Tageszeitung junge Welt

25.02.2006 / Feuilleton / Seite 15


Tragisches Dilemma

Vor 85 Jahren schlugen die Bolschewiki den Kronstädter Aufstand nieder. Tausende Tote bei Gefechten

Von Nick Brauns

Die junge Sowjetrepublik hatte sich erfolgreich gegen nahezu übermächtige äußere und innere Gegner zur Wehr gesetzt. Doch zu Ende des Bürgerkriegs 1920 war Sowjetrußland ein wirtschaftlich zerrüttetes Land. Produktion und Produktivität waren auf einen katastrophal niedrigen Stand gefallen, die Massen hungrig, erschöpft und unzufrieden mit den harten Maßnahmen des Kriegskommunismus. Mit dem Sieg über die Weißgardisten fiel das eindämmende Element für die durch Zwangsabgaben gebeutelte Bauernschaft weg. In mehreren Gouvernements brachen bewaffnete Bauernrebellionen aus. Nach Arbeiterunruhen mußte am 24. Februar 1921 der Belagerungszustand über Petrograd (später: Leningrad) verhängt werden.

Sowjetmacht bedroht


In dieser Krisensituation kam es zur Rebellion in der Petrograd vorgelagerten Inselfestung Kronstadt. Eine vom Matrosen Stephan Petrichenko vorgeschlagene Resolution wurde angenommen, in der die Legalisierung aller sozialistischen Parteien und Neuwahlen zu den Sowjets gefordert wurde. Weiterhin verlangten die Matrosen die Wiederherstellung des freien Handels. Die Situation verschärfte sich durch das arrogante Auftreten des Vorsitzenden der Sowjetrepublik Michail Kalinin auf einer Vollversammlung von über 12 000 Matrosen am 1. März. Nach Gerüchten über einen drohenden Angriff der Petrograder Bolschewiki verhafteten Kronstädter Matrosen bolschewistische Funktionäre. Im Gegenzug setzten die Petrograder Bolschewiki eine Kronstädter Delegation fest. Am 2. März bildete sich auf einer Delegiertenversammlung aller Einheiten ein »Revolutionäres Komitee« unter Führung Petrichenkos, das die Macht über die Festungsstadt übernahm.

Nun begann eine demagogische Propagandakampagne der Bolschewiki. Da der – von den Bolschewiki vorher als Artilleriefachmann eingesetzte – ehemalige zaristische General Koslowski auf seiten der Aufständischen aktiv war, hieß es, hinter dem Aufstand stünden die Weißgardisten. In Wirklichkeit dominierten anarchistische und syndikalistische Elemente. 1917 waren die meist aus der Industriearbeiterschaft stammenden Kronstädter Matrosen die Avantgarde der Revolution gewesen. Doch während des Bürgerkrieges waren die erfahrensten Matrosen in die Rote Armee oder die Sowjetinstitutionen abgewandert. Statt dessen rekrutierten sich die Mannschaften nun aus einem bäuerlichen ukrainischen Milieu, dessen Unzufriedenheit die Matrosen nach Heimaturlauben in die Stadt mitbrachten. Victor Serge, ein französischer libertärer Kommunist, der sich während des Aufstandes in Petrograd aufhielt, erkannte trotz seiner Sympathien für die Anarchisten die Gefahr: »Die Konterrevolution des Volkes übersetzte die Forderung freigewählter Sowjets durch die der ›Sowjets ohne Kommunisten‹. Wenn die Diktatur fiel, so bedeutete das in Kürze das Chaos, und durch das Chaos hindurch das Vordringen der Bauern, das Massaker der Kommunisten, die Rückkehr der Emigranten und am Ende durch die Macht der Umstände eine andere antiproletarische Diktatur.«

Für die Sowjetregierung wurde die Zeit knapp. Taute erst einmal das Eis, hätten die Meuterer die Möglichkeit, sich vom Ausland versorgen zu lassen. Tatsächlich stand die internationale Konterrevolution schon in Wartestellung, um über Kronstadt das Festland zu erreichen und die Sowjetmacht zu zerschlagen. Der amerikanische Historiker Paul Avrich hat in seinem 1970 erschienenen Buch »Kronstadt 1921« entsprechende Dokumente aus Archiven weißgardistischer Organisationen veröffentlicht.

