„Internationales politisches Rote Kreuz“

Vor 85 Jahren wurde die Internationale Rote Hilfe gegründet


Von Nick Brauns


Im Gefolge des Ersten Weltkrieges bestimmten Revolutionen und Gegenrevolutionen, Bürgerkriege und Militärdiktaturen das Bild in vielen Staaten Europas. Die gescheiterten Revolutionen waren mit großen Fluchtwellen der von Polizei und Militär verfolgten RevolutionärInnen verbunden. In Deutschland befanden sich nicht nur TeilnehmerInnen des niedergeschlagenen kommunistischen Aufstandes im mitteldeutschen Industrierevier vom März 1921 auf der Flucht vor der Justiz, auch AktivistInnen der Kämpfe nach dem Kapp-Putsch und einige bayerische Räterepublikaner lebten im Untergrund. Dazu kamen politische Flüchtlinge aus Ungarn und Polen. Nach dem Machtantritt von Benito Mussolini gelangten italienische GegnerInnen des Faschismus ins Ausland. Vor dem „weißen Terror“ flohen auch politische Flüchtlinge aus dem Balkan und dem Baltikum. Erste Rote-Hilfe-Komitees hatten sich in Deutschland auf Initiative der Kommunistischen Partei im Frühjahr1921 gebildet. Auch in anderen europäischen Ländern und den USA gab es in den Nachkriegsjahren lose Hilfskomitees von Angehörigen der verhafteten, getöteten oder untergetauchten RevolutionärInnen.


Angesichts der weltweiten Gegenrevolution regte der sowjetische Geheimdienstchef Felix Dzierzyinski die Gründung einer internationalen Hilfsorganisation für verfolgte RevolutionärInnen an. Dzierzyinski hatte selber lange Jahre in zaristischen Kerkern verbracht Unter den Mitgliedern der „Gesellschaft der ehemaligen politischen Zuchthäusler und Verbannten“ sowie der „Vereinigung der alten Bolschewiki“ stieß sein Vorschlag sofort auf Zustimmung. Auf dem IV. Weltkongress der Kommunistischen Internationale im November 1922 beantragte daher Felix Kon im Namen der „Alten Bolschewiki“ die Schaffung eines „internationalen politischen Roten Kreuzes“. Am 30. November 1922 rief der Weltkongress die „Internationale Organisation für die Unterstützung der revolutionären Kämpfer“ in Leben. Nach ihrer russischen Abkürzung wurde diese Organisation MOPR genannt, auf Deutsch erhielt sie den Namen „Internationale Rote Hilfe“ (IRH). Der Kongress rief die Kommunistischen Parteien auf, „die Initiative zu ergreifen - oder sie zu unterstützen, wenn eine solche bereits vorhanden ist - zur Organisierung der materiellen und moralischen Hilfeleistung an die Vorkämpfer der Sache des Kommunismus, die in die Gefängnisse eingesperrt sind, sich in der Verbannung befinden oder überhaupt gegen ihren Willen aus den Kampfreihen entfernt sind“. Dies war die Geburtsstunde der Internationalen Roten Hilfe.


Den Vorsitz der neuen Organisation übernahm zuerst der polnischstämmige Bolschewik Julian Marchlewski., ab 1924 folgte ihm Clara Zetkin nach. Ihr zur Seite stand ab 1927 die Russin Jelena Stassowa, die bereits 1921 im Auftrag Lenins am Aufbau von Rote-Hilfe-Komitees in Deutschland mitgewirkt hatte.


Zum offiziellen Gründungdatum der IRH, an dem auch die Spendensammlungen für die neue Organisation begannen, wurde der 18.März 1923 als Jahrestag der Pariser Kommune erwählt. Der 18.März wurde von nun an jährlich von allen Sektionen der IRH als „Tag der proletarischen politischen Gefangenen“ begangen.


Als im Juli 1924 der erste Weltkongress der IRH tagte, verfügte die Hilfsorganisation bereits über 19 Ländersektionen sowie Kontakte in 19 weiteren Ländern. Die Zahl der Sektionen stieg bis 1926 auf 36 und bis 1933 auf 71 Ländersektionen mit über 13,8 Millionen Mitgliedern an. Stärkste Sektion war die MOPR der UdSSR mit 5,566000 Mitgliedern, gefolgt von China und Deutschland. Die Rote Hilfe Deutschlands zählte am Vorabend des Faschismus 1932 rund 600.000 Mitglieder. Rund die Hälfte davon war parteilos, die andere Hälfte gehörte der Kommunistischen Partei an. Daneben fanden sich auch einzelne SozialdemokratInnen, AnarchistInnen und bürgerliche DemokratInnen in ihrem Selbstverständnis nach überparteilichen Roten Hilfe.


Die MOPR der UDSSR trug den überwiegenden Teil der finanziellen Lasten der nationalen Sektionen. Schon dies bot Anlass zu ihrer Überwachung, wie eine Denkschrift der Bremer Polizeidirektion zeigt:„Die eigentliche Gefahr der kommunistischen Bewegung in allen Ländern liegt, wie mehrfach betont, darin, dass sie geleistet und unterstützt wird von Moskau, dass sie ein Mittel der sowjetrussischen Außenpolitik ist und dass daher die gesamte Kraft des bolschewistischen Staatsverbands wirtschaftlich und politisch stützend in den Dienst der kommunistischen Idee gestellt wird. Dieser Gedanke der Kraftversorgung von Moskau her findet seinen stärksten Ausdruck in der Schaffung einer internationalen Organisation zur Unterstützung von Revolutionären, die in Deutschland unter dem Namen `Rote Hilfe Deutschlands´ als eine Sektion der Internationalen Roten Hilfe wirkt und in der Sowjet-Union unter der Abkürzung `MOPR´ bekannt ist.“


Die Hauptarbeit leisteten die Sektionen der IRH außerhalb der Sowjetunion in ihren eigenen Ländern. Die Familien der politischen Gefangenen mussten mit Hilfsgeldern versorgt werden, Gefangene im Knast betreut, Flüchtende mit falschen Papieren ausgestattet und Angeklagte mit Anwälten versorgt werden. Hierzu war vor allem die Sammlung von Geld- und Sachspenden durch die Mitglieder vorrangig. Daneben spielten Internationale Hilfskampagnen für das Selbstverständnis und die Mobilisierung der Roten Hilfe eine zentrale Rolle. Waren es 1925 sechs internationale Kampagnen, so stieg diese Zahl auf 26 im Jahr 1929 und 32 im Jahr 1932, die allerdings nicht alle in der gleichen Intensität von allen Sektionen unterstützt wurden. Die IRH führte internationale Kampagnen gegen den faschistischen Terror in Mussolinis Italien, die blutige Verfolgung von SozialistInnen in den von Militärdiktaturen beherrschten Balkanländern, Polen und dem Baltikum, gegen Massaker an chinesischen RevolutionärInnen und die Lynchjustiz an AfroamerikanerInen in den USA. Massencharakter hatte vor allem 1926 und 1927 die Kampagne gegen die Hinrichtung der Anarchisten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti in den USA. Bei dieser weltweiten Kampagne sammelten die Rote Hilfe weltweit Millionen Unterschriften, organisierte Kundgebungen und Demonstrationen und schickte Delegationen von ArbeiterInnen und Intellektuellen zu den amerikanischen Konsulaten. Während Sacco und Vanzetti für einen Raubmord, den sie erwiesenermaßen nicht begangen hatten, hingerichtet wurden, gelang es der Roten Hilfe, die Hinrichtung des sozialdemokratischen Abgeordneten Mathias Rakosi in Ungarn und des kommunistischen Politikers Stanislaus Lanzuzki in Polen zu verhindern. Aufgrund der internationalen Solidaritätskampagnen wurden die Todesurteile in langjährige Haftstrafen umgewandelt. Der Erfolg der kommunistisch geführten Roten Hilfe beruhte bei diesen Kampagnen auf ihrer unsektiererischen Bündnispolitik, der es gelang, neben KommunistInnen auch SozialdemokratInnen und bürgerliche DemokraInnenn einzubeziehen.


Anfang der 30er Jahre setzte sich die IRH verstärkt gegen Lynchjustiz und Rassendiskriminierung ein. Sie initiierte eine weltweite Kampagne zur Rettung der „Negerjungen“ von Scottsboro vor der rassistischen Südstaatenjustiz der USA. Acht Afroamerikaner zwischen 14 und 20 Jahren waren aufgrund falscher und erpresster Beschuldigungen wegen einer angeblichen Vergewaltigung zweier weißer Prostituierter im amerikanischen Scottsboro/Alabama zum Tode verurteilt worden. Ein neunter Junge erhielt „lebenslänglich“, da er erst 13 Jahre alt war. Aufgrund des internationalen Drucks kamen bis zum Jahr 1950 alle Scottsboro-Angeklagten frei.


