Aus: junge Welt  Ausgabe vom 12.05.2015, Seite 3 / Schwerpunkt

»Das Leben ist weiterhin sehr hart«

Zehntausende Kurden kehren nach Kobani zurück. Wiederaufbau der zerstörten Staat ohne internationale Hilfe nicht möglich. Schikanen an der türkisch-syrischen Grenze. Ein Gespräch mit Idriss Nassan

Interview: Nick Brauns

Idriss Nassan ist Vizeaußenminister der Demokratisch Autonomen Verwaltung des Kantons Kobani in Rojava im Norden Syriens. Er ist Mitglied in der nach der Befreiung vom »Islamischen Staat« gebildeten Wiederaufbaubehörde und gehört der Syrisch-Kurdischen Demokratischen Partei (PDKS) an.

Im Januar wurde die Stadt Kobani vom sogenannten Islamischen Staat (Daesh) befreit. Wie ist die militärische Situation heute in diesem Kanton?

Die Kämpfe gehen weiter, aber das von uns kontrollierte Gebiet ist heute bereits größer als vor dem Angriff von Daesh. Im Süden und Osten verläuft die Frontlinie heute rund 40 Kilometer von der Stadt Kobani entfernt. Im Osten sind unsere Kämpfer bereits in das Umland der von Daesh gehaltenen Stadt Tall Abyad vorgedrungen. Dort sind einige kurdische Dörfer, die historisch zu Kobani gehören, aber vom Regime [gemeint ist die Regierung von Präsident Baschar Al-Assad – jW] der Provinz Raqqa angegliedert worden waren. Im Westen sind unsere Verteidigungseinheiten erstmals bis zum Euphrat vorgestoßen. Diese Region wurde früher von verschiedenen dschihadistischen Kräften wie der Al-Nusra-Front kontrolliert, bevor hier der Daesh die Kontrolle übernommen hatte.

Die Stadt Tall Abyad und die Region westlich des Euphrat sind doch mehrheitlich arabisch bewohnte Gebiete, in denen die Dschihadisten anfangs sogar als Befreier willkommen geheißen wurden. Wie reagiert die Bevölkerung jetzt auf das Vordringen der kurdischen Milizen?

Die Bevölkerung hat ihre Erfahrungen mit den Grausamkeiten vom Daesh – mit Köpfungen, der Verschleppung und Vergewaltigung von Frauen – gemacht und hofft jetzt auf Befreiung. Hier kämpfen die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ im Rahmen des gemeinsamen Operationsraums »Vulkan des Euphrat« mit einigen Einheiten der »Freien Syrischen Armee« wie der Brigade Shams Al-Shamal (Sonne des Nordens) sowie der Kurdischen Front zusammen. Darunter sind Brigaden, die vom Daesh aus Tall Abyad vertrieben wurden. Wir haben uns verbündet, um gemeinsam die Euphratregion bis Raqqa vom Daesh zu befreien.

Wurde dieses Bündnis nur zum Kampf gegen den »Islamischen Staat« geschlossen oder auch gegen das Baath-Regime?

Die im »Vulkan des Euphrat« zusammengeschlossenen Kräfte kämpfen für Freiheit und eine demokratische Administration. Ich denke, Sie verstehen, was ich meine.

Ist denn die syrische Armee in der Region um Kobani aktiv?

Nein, überhaupt nicht. Bevor die internationale Anti-Daesh-Koalition ihre Luftangriffe aufgenommen hat, bombardierten die Regimekräfte manchmal Raqqa.

Nach dem Angriff des Daesh auf Kobani war im September letzten Jahres nahezu die gesamte Bevölkerung des Kantons – rund 200.000 Menschen – in die Türkei evakuiert worden. Wie viele von ihnen sind inzwischen zurückgekehrt?

Während der Kämpfe waren nur rund 7.000 Menschen geblieben, doch heute leben wieder rund 100.000 in der Stadt Kobani und den mehreren hundert umliegenden Dörfern. Jede Woche kommen etwa 6.000 Bewohner zurück. Die Flüchtlinge werden von den türkischen Behörden zwar über die Grenze nach Kobani gelassen, aber sie dürfen dann nicht mehr in die Türkei zurück.

Die Stadt ist doch weitgehend zerstört. Wie können diese Menschen dort leben?

Zwei Stadtviertel, die die ganze Zeit unter Kontrolle der YPG waren, sind nicht ganz so stark zerstört, außerdem sind die meisten Dörfer nicht so sehr beschädigt worden. Wir haben auch Zeltstädte errichtet. Das Leben dort ist aber weiterhin sehr hart, da der Kanton von drei Seiten durch den Daesh blockiert wird und auch die Grenze zur Türkei nicht frei ist. Die Dörfer haben zwar eine eigene Wasserversorgung und Generatoren für die Stromerzeugung. Aber das vor allem über Schmuggel ins Land kommende Benzin dafür ist sehr teuer geworden. Umgerechnet 3,50 Euro für einen Liter.

Wie läuft der Wiederaufbau der Stadt?

Gebaut wird zur Zeit noch gar nicht. Kurz nach der Befreiung von Kobani wurde eine Behörde dafür gebildet, die Pläne erstellt und diplomatische Kontakte ins Ausland knüpft. Anfang Mai fand in Diyarbakir eine erste Wiederaufbaukonferenz der kurdischen Organisationen statt, im Juli soll es in Strasbourg eine internationale Konferenz geben, zu der eine Vielzahl von EU-Parlamentariern aufrufen. Denn aus eigener Kraft werden wir den Wiederaufbau nicht stemmen können. Die Stadtverwaltung von Diyarbakir hat uns schon 25 Bulldozer geschickt, um den Schutt von den Straßen zu räumen.

Und die wurden von den türkischen Behörden über die Grenze gelassen?

Ja, aber nicht offiziell. Es durften daher keine Fotos davon gemacht werden. Aber die türkischen Behörden hatten Angst vor den wütenden Reaktionen der kurdischen Bevölkerung im eigenen Land, wenn sie die Baufahrzeuge blockiert hätten. Die Erinnerungen sind noch wach an den Aufstand im Oktober, als über 40 Menschen ihr Leben bei Protesten gegen die türkische Kobani-Politik gaben. Die Grenze ist jetzt nicht ganz offen und nicht ganz geschlossen. Wenn internationale Hilfsorganisationen humanitäre Güter schicken, werden diese von den türkischen Behörden gestoppt, manchmal für zehn Tage, manchmal für einen Monat. Sie begründen die Blockade damit, dass Kobani an das Gebiet des Daesh grenzt. Aber gleichzeitig hat die Türkei drei gemeinsame Grenzübergänge mit dem Daesh: in Jarablus, Akçakale und Idlib.

Kobani konnte 133 Tage lang gehalten werden, während eine Stadt wie Mossul innerhalb eines Tages vor ein paar hundert Daesh-Kämpfern kