Aus: junge Welt Ausgabe vom 13.02.2015, Seite 7 / Ausland

Kobani vor der Neugründung

Türkei hält Grenze zu syrisch-kurdischer Stadt geschlossen. Frankreich verspricht Hilfe

Von Nick Brauns

Nach der Befreiung der syrischen Stadt Ain Al-Arab (Kobani) von der Dschihadistenmiliz des »Islamischen Staates« (IS) vor rund drei Wochen ist es den Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ gelungen, auch rund die Hälfte der 400 Dörfer in der Umgebung zurückzuerobern. Im Westen der Stadt sind die kurdischen Kämpfer bis in Sichtweite der vom IS gehaltenen Stadt Dscharabulus am Euphrat vorgedrungen. Gemeinsam mit verbündeten Brigaden der »Freien Syrischen Armee« bereiten sich die YPG auf einen Angriff auf die vom IS kontrollierte Stadt Til Abyad östlich von Kobani vor. Der dortige Grenzübergang Akçakale zur Türkei dient den Dschihadisten als eine Hauptversorgungsroute.

In Kobani haben unterdessen die Vorbereitungen für einen Wiederaufbau begonnen. Ein Komitee für den Wiederaufbau ist derzeit damit beschäftigt, das genaue Ausmaß der auf bis zu 90 Prozent des Stadtgebietes geschätzten Zerstörungen zu dokumentieren und Pläne für den Wiederaufbau auszuarbeiten. Noch befinden sich in den Ruinen Hunderte Leichen getöteter IS-Kämpfer, die geborgen werden müssen, um der Ausbreitung von Seuchen vorzubeugen. Dazu kommen Hunderte Blindgänger, die entschärft werden müssen.

Immer mehr Flüchtlinge kehren unterdessen aus der Türkei nach Kobani zurück. Da ihre Häuser zerstört sind, müssen Zeltstätte errichtet werden. Doch bislang sei keinerlei humanitäre Hilfe aus dem Ausland eingetroffen, beklagt der Vizeaußenminister des »Kantons Kobani«, Idris Nassan, gegenüber dem Kurdischen Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit Civaka Azad in Frankfurt am Main. »Um die prekäre humanitäre Lage, mit der die Bevölkerung von Kobani konfrontiert ist, zu bewältigen, bedarf es eines humanitären Korridors an der türkischen Grenze«, fordert Nassan einen Zugang zu den beiden anderen »Kantonen« Afrin und Cazira in Nordsyrien.
Da Kobani im syrischen Landesinneren von drei Seiten vom IS umzingelt ist, bleibt der Grenzübergang Mürsitpinar in die Türkei die einzige Verbindung der direkt an der Grenze gelegenen Stadt zur Außenwelt. Auch nachdem die islamisch-konservative AKP-Regierung der Türkei mit dem Versuch gescheitert war, durch logistische Unterstützung für den IS den selbstverwalteten »Kanton« in die Knie zu zwingen, bleibt der Grenzübergang geschlossen. Nur Grundnahrungsmittel dürfen nach Kobani gebracht werden, während der Transport von Baufahrzeugen und Baumaterial von den türkischen Grenztruppen untersagt wird, berichtet der Abgeordnete der linken Demokratischen Partei der Völker (HDP) aus der Türkei Ibrahim Ayhan im Interview mit dem Journalisten Mutlu Çiviroğlu. Auch Delegationen der Weltgesundheitsorganisation WHO und der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen wurden von den türkischen Behörden daran gehindert, auf die syrische Seite zu gelangen.

Hilfe sagte unterdessen die linksgerichtete Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften (DISK) aus der Türkei zu. »Wir haben 12.000 Freiwillige für den Wiederaufbau von Kobani«, heißt es in einer in der sozialistischen Tageszeitung Evrensel zitierten Erklärung des DISK-Vorstandes von Diyarbakır. Die Freiwilligen könnten bei der Wiederherstellung der örtlichen Infrastruktur mithelfen. Unterstützung für einen Aufbau versprach auch der französische Präsident François Hollande. Dieser hatte am vergangenen Wochenende die Kovorsitzende der in Rojava führenden Partei der Demokratischen Union (PYD), Asia Abdullah, sowie die Kommandantin der Frauenverteidigungseinheiten YPJ, Nesrin Abdullah, im Élysée-Palast empfangen. Wohl um den NATO-Partner Türkei nicht zu verärgern, verweigern die USA dem PYD-Kovorsitzenden Salih Muslim weiterhin ein Einreisevisum. Muslim war vom Washingtoner Thinktank »Carnegie Endowment for International Peace« zu einer Syrien-Konferenz eingeladen worden. In Europa hatten sich Vertreter des US-Außenministeriums dagegen in den vergangenen Monaten mehrfach mit Muslim getroffen.