Ziel solcher vom Exekutivkomitee der IRH oder dessen regionalen Vertretungen wie dem Mitteleuropäischen Büro in Berlin angeregten und koordinierten Kampagnen war es, „den Werktätigen an Hand der Tatsachen den Terror und die Klassenjustiz als internationale Erscheinung, als letzte Mittel der Weltreaktion zu beweisen und damit die Notwendigkeit der organisierten internationalen proletarischen Solidarität als unbedingte Voraussetzung für den Sieg der Revolution“.


In der 1935 erschienenen Broschüre „15 Jahre IRH“ wurden die Formen der internationalen Solidaritätsarbeit „gegen besonders hervorstechende Handlungen des weißen Terrors von internationaler Bedeutung“ zusammengefasst.


Die Idee, Patenschaften über Gefängnisse oder einzelne Gefangene zu übernehmen, wurde 1923 von der ersten MOPR-Zelle in sowjetischen Wjatka entwickelt. Anlässlich des Tages der Internationalen Roten Hilfe am 18.März übernahm die Wjatkaer MOPR die Patenschaft über die bayerische Haftanstalt Niederschönenfeld, in der gefangenen Räterepublikaner wie Erich Mühsam und Ernst Toller einsaßen. Ab Mitte der 20er Jahre schlossen auch Bezirke der RHD Patenschaften mit politischen Gefangenen in anderen Ländern ab. In den Bezirksvorständen wurde ein Mitarbeiter mit der Patenschaftsarbeit betraut. Ihm oblag es, Namen und Adressen der Gefangenen und ihrer Familien durch Anfragen bei der Roten Hilfe des betreffenden Landes oder wenn möglich auch über die zuständigen diplomatischen Behörden zu erkunden, regelmäßigen Briefkontakt zu den Gefangenen sowie Sammlungen für deren Angehörige zu organisieren. Patenschaften deutscher Rote-Hilfe-Gruppen bestanden unter anderem über Gefängnisse in Rumänien, Bulgarien, Polen, Estland und Lettland.


Für die Kinder politischer Gefangener unterhielt die IRH Kinderheime und Erholungsheime. Der Maler Heinrich Vogeler hatte seinen Barkenhoff in Worpswede der Roten Hilfe geschenkt, um dort ein solches Erholungsheim einzurichten. Im thüringischen Luftkurort Elgersburg wurde vor allem mit Spenden aus der UDSSR das MOPR-Heim in einer Villa eingerichtet. In der Sowjetunion bestanden mehrere Kinderheime für die Kinder politischer Emigranten, so das Clara-Zetkin-Heim in Moskau und die Internationale J.D.-Stassowa-Internatsschule in Iwanowo. „In diesen Heimen wurden Kinder von 30 verschiedenen Nationalitäten erzogen, deren Eltern im revolutionären Kampf gefallen sind, oder in den Gefängnissen und Konzentrationslagern der kapitalistischen Länder schmachten oder den Kampf auf ihrem revolutionären Posten fortsetzen.“, heißt es in einer Broschüre der MOPR aus dem Jahr 1940 über die sowjetischen Heime.


Mit der Machtübernahme der Faschisten rückte Deutschland in den Mittelpunkt der Hilfstätigkeit der IRH: Im Namen von 14 Millionen Roten Helferinnen und Helfern rief Clara Zetkin in ihrem letzten Artikel kurz vor ihrem Tod zu einer Solidaritätswoche mit den Opfern des faschistischen Terrors in Deutschland auf. Die Rote Hilfe schleuste verfolgte KommunistInnen über die deutsche Grenze und unterstütze mit Hilfskomitees in den Nachbarländern und in Schweden eine Vielzahl politischer Flüchtlinge mit Geld, Lebensmitteln, Sachspenden und Unterkünften.


Als die Kommunistische Internationale auf ihrem VII. Weltkongress beschloss, unter Verzicht auf revolutionäre Losungen antifaschistische Bündnisse nicht nur mit SozialdemokratInnen sondern auch mit antifaschistisch gesonnen Teilen des Bürgertums zu schließen, kam der Roten Hilfe eine wichtige Rolle zu. Die Rote Hilfe „muss sozusagen zum `Roten Kreuz´ der proletarischen Einheitsfront und der antifaschistischen Volksfront werden, das Millionen von Werktätigen umfasst, zum `Roten Kreuz´ der Armee der werktätigen Klassen, die gegen den Faschismus, für Frieden und Sozialismus kämpft“, erklärte der Vorsitzende des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale Georgi Dimitroff. Die Roten Hilfe sollte als eigenständige Organisation zugunsten einer breiten Hilfsbewegung aufgelöst werden, die durch den Aufbau von Spenderkreisen, Patenschaften und Solidaritätsgruppen sowie verdeckte Arbeit in nationalsozialistischen Massenorganisationen allen verfolgten HitlergegnerInnen Hilfe und Solidarität zukommen lassen sollte. In der von der Roten Hilfe und den Kommunistischen Parteien in Deutschland, den europäischen Exilländern und auch in Übersee in den Jahren 1935 bis 1937 organisierten Kampagne „Freiheit für Thälmann, Maddalena, Ossietzky, Mierendorff und alle Antifaschisten“ spiegelte sich die Volksfrontorientierung wieder. Mit dieser Losung wurden der Sozialdemokrat Carlo Mierendorff und der linksbürgerliche Intellektuelle Carl von Ossietzky den kommunistischen Führern Ernst Thälmann und Max Maddalena ebenbürtig zur Seite gestellt.


Zwar gab es mehrere erfolgreiche Ansätze gemeinsamer Hilfsausschüsse von SozialdemokratInnen, KommunistInnen, ChristInnen und humanistisch eingestellten Bürgerlichen in den Fluchtländern und selbst in der illegalen Arbeit in Deutschland. Doch das Abrücken sozialdemokratischer Organisationen und Persönlichkeiten von einer Kooperation mit KommunistInnen vor dem Hintergrund der Moskauer Prozesse hintertrieb auf internationaler Ebene alle Bemühungen, zu einer einheitlichen und breiten Hilfsbewegung zu gelangen. Dies bestätigte Peter Maslowski, der ab 1935 der IRH-Führung angehörte: „Es war schwer, einerseits die Einheit mit Sozialdemokraten, Christen oder Sonstigen zu propagieren und andererseits genau zu berücksichtigen, wer alles, zum Teil von heute auf morgen, nach Meinung bestimmter Parteihüter als Feind zu behandeln war.“


Jelena Stassowa, die seit dem Tod Clara Zetkins 1933 an der Spitze der IRH stand, wurde im November 1937 „aus gesundheitlichen Gründen von der Arbeit im EK der IRH befreit“. In Wirklichkeit hatte ihre Parteinahme für die Angehörigen der im Zuge der „Säuberungen“ in der Sowjetunion als angebliche Konterrevolutionäre verhafteten PolitemigrantInnen sie in den Augen Stalins untragbar gemacht. Ihr Nachfolger wurde Wilhelm Pieck.


Vom Apparat des EK der IRH mit bis zu 74 MitarbeiterInnen waren zu Kriegsbeginn lediglich drei Mitarbeiter des Moskauer Büros übriggeblieben, die internationale Presseschauen für die MOPR der UdSSR zusammenstellten. .Im Februar 1941 musste Wilhelm Pieck eingestehen, dass die mit der Reorganisation angestrebte Schaffung einer breiten Hilfsbewegung international gescheitert war. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion vereitelte die Bestrebungen, in Moskau wieder ein Zentralbüro der IRH zu schaffen. Sang- und klanglos wurde die Internationale Rote Hilfe aufgelöst. Lediglich die MOPR der UdSSR arbeitete bis Ende 1947 weiter.


Angesichts des weltweiten „Krieges gegen den Terror“, der ein Krieg zur Durchsetzung westlich-kapitalistischer Dominanz über den Rest der Welt ist, sollten wir die Traditionen der Internationalen Roten Hilfe wieder aufgreifen. Wenn EU und USA alle, die sich dem neuen Kolonialismus militant widersetzen, mit Terrorlisten für vogelfrei erklärten, sollten wir gegen diese Globalisierung der Repression die internationale Solidarität der Verfolgten und Unterdrückten setzen.


aus: Die Rote Hilfe 03/07