Aus: junge
Welt vom 19.06.2017, Seite 6 / Ausland
Gespalten und geschwächt
Die Linke in den G-20-Staaten. Heute: Türkei.
Antikurdische Ressentiments verhindern antifaschistische Front gegen Erdogan
Von Nick
Brauns
Vor 40
Jahren war die linke Bewegung in der Türkei auf ihrem Höhepunkt angelangt. Die
seit 1925 illegale Kommunistische Partei (TKP) hatte damals über die von ihr
kontrollierte Gewerkschaftsföderation DISK Ausstrahlungskraft auf
Hunderttausende Arbeiter, während aus der 68er Studentenbewegung hervorgegangene
Gruppierungen wie Devrimci Yol
(Revolutionärer Weg) in den informellen Arbeitervierteln am Rande der
Großstädte befreite Zonen schufen.
Mit dem
Massaker an den Teilnehmern einer Gewerkschaftskundgebung auf dem Istanbuler Taksim-Platz begann am 1. Mai 1977 die Gegenoffensive des
Staates. Doch die in Moskau, Beijing oder Tirana treue und unabhängige
Strömungen gespaltene Linke war unfähig, gemeinsamen Widerstand zu leisten, und
verspielte so das in sie gesetzte Vertrauen. Große Teile der Bevölkerung
zeigten sich daher erleichtert, als die Militärs die jahrelangen gewalttätigen
Kämpfe durch den Putsch vom 12. September 1980 beendeten.
Während die
Linke im Westen des Landes nun blutig zerschlagen oder zur Flucht gezwungen
wurde, verlagerte sich der Widerstand in den Osten. Dort nahm 1984 die
Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ihren Guerillakampf auf. Die PKK-Gründer um
Abdullah Öcalan kamen aus der türkischen Studentenbewegung. Doch angesichts der
auch in dieser vorgefundenen Ignoranz gegenüber der kurdischen Frage hatten sie
einen eigenen Weg eingeschlagen. Es gehört zur Dialektik der Geschichte, dass
drei Jahrzehnte später die angewachsene kurdische Bewegung der infolge des
1980er Putsches nahezu einflusslos gewordenen türkischen Linken neuen Auftrieb
gab.
So geht die
Gründung der Demokratischen Partei der Völker (HDP) als Koalition der
kurdischen Bewegung mit sozialistischen Gruppierungen auf Öcalan zurück. Mit 14
Prozent zog die HDP, die sich als Vertretung aller unterdrückten und
ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen versteht, im Juni 2015 ins Parlament ein.
Dieser Erfolg beruhte zum einen auf den Nachwehen der landesweiten Gezi-Proteste, bei denen im Sommer 2013 Millionen Menschen
gegen die autoritäre AKP-Regierung auf die Straße gingen. Zum anderen hatte der
Sieg über den von der AKP unterstützten »Islamischen Staat« (IS) in der
syrisch-kurdischen Stadt Kobani auch die linke und
kurdische Bewegung in der Türkei befeuert. Doch Erdogan eskalierte im Sommer
2015 erneut: Mehr als 130 Linke fielen in Suruc und
Ankara Bombenanschlägen einer vom Geheimdienst kontrollierten IS-Zelle zum
Opfer.
Aufgrund der
Inhaftierung von Tausenden ihrer Mitglieder, darunter ein Dutzend Abgeordnete
einschließlich ihres Kovorsitzenden Selahattin
Demirtas, sowie der Einsetzung von Zwangsverwaltern in mehr als 80 von ihr
regierten Städten ist die HDP heute kaum noch handlungsunfähig. So steht in
Kurdistan der bewaffnete Widerstand erneut im Vordergrund. Organisationen wie
die maoistische TKP/ML und die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei
(MLKP) kooperieren nicht nur in der Türkei mit der PKK-Guerilla, sondern auch
im Norden Syriens, wo Freiwillige an der Seite der Kurden gegen den IS kämpfen.
Ein Teil der
Linken, wie die in einigen Istanbuler Arbeitervierteln insbesondere unter Aleviten verankerte Revolutionäre
Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) oder die Kommunistische Partei (KP), steht
der kurdischen Bewegung dagegen ablehnend gegenüber. Sie beschuldigen diese,
reformistisch und nationalistisch sowie ein Instrument imperialistischer Mächte
zu sein.
In der
Vereinigten Junibewegung (BHH) – der Name geht auf die Gezi-Proteste
zurück – haben sich legale Linksparteien wie die Freiheits- und
Solidaritätspartei ÖDP, verschiedene sich kommunistisch nennende Parteien sowie
Einzelpersonen vom linken Flügel der kemalistisch-sozialdemokratischen
Republikanischen Volkspartei CHP zusammengeschlossen. Der Schwerpunkt der BHH
liegt auf der Verteidigung der säkularen Grundlagen der 1923 von Mustafa Kemal
Atatürk gegründeten bürgerlichen Republik gegen die unter Erdogan betriebene
Islamisierung des Staates.
Der trotz
Wahlbetrugs knappe Ausgang des Referendums über die Errichtung einer
Präsidialdiktatur im April hat gezeigt, dass die Hälfte der Bevölkerung nicht
hinter Erdogan steht. Doch antikurdische Ressentiments innerhalb der CHP als
größter Oppositionspartei sowie von Teilen der sozialistischen Linken und eine
dort verbreitete elitäre Verachtung gegenüber gläubigen Muslimen erweisen sich
als Hindernisse beim Zustandekommen einer antifaschistischen Widerstandsfront
gegen die Erdogan-Diktatur.