Bis heute hält sich hartnäckig die Legende, Leo Trotzki habe persönlich die Niederschlagung des Aufstandes geleitet. Tatsächlich beschränkte sich Trotzkis Rolle als Volkskommissar für das Militärwesen auf die Unterzeichnung eines letzten Ultimatums, in dem er am 5. März die Rebellen zur Kapitulation aufforderte, bevor er nach Moskau abreiste. Berühmter als Trotzkis Ultimatum wurde ein vom Petrograder Verteidigungskomitee verfaßtes, über der Festung abgeworfenes Flugblatt: »Ihr ergebt Euch binnen 24 Stunden. Tut Ihr das, dann vergeben wir Euch, aber wenn Ihr Widerstand leistet, werden wir Euch wie die Rebhühner abknallen.«

Unter dem Befehl von Michail Nikolajewitsch Tuchatschewski und Sergei Kamenew starteten 35 000 Mann am 8. März einen ersten Angriffsversuch. Doch ein Teil der Rotarmisten ging zu den Aufständischen über. Aufgrund der Unzuverlässigkeit der einfachen Kommunisten in dieser Ausnahmesituation griff die Sowjetregierung auf Offiziersschüler der Roten Armee und Tschekisten zurück. Nach Trotzkis auf dem X. Parteitag der Kommunistischen Partei Rußlands (KPR) vorgelegten Lagebericht meldeten sich zudem 320 Delegierte als Freiwillige zum letzten Sturm auf Kronstadt. Darunter waren auch die Vertreter der Oppositionsgruppen Dezisten und Arbeiteropposition, die in vielen Punkten mit der Kritik der Kronstädter übereinstimmten.

Sturmangriff


Auf 50 000 Mann angewachsen, begannen die Regierungstruppen am 16. März mit einem nächtlichen Sturmangriff. In weiße Mäntel gehüllt, mußten sie viele Kilometer schutzlos über das Eis vorrücken. Immer wieder brachen Granaten der Festungsgeschütze die Eisdecke auf und verschlangen Dutzende von Kämpfern. Die Gefechte dauerten bis zum Morgen des 18. März und endeten in einer Blutorgie mit rund 600 getöteten Kronstädtern, über 1 000 Verletzten und 2 500 Gefangenen. Die Angreifer hatten ihrerseits rund 10 000 Gefallene zu verzeichnen. Die Rache der Tscheka war grausam. Hunderte Gefangene wurden an Ort und Stelle standrechtlich erschossen, weitere in den kommenden Monaten in kleinen Gruppen hingerichtet.

»Kronstadt stellt eine Situation dar, in der der Historiker mit den Aufständischen sympathisieren kann und gleichzeitig einräumt, daß die Bolschewiki mit der Niederwerfung des Aufstandes recht hatten. Nur wenn man das anerkennt, erfaßt man die volle Tragödie Kronstadts«, meint der New Yorker Historiker Avrich. Und Trotzki, der die politische Verantwortung für die Niederschlagung des Aufstandes übernahm, nannte das Vorgehen der Sowjetregierung »eine tragische Notwendigkeit«.

Mehr als 8 000 Kronstädtern war die Flucht nach Finnland gelungen. Ihr Sprecher, der angebliche Anarchist Petrichenko, gestand am 31. Mai 1921 in einem Brief an General Pjotr N. Wrangel, die Losung »Alle Macht den Sowjets und nicht den Parteien« sei ein »politisch bequemes Manöver« bis zum Sturz der kommunistischen Herrschaft.

Mit der Einführung der Neuen Ökonomischen Politik erfüllte der X. Parteitag der KPR einen Teil der Forderungen der Rebellen nach freiem Handel und bäuerlicher Aktionsfreiheit. Voraussetzung dafür war freilich die Beibehaltung und Straffung der politischen Macht der Bolschewiki.


Quellentext: W.I. Lenin, Die Lehren von Kronstadt

Was bedeutet dieses Ereignis? Den Übergang der politischen Macht von den Bolschewiki an irgendein unbestimmtes Konglomerat oder einen Bund buntscheckiger Elemente, scheinbar nur ein klein wenig rechter als die Bolschewiki, ja vielleicht sogar auch »linker« als die Bolschewiki – so unbestimmt ist die Summe von politischen Gruppierungen, die in Kronstadt versucht hat, die Macht an sich zu reißen. Zweifellos haben die weißen Generale – Sie alle wissen das – dabei eine große Rolle gespielt. Das ist vollauf erwiesen. Zwei Wochen vor den Kronstädter Ereignissen schrieb man bereits in den Pariser Zeitungen, daß in Kronstadt ein Aufstand ausgebrochen sei. Es ist ganz klar, daß hier die Sozialrevolutionäre und die ausländischen Weißgardisten ihre Hände im Spiel hatten; und zugleich lief diese Bewegung auf eine kleinbürgerliche Konterrevolution hinaus, kam das kleinbürgerliche anarchistische Element zum Zuge. (...) So klein oder geringfügig zunächst – wie soll ich mich ausdrücken – die Machtverschiebung, die die Kronstädter Matrosen und Arbeiter vorschlugen, gewesen wäre – sie wollten die Bolschewiki in bezug auf die Freiheit des Handels korrigieren, also scheinbar keine große Verschiebung, scheinbar dieselben Losungen: »Sowjetmacht«, mit einer kleinen Änderung oder nur einer Korrektur –, in Wirklichkeit aber dienten hier die parteilosen Elemente nur als Trittbrett, als Stufe, als Brücke, über die die Weißgardisten kamen.

aus: »Bericht über die politische Tätigkeit des ZK der KPR (B)«, 8.März 1921 (in: LW 32, S. 183f.)