Lenins Fahrt im plombierten Waggon durch Deutschland.
"Millionen vernichtender Geschoße
sind in dem Weltkriege abgefeuert worden, die wuchtigsten, die gewaltigsten,
die weithin tragendsten Projektile von Ingenieuren ersonnen worden. Aber kein
Geschoß war weittragender und schicksalsentscheidender in der neueren
Geschichte, als dieser Zug, der, geladen mit den gefährlichsten,
entschlossensten Revolutionären des Jahrhunderts ... über ganz Deutschland
saust, um in Petersburg zu landen und dort die Ordnung der Zeit zu
zersprengen", so beschreibt der
Schriftsteller Stefan Zweig in seinen "Sternstunden der Menschheit" die
Fahrt Lenins von der Schweiz nach Rußland im April 1917.
Revolutionierung
Das deutsche Kaiserreich befand sich im
vierten Kriegsjahr. Seine militärischen Kräfte waren durch den Zweifrontenkrieg
aufgespalten. An der festgefahrenen Westfront drohte eine baldige Landung
amerikanischer Truppen zur Unterstützung von Engländern und Franzosen. Um hier
einen Durchbruch zu verhindern benötigte der Kaiser die deutschen
Truppenverbände, die noch im Osten gegen die Armee des Zaren kämpfte. Die
deutsche Regierung suchte daher die Möglichkeit, mit Rußland eine
Separatfrieden abzuschließen. Voraussetzung hierfür war allerdings eine
entscheidende innere Schwächung des Zarenreiches. Diese schien sich im März
abzuzeichnen, als nach Massenstreiks in Petrograd Arbeiterräte, die Sowjets,
die Macht übernahmen. Zar Nicolaj II. mußte am 15 März abdanken und eine
liberale "Provisorische Regierung" wurde von Seiten des Bürgertums
den Arbeiterräten entgegengestellt. Diese Regierung forderte allerdings die
Fortsetzung des Krieges. Für die deutsche Oberste Heeresleitung (OHL) bot sich
nun die Chance, Rußland von innen her aufzureiben. Das Schlagwort lautete:
weitere "Revolutionierung".
Schon
1915 war es in der Berliner Wilhelmstraße zu einem Treffen von Vertretern des
Auswärtigen Amtes mit dem ehemaligen Revolutionär und nun zum
Vaterlandsverteidiger verkommenen Alexander Helphand Parvus gekommen. Dieser
Parvus plante schon damals, mit deutscher Hilfe die Bolschewiki um Lenin zu
fördern und durch eine Revolution in Rußland an die Macht kommen zu lassen.
Nach dem Sturz des Zaren gewann dieser Plan an Aktualität. Der deutsche
Gesandte in Kopenhagen Graf von Brockdorff-Rantzau schrieb beispielsweise an
das Auswärtige Amt: "Müssen wir
unbedingt jetzt suchen, in Rußland ein größtmögliches Chaos zu schaffen. Zu
diesem Zwecke ist jede nach außen hin erkennbare Einmischung in den Gang der
russischen Revolution zu vermeiden. Wir sollten dagegen unter der Hand alles
daransetzen, die Gegensätze zwischen den gemäßigten und den extremen Parteien zu vertiefen, denn wir haben das größte
Interesse daran, daß die letzteren die Oberhand gewinnen, weil dann die
Umwälzung unvermeidlich und Formen annehmen wird, die den Bestand des
russischen Reiches erschüttern müssen."
Nicht
nur das Auswärtige Amt analysierte die Situation in Rußland als günstig für die
sozialistische Revolution. Auch Wladimir Iljitsch Lenin, Anführer der
Bolschewiki, verfolgte in seinem Exil in Zürich die Ereignisse genaustes. Um
aus der im Kriege neutralen Schweiz nach Rußland zu gelangen, mußte jedoch
mindestens eines der Kriegführenden Länder seine Einwilligung geben. Und hier
trafen sich, wenn auch aus völlig verschiedenen Absichten, die Interessen
Lenins mit denen der kaiserlichen deutschen Führung.
Der "plombierte Waggon"
Die
Kontakte zwischen den Bolschewiki im Exil und der deutschen Seite wurden
hergestellt. Der Schweizer Sozialist Fritz Platten, dessen lesenswerte
Erinnerungen über diese Geschehnisse im isp-Verlag erschienen sind, regelte die
Bedingungen für die Durchreise über Deutschland nach Schweden. Ausgehandelt
wurde, daß während der Fahrt durch Deutschland der Eisenbahnwaggon der
russischen Emigranten zum exterritorialen Gebiet erklärt würde. Fritz Platten
fungierte als Reisebegleiter. Zwei Offiziere der OHL sollten in einem separaten
Teil des Zuges die Reise überwachen. Ansonsten bestand Lenin darauf, daß es
keinerlei Kontakt zwischen den Russen und Deutschen während der Fahrt geben
dürfte. Er forderte zudem, die Emigranten müßten sich die Fahrt selber finanzieren.
Ein von bekannten Sozialisten verschiedener Länder unterzeichnetes
"Protokoll über die Durchreise nach Deutschland" sollte die
Bolschewiki gegen etwaige Vorwürfe absichern, die Reise konspirativ
durchgeführt zu haben. Neben Lenin nahmen an der Fahrt die führenden
Bolschewiki Karl Radek und Grigori Sinowjew, Lenins Frau Krupskaja und seine
Freundin Inessa Armand teil. Auch Mitglieder des jüdisch-sozialistischen
"Bund" fuhren mit, um dem Unternehmen einen überparteilichen Charakter
zu verleihen. Vorher mußten die insgesamt 30 russischen Revolutionäre eine
Erklärung unterzeichnen, wonach sie die Reise auf eigenes Risiko antraten und
über die Drohung der Provisorischen Regierung in Petrograd informiert wären,
die Reisenden bei der Ankunft in Rußland "als
Hochverräter zu behandeln". Mit Kreidestrichen auf dem Boden wurde das
exterritoriale Gebiet im Zug markiert. Winston Churchill kommentierte später
treffend: "Man hat Lenin wie einen
Pestbazillus in einem plombierten Waggon von der Schweiz nach Rußland befördert."
Die
Reise begann am 9.April in der Schweiz und erreichte am 11. April Saßnitz, die
letzte deutsche Station. Während deines
Zwischenhaltes wies Lenin entrüstet die Versuche deutscher Sozialdemokraten
zurück, ihn zu sprechen und so die Abmachungen über die Exterritorialität zu
stören. Am 12. April schickte Lenin aus dem neutralen Schweden ein Telegramm an
die Sozialisten in Genf: "Deutsche
Regierung wahrte Exterritorialität unseres Wagens. Fahren weiter."
Deutsche Agenten?
Schon
unmittelbar nach der Ankunft in Rußland starteten die Provisorische Regierung
und die rechte Kadettenpartei eine Hetzkampagne gegen den "deutschen
Agenten" Lenin. Nach militanten Straßendemonstrationen erläßt am 20 Juli
der Leiter der Provisorischen Regierung, der Sozialrevolutionär Alexander
Kerenski, Haftbefehl gegen Lenin und Sinowjew mit dem Vorwurf der deutschen
Agententätigkeit. Lenin muß nach Finnland fliehen und kommt erst unmittelbar
vor Ausbruch der Oktoberrevolution nach Rußland zurück.
Es
liegen deutliche Hinweise vor, daß Lenin sogar Gelder der deutschen Regierung
zur Finanzierung der bolschewistischen Propaganda bekommen hatte. Lenin hat
sich nie dazu geäußert. Der Anführer der Bolschewiki war kein Moralist sondern
knallharter Utilitarist. Für ihn zählte einzig das Ziel der Weltrevolution.
Hierfür war er bereit, auch jeden innerimperialistischen Widerspruch
auszunutzen und sich sogar die deutsche OHL zum kurzfristigen taktischen
Verbündeten zu machen. Selbst Kerenski erkannte: "Natürlich war Lenin kein gewöhnlicher deutscher Agent im üblichen
Sinn des Wortes. Er sah nur sein bürgerliches Vaterland nicht als sein
Vaterland an und fühlte sich ihm gegenüber in keiner Weise verpflichtet."
Lenins
Strategie ging auf. Im November 1917 hatte seine Partei, die Bolschewiki, die
Mehrheit der russischen Arbeiter hinter sich. Gestützt auf diese Massenbewegung
wird die Provisorische Regierung verjagt und die Arbeitermacht errichtet. Das
Deutsche Reich bekam im März 1918 im Vertrag von Brest Litowsk wie geplant
einen Separatfrieden mit Rußland. Lenin konnte sich den extrem harten
Konditionen des Friedensvertrages unterwerfen, der den Deutschen weite Teile
des Landes zuerkannte, weil er auf die Revolution in Deutschland vertraute.
Noch
vor der Oktoberrevolution glaubte Kaiser Wilhelm II. über Lenin: "Es ist aus mit ihm." Doch im
November 1918 war es stattdessen aus mit dem Kaiser. Lenin, der ehemalige Emigrant aus der Schweiz, den die deutsche
Regierung nur als Marionette betrachtete, stand an der Spitze eines revolutionären
160-Millionen Volkes. Und Wilhelm II., Symbolfigur des preußischen
Militarismus, wurde nach russischem Vorbild von roten Arbeitern und Soldaten
ins Exil nach Holland verjagt. Hierauf hatte Lenin vertraut, als er den Pakt
mit dem Teufel einging.
Nick
Brauns
Zum
Weiterlesen:
Fritz
Platten: Lenins Reise durch Deutschland im plombierten Wagen, isp-Verlag
Frankfurt /Main 1985.