zeigt dabei die jeweiligen Gegenbewegungen in der
Geschichte auf – beim Widerstand von Stämmen gegen die Eroberung durch Staaten,
bei religiösen Minderheiten, die ihre Eigenständigkeit gegen die dominanten
Glaubensgemeinschaften verteidigen, und insbesondere bei den Frauen, die er zu
allen Zeiten in einer Oppositionshaltung zu den patriarchalen Strukturen sieht.
Vollständige Demokratie
Kern der
Argumentation Öcalans, die an anarchistische Staatskritik erinnert, ist der von
ihm behauptete Gegensatz »etatistische Gesellschaft«
versus egalitär organisierter »natürlicher Gesellschaft«. »Sozialismus
erfordert sozialistische Instrumente. Diese sind vollständige Demokratie auf
allen Ebenen, die Umweltbewegung, die Frauenbewegung, die Menschenrechte und
die Selbstverteidigungsmechanismen der Gesellschaft«, fordert Öcalan, der dem
Marxismus zwar »große historische Erfahrung im Kampf für Freiheit und
Gleichheit« zugesteht, doch gleichzeitig »grundsätzliche Mängel« insbesondere
durch die Nutzung des Instruments »Staatsmacht« ausmacht, die in der Praxis
wieder zum Kapitalismus geführt hätten. Da die materiellen und geschichtlichen
Bedingungen, unter denen es zu Deformationen kam, nicht hinterfragt werden,
bleibt diese Kritik am Realsozialismus allerdings an der Oberfläche.
Auch die PKK, die Öcalan durch Bandenwesen auf der einen und Beamtentum auf der
anderen Seite korrumpiert sah, wird einer radikalen Kritik unterzogen. »Ihr
Führungsstil bestand darin, die wertvollsten Genossen hinterrücks zu
erschießen, als seien sie lästige Fliegen«, schreibt er über PKK-Kommandanten,
die der »Krankheit der Macht« erlegen waren. Seine eigene als »serok Apo« (Führer Apo) jenseits aller Institutionen angesiedelte Stellung
innerhalb der Befreiungsbewegung hinterfragt der von vielen Kurden als eine
prophetenähnliche Gestalt verehrte Öcalan dabei nicht grundsätzlich.
Deutlich wird, daß sich Öcalan, der den Sozialismus
in der Türkei Anfang der 70er Jahre lediglich in einer vom Maoismus, Guevarismus und Kemalismus beeinflußten
dogmatischen Variante kennengelernt hatte, niemals intensiv mit der
marxistischen Theorie auseinandergesetzt hat. Wie eine von seinen
Rechtsanwälten zusammengestellte Bücherliste im Anhang zeigt, hatte der Autor
die Werke von Marx, Engels und Lenin bei der Abfassung seines Buches nicht zur
Verfügung.
Um so intensiver setzte er sich mit den Ideen des US-amerikanischen Vordenkers
eines Öko-Anarchismus, Murray Bookchin, des
postmarxistischen Soziologen Immanuel Wallerstein
sowie des Philosophen Michel Foucault auseinander, die ihn bei seinem Entwurf
einer »demokratisch-ökologischen Gesellschaft« beeinflußten.
Kaum eine Rolle im Denken Öcalans spielt die Ökonomie. Wieweit sich der
demokratische Konföderalismus auch auf die Wirtschaft
beziehen soll – etwa durch den Aufbau von Kooperativen – bleibt offen.
Selbstorganisation
Öcalans Plädoyer zum Aufbau einer
starken und komplexen selbstorganisierten Zivilgesellschaft, ohne gegen den
Staat direkt vorzugehen, ähnelt dem Zapatismus in
Chiapas. Voraussetzung ist allerdings, daß der
bestehende Staat eine solche Selbstorganisation zulässt. In der Türkei ist dies
bislang nicht der Fall. Während der letzten eineinhalb Jahre wurden rund 1700
Aktivisten der kurdischen Basisbewegung verhaftet.
Sollte die türkische Führung keine Änderung ihrer Kurdenpolitik durchführen,
könnten sich am Ende auch die Kurden in der Türkei in einer Koalition mit dem
US-Imperialismus wiederfinden, warnt Öcalan vor einer Entwicklung wie im Irak.
Sollte es allerdings eine demokratische Lösung der kurdischen Frage geben,
könne die Türkei eine Führungsrolle im Mittleren Osten übernehmen, wirbt er für
eine strategische türkisch-kurdische Allianz.
Nicht jede zivilisationsgeschichtliche These Öcalans wird sich wissenschaftlich
belegen lassen, und seine Kritik am Marxismus erscheint vielfach ungerecht.
Allerdings entstand dieses Buch in Isolationshaft ohne Möglichkeit der
Diskussion. Erinnert sei schließlich an Karl Marx’ Erkenntnis: »Eine Idee wird
zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift.«
Und Abdullah Öcalans Botschaft hat die Massen in Kurdistan ergriffen.
Abdullah Öcalan: Jenseits von Staat, Macht und Gewalt
– Verteidigungsschriften. Mezopotamien Verlag, Köln
2010, 573 Seiten, 15 Euro * ISBN: 978-3-941012-20-2