07.11.2007 / Thema / Seite 10

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Kapitel II der Weltgeschichte

Vor 90 Jahren schlugen die revolutionären Arbeiter, Soldaten und Bauern in Rußland ein neues Kapitel der Menschheitsentwicklung auf

Von Nick Brauns

Das russische Reich wurde im Herbst 1917 immer stärker von einer gesamtnationalen Krise erfaßt. Die Wirtschaft verfiel zusehends, der Zusammenbruch der Staatsfinanzen drohte, Hungerunruhen erschütterten das Land. Hunderttausende Soldaten begannen, die Friedensfrage auf eigene Faust zu lösen, indem sie von der Front desertierten. Bauern brannten die Gutshöfe nieder und besetzten die Ländereien. Eine Streikwelle durchzog das Land, Arbeiter sperrten die Betriebsleiter ein. In den nichtrussischen Landesteilen des Zarenreiches – so in der Ukraine, in Belarus, Polen, Bessarabien, im Baltikum und in Finnland – wurde die Forderung nach Unabhängigkeit lauter.

Die Provisorische Regierung unter dem So­zialrevolutionär Alexander Kerenski konnte keine der Forderungen der Volksmassen nach Brot, Land und Frieden einlösen. Statt dessen befahl Kerenski, das Kriegsrecht gegen die aufständischen Bauern anzuwenden. Gegen Landbesetzer ließ er ebenso eine Strafexpedition marschieren wie gegen den Sowjet von Taschkent. Um der wachsenden Arbeiterbewegung entgegenzutreten, schlossen viele Unternehmer ihre Betriebe und warfen Zehntausende Arbeiter auf die Straße.

Das noch von den sozialdemokratischen Menschewiki und den bäuerlich-sozialistischen Sozialrevolutionären beherrschte Zentralexekutivkomitee der Sowjets versuchte, die wachsende Unzufriedenheit durch die Einberufung einer »Gesamtrussischen Demokratischen Beratung« für den 14. September aufzufangen. Auf ihr standen die mittlerweile meist auf bolschewistische Positionen übergegangenen Räte als Minderheit kommunalen Selbstverwaltungsorganen und Genossenschaften gegenüber. Letztere entsprachen in ihrer Zusammensetzung längst nicht mehr der gegenwärtigen Radikalisierung, sicherten aber den gemäßigten Sozialisten eine solide Mehrheit, mit der sie die Bildung eines »Vorparlaments« beschlossen. Das Vorparlament unterstützte die Neubildung der Provisorischen Regierung mit Kerenski an der Spitze unter Einbeziehung der bürgerlichen Kadettenpartei, die zuvor noch offen mit dem gescheiterten Putsch von General Lawr Kornilow (siehe jW v. 8.9.2007) und der Errichtung einer Militärdiktatur sympathisiert hatte. Natürlich konnte auch diese bürgerlich-sozialdemokratische Koalitionsregierung die Krise des Landes nicht lösen. Es bildete sich eine klassisch revolutionäre Situation heraus, in der die Herrschenden nicht mehr weitermachen konnten wie bisher, die Beherrschten aber nicht mehr gewillt waren, sich der alten Herrschaft zu beugen.

Militärdiktatur droht

Lenin hatte dies in seinem finnischen Exil, wohin er aufgrund eines Haftbefehls der Kerenski-Regierung nach den Juli-Unruhen fliehen mußte, besser erkannt als viele führende Bolschewiki in Rußland. »Nachdem die Bolschewiki in den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten beider Hauptstädte die Mehrheit erhalten haben, können und müssen sie die Staatsmacht in ihre Hände nehmen« (LW 26, S. 1), drängte er in einem Brief an das ZK »Die Bolschewiki müssen die Macht ergreifen«, geschrieben 25.–27. September, zum Aufstand. Denn nur die Bolschewiki besaßen ein dem Volk verständliches Programm, womit das Land aus der Krise geführt werden konnte. Die wichtigsten Maßnahmen dieses Übergangsprogramms, daß an den unmittelbaren Bedürfnissen der Massen anknüpfte, in seiner Konsequenz aber zur Beseitigung der kapitalistischen Schranken führte, hatte Lenin zuvor in dem Artikel »Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll« zusammengefaßt: »1.Vereinigung aller Banken zu einer einzigen Bank und staatliche Kontrolle über ihre Operationen oder Nationalisierung der Banken. 2. Nationalisierung der Syndikate, d. h. der größten, der monopolistischen Verbände der Kapitalisten (Zucker-, Erdöl-, Kohlen-, Hüttensyndikat usw.). 3. Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses. 4. Zwangssyndizierung (d.h. Zwangsvereinigung in Verbänden) der Industriellen, Kaufleute und Unternehmer überhaupt. 5.Zwangsvereinigung der Bevölkerung in Konsumgenossenschaften oder Förderung einer solchen Vereinigung und Kontrolle über sie« (LW 25, S. 337f.). Die konsequente Realisierung dieser Maßnahmen bedeutete jenen entschlossenen Schritt zum Sozialismus, vor dem die sozialdemokratischen Parteien zurückschreckten. Die Alternative aber war der Zusammenbruch des Landes und die Errichtung einer Militärdiktatur im Interesse der Kapitalisten, Großgrundbesitzer und der mit Rußland verbündeten imperialistischen Westmächte. Die einzige Chance zur Rettung der Revolu­tion bestand so in der Übernahme der Macht durch die in den Räten führenden Bolschewiki. Einen Mittelweg gab es nicht. Doch das Zentralkomitee (ZK) der Bolschewiki zögerte und beschloß erschrocken, Lenins Brief mit der Aufstandslosung zu verbrennen. Wie schon in den Apriltagen fand sich Lenin in Opposition zum Zentralkomitee, dem er Passivität und Versöhnlertum vorwarf. In seiner Verzweiflung hatte er sogar seinen Austritt aus dem ZK beantragt, um sich die Freiheit der Agitation in den unteren Parteiorganisationen und auf dem Parteitag vorzubehalten.

Gegen die ausdrückliche Weisung seiner Genossen kehrte Lenin am 20. Oktober 1917 getarnt als Priester ohne Bart, aber mit Perücke in die russische Hauptstadt zurück. Dort konnte er am 23. Oktober seine Aufstandspläne endlich direkt vor dem Zentralkomitee vortragen. Es sei eine gewisse Gleichgültigkeit für die Frage des Aufstandes zu beobachten, kritisierte er. Die internationale Lage – ein Aufstand in der deutschen Flotte als Ausdruck des Heranwachsens der sozialistischen Revolution in ganz Europa; die Gefahr eines Friedensschlusses zwischen den kämpfenden imperialistischen Lagern mit dem Ziel, die russische Revolution zu erdrosseln; Kerenskis Absicht, das revolutionäre Petrograd den Deutschen auszuliefern; die Vorbereitung eines weiteren gegenrevolutionären Putsches; landesweite Bauernaufstände und die Eroberung der Mehrheit in den Sowjets durch die Bolschewiki – all dies setzte den bewaffneten Aufstand auf die Tagesordnung.

Nach einer zehnstündigen erregten Debatte stimmten im Morgengrauen des 24. Oktober zehn ZK-Mitglieder für die von Lenin mit einem Bleistiftstummel auf einer karierten Schulheftseite hastig niedergeschriebene Resolution, in der es heißt: »Das Zentralkomitee stellt somit fest, daß der bewaffnete Aufstand unumgänglich und völlig herangereift ist« (LW 26, S. 178). Ohne einen genauen Termin festzulegen, einigten sich die ZK-Mitglieder darauf, den Aufstand unmittelbar vor dem kommenden allrussischen Sowjetkongreß durchzuführen und anschließend von diesem legitimieren zu lassen.

Gegen die Aufstandslosung votierten Grigori J. Sinowjew und Lew B. Kamenew. Eine solche Aktion sei verfrüht. Vielmehr gehe es darum, im Rahmen einer Doppelherrschaft aus konstituierender Versammlung, in der die Bolschewiki eine starke Oppositionskraft bilden würden, und Sowjets, in denen die Bolschewiki in der Mehrheit waren, die Macht zu erobern. Unter offener Mißachtung der Parteidisziplin verrieten Sinowjew und Kamenew den noch nicht veröffentlichten Aufstandsbeschluß in einer nichtbolschewistischen Zeitung. Lenin empörte sich über dieses »Streikbrechertum« seiner langjährigen Weggefährten: »Ich sage offen, daß ich beide nicht mehr als Genossen betrachte und mit aller Kraft sowohl im ZK als auch auf dem Parteitag für den Ausschluß der beiden aus der Partei kämpfen werde« (LW 26, S. 205). Rückendeckung bekamen die »Streikbrecher« dagegen vom Chefredakteur der Rabotschi Put, Josef Stalin, der die »Schärfe« des Leninschen Briefes rügte und seine »wesentliche« Gesinnungsgenossenschaft mit Sinowjew und Kamenew bekundete.

Regierung verhaftet

Am 25. Oktober beschloß das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets die Errichtung eines Revolutionären Militärkomitees (RMK) aus Vertetern der Sowjets, des Zentralkomitees der baltischen Flotte, des Finnischen Gebietskomitees, der Betriebskomitees und der Militärorganisation beim ZK der Bolschewiki. Offiziell diente dieses von Leo Trotzki geleitete Komitee – dem sich die Petrograder Garnison ebenso bereitwillig unterstellte wie die seit der Niederschlagung des Kornilow-Putsches bestehende rotgardistische Arbeitermiliz – als revolutionärer Stab zur Verteidigung der Stadt gegen eine drohende deutsche Offensive, gegen Pogrome und zur Aufrechterhaltung der revolutionären Disziplin unter Soldaten und Arbeitern. Doch praktisch war das RMK das legale Organ zur Umsetzung des Aufstandsplans.

Zu einer gewaltigen Heerschau der revolutionären Kräfte wurde der »Tag des Petrograder Sowjets« am 4. November. In Betrieben und Truppenteilen, Konzerthallen, Kinos und im Zirkus fanden Massenkundgebungen statt. Die Stadt wurde überflutet von revolutionären Arbeitern, Bauern und Soldaten.

Eine gegenrevolutionäre Verschwörung stand unmittelbar bevor. Der Stab der Petrogarder Garnison, der das RMK nicht anerkannte, ließ Offiziersschüler in die Stadt einrücken. Am frühen Morgen des 6. November wurde die Druckerei des bolschewistischen Zentralorgans Rabotschi Put von den Offiziersschülern geschlossen und das Telefonamt besetzt. Das RMK schickte eine Abteilung Matrosen zu diesem Amt und stellte zwei kleine Geschütze auf. So begann die Eroberung der Verwaltungsorgane durch die Bolschewiki.

Ohne Blutvergießen öffneten Rotgardisten die Druckerei der Rabotschi Put wieder. Um 14 Uhr erschien die Zeitung mit dem Aufruf zum Sturz der Provisorischen Regierung: »Alle Macht den Sowjets der Arbeiter, Soldaten und Bauern! Friede, Land, Brot!« Entweder die Macht verbleibe in den Händen der Bourgeoisie und Gutsbesitzer, hieß es – das bedeute Fortsetzung des Krieges, Hunger und Tod –, oder die revolutionären Arbeiter, Bauern und Soldaten übernehmen die Macht. Das sei die Zerschmetterung der Gutsbesitzertyrannei und die Niederlage der Kapitalisten. Die Bauern würden das Land erhalten, die Arbeiter die Kontrolle über die Industrie, die Hungernden Brot, ein sofortiger gerechter Frieden werde verkündet, versprachen die Bolschewiki.

Zum Schutz des Petrograder Sowjets im Smolny ließ das RMK zum Schrecken der Sozialdemokraten eine Maschinengewehrabteilung aufziehen. »Es ist sonnenklar, daß jetzt eine Verzögerung des Aufstands schon wahrhaftig den Tod bedeutet«, warnte Lenin an diesem Abend. »Man muß um jeden Preis heute abend, heute nacht die Regierung verhaften« (LW 26, S. 223).

In dieser Nacht besetzten revolutionäre Truppenteile, Kronstädter Matrosen und Rotgardisten nach dem zuvor von Trotzki ausgearbeiteten Plan fast lautlos die Regierungsgebäude, Post- und Telegraphenämter, Bahnhöfe, das Elektrizitätswerk und die Zentralbank. Nirgendwo stießen sie auf wirklichen Widerstand, häufig wurden sie von revolutionären Arbeitern schon erwartet. Beobachter vermerkten erstaunt, daß selbst die Straßenbahnen während der Revolution weiterfuhren. Rotgardisten verhinderten, daß die Brücken über die Newa aufgezogen wurden, um die Innenstadt von den Arbeiterbezirken abzuriegeln. Am Morgen des 7. November befand sich Petrograd mit Ausnahme des Winterpalais, in dem sich die Provisorische Regierung verschanzt hatte, unter der Kontrolle der Revolutionäre.

»Die Provisorische Regierung ist gestürzt«, erklärte Lenin um 10 Uhr vormittags in einem Aufruf des RMK »an die Bürger Rußlands«. »Die Sache, für die das Volk gekämpft hat: das sofortige Angebot eines demokratischen Friedens, die Aufhebung des Eigentums der Gutsbesitzer am Grund und Boden, die Arbeiterkontrolle über die Produktion, die Bildung einer Sowjetregierung – sie ist gesichert« (LW 26, S. 227). Zu diesem Zeitpunkt flüchtete Kerenski in einem Wagen der US-Botschaft zu den Truppen der Nordfront.

Erstmals nach den Juli-Unruhen trat Lenin am Nachmittag auf einer Sitzung des Petrograder Sowjets wieder an die Öffentlichkeit. »Die unterdrückten Massen werden selbst die Staatsmacht schaffen. Der alte Staatsapparat wird von Grund aus zerschlagen und ein neuer Verwaltungsapparat in Gestalt der Sowjetorganisationen geschaffen werden«, kündigte er an. »In Rußland müssen wir jetzt den Aufbau des proletarischen sozialistischen Staates in Angriff nehmen« (LW 26, S. 228 f.). Als Verbündete benannte Lenin die Arbeiterbewegung in den anderen kriegführenden Staaten und seine Rede schloß mit dem Ruf: »Es lebe die sozialistische Weltrevolution.«

Gegen 18 Uhr hatten die Revolutionäre den Winterpalast umzingelt. Der Sturm auf das von Offiziersschülern und einem Frauenbataillon verteidigte Gebäude begann gegen 21 Uhr mit dem berühmten Signalschuß des in der Newa vor Anker gegangenen Kreuzers »Aurora«. Die eingedrungenen Soldaten und Matrosen stießen nur auf geringen Widerstand. »Im nächsten Raum trafen wir auf eine ganze Gruppe von Menschen, die die Provisorische Regierung darstellten. Sie saßen am Tisch, ein gräulich bleicher, zitternder Fleck«, schilderte der mit einem Künstlerhut und Zwicker gekleidete Sekretär des RMK, Wladimir Alexandrowitsch Antonow-Owsejenko. »Im Namen des Revolutionären Militärkomitees erkläre ich Sie für verhaftet!« Die Minister wurden in die Kerker der Peter-Pauls-Festung gebracht.

Beim Sturm des Winterpalastes waren fünf revolutionäre Matrosen und ein Soldat getötet worden, auf Seite der Verteidiger gab es keine Toten. Daß diese sechs Gefallenen die einzigen Toten der Oktoberrevolution in Petrograd blieben, zeigt, wie morsch das alte bürgerliche System und wie gering die Unterstützung für die Provisorische Regierung bereits war.

Rußland wird Räterepublik

Während noch Schüsse vom Winterpalast ertönten, eröffnete Kamenew um 22.45 Uhr nachts im Smolny, einer ehemaligen Klosterschule für adelige Mädchen, den Zweiten Gesamtrussischen Kongreß der Arbeiter- und Soldatendeputierten. Von den 649 Delegierten gehörten jetzt 390 zu den Bolschewiki, 160 zu den Sozialrevolutionären und 72 zu den Menschewiki. Angesichts dieser Mehrheitsverhältnisse verließen die rechten Sozialrevolutionäre und Menschewiki unter Protest gegen die Erstürmung des Winterpalastes den Kongreß. Im Namen der bolschewistischen Fraktion verlas Anatoli Lunatscharski den von Lenin verfaßten Aufruf »An die Arbeiter, Soldaten und Bauern!«. Darin wurde die Übernahme der ganzen Macht durch die Räte verkündet, und diese wurden beauftragt, eine revolutionäre Ordnung zu gewährleisten. Um fünf Uhr morgens bestätigte der Kongreß dieses Dokument bei zwei Gegenstimmen und zwölf Enthaltungen. Damit wurde Rußland zur Räterepublik.

Die folgende Sitzung des Sowjetkongresses in der Nacht zum 9. November dominierte Lenin. Nach minutenlangem Applaus verlas er eine »Proklamation an alle kriegführenden Völker und Regierungen«, in der der imperialistische Krieg zum größten Verbrechen an der Menschheit erklärt und ein sofortiger Frieden ohne Annexionen und Kontributionen angeboten wurde. Die Sowjetregierung werde die Geheimdiplomatie abschaffen und alle Verhandlungen offen vor dem Volk führen. Geheimverträge der Provisorischen Regierung, die den Zweck hatten, den russischen Gutsbesitzern und Kapitalisten Privilegien zu verschaffen und die Annexion der Großrussen auf Kosten anderer Völker aufrechtzuerhalten, würden bedingungslos und sofort gekündigt. Abschließend folgte ein Aufruf an die »klassenbewußten Arbeiter der drei fortgeschrittensten Nationen der Menschheit und der größten am gegenwärtigen Krieg beteiligten Staaten: Englands, Frankreichs und Deutschlands«, »die Sache des Friedens und zugleich damit die Sache der Befreiung der werktätigen und ausgebeuteten Volksmassen von jeder Sklaverei und jeder Ausbeutung erfolgreich zu Ende zu führen« (LW 26, S. 241 f.). Einstimmig wurde diese erste Deklaration der Sowjetmacht, die den Ausstieg Rußlands aus dem gegenseitigen Völkermorden bedeutete, angenommen und mit dem Absingen der Internationale gefeiert.

Um zwei Uhr wurde das nächste Versprechen der Revolution eingelöst. »Das Eigentum der Gutsbesitzer am Grund und Boden wird unverzüglich ohne jede Entschädigung aufgehoben«, verkündete das »Dekret über Grund und Boden« (LW 26, S. 249). Die Verwaltung der entschädigungslos enteigneten Ländereien wurde den Landkomitees und Bauernräten anvertraut. Als Richtlinie für die zukünftige Bodenverteilung sollten die vom sozialrevolutionär dominierten Rat der Bauerndeputierten festgelegten Anweisungen dienen, das Land denen zur Nutzung zu überlassen, die es selbst bearbeiten wollten. Weiterverkauf oder die Beschäftigung von Lohnarbeitern auf diesem Land sollte verboten werden. Das »Dekret über Grund und Boden« ist ein Meisterstück von Lenins »revolutionärer Realpolitik« (Georg Lukács). Um die Millionenmasse der Bauern, die auch innerhalb der Armee absolut dominierten, für die Revolution zu gewinnen oder sich wenigstens ihre wohlwollende Neutralität zu erkaufen und ein politisches Bündnis mit der neu entstandenen Partei der Linken Sozialrevolutionäre zu schließen, übernahm Lenin kurzerhand deren Programm in der Landfrage. »Als demokratische Regierung können wir einen Beschluß der Volksmassen nicht umgehen, selbst wenn wir mit ihm nicht einverstanden wären« (LW 26, S. 252), begründete Lenin diese vorübergehende Abkehr vom marxistischen Programm der Kollektivierung der Landwirtschaft zugunsten von Kleinfarmen. »Das Leben ist der beste Lehrmeister, es wird zeigen, wer recht hat; mögen die Bauern an die Lösung dieser Frage von dem einen Ende herangehen und wir von dem anderen. [...] Das Wesentliche ist, daß die Bauernschaft die feste Überzeugung gewinnt, daß es auf dem Lande keine Gutsbesitzer mehr gibt, daß es den Bauern selbst überlassen wird, alle Fragen zu entscheiden, selbst ihr Leben zu gestalten« (LW 26, S. 252 f.).

Schließlich konstituierte sich auf dem Sowjetkongreß die Arbeiter- und Bauernregierung, deren Minister sich zur Abgrenzung von bürgerlichen Kabinetten Rat der Volkskommissare nannten. Da die Linken Sozialrevolutionäre nicht bereit waren, dieser Regierung beizutreten, solange die anderen sozialistischen Parteien abseits standen, gehörten dem Rat der Volkskommissare nur Bolschewiki an. Lenin wurde dessen Vorsitzender und damit russischer Regierungschef. Trotzki war für die Außenpolitik zuständig, Stalin für Nationalitätenfragen. Militär- und Marineangelegenheiten wurden einem dreiköpfigen Komitee von Alexandrowitsch Antonow-Owsejenko, Nikolai W. Krylenko und Pawel J. Dybenko übertragen. Volkskommissar für Volksaufklärung wurde Anatoli W. Lunatscharski. Abschließend erfolgte die Neuwahl des 101köpfigen Zentralexekutivkomitees der Räte, in das neben 62 Bolschewiki auch 29 linke Sozialrevolutionäre gewählt wurden.

Eine Episode am Rande beschreibt Trotzki: »Die Macht ist erobert, mindestens in Petrograd. Lenin hat noch keine Zeit gehabt, seinen Kragen zu wechseln. Auf dem müden Gesicht wachen Lenins Augen. Sie blicken auf mich freundschaftlich milde, mit eckiger Verlegenheit innere Nähe ausdrückend. ›Wissen Sie‹, sagte er zögernd, ›gleich nach den Verfolgungen und der Illegalität zur Macht (…)‹, er suchte nach einem Ausdruck, geht plötzlich in die deutsche Sprache über: ›es schwindelt‹. Er macht eine kreisende Handbewegung um den Kopf. Wir blicken einander an und lächeln kaum. Das Ganze dauert kaum eine bis zwei Minuten. Dann – einfacher Übergang zu den laufenden Geschäften« (L. Trotzki: Mein Leben, Berlin 1930, S. 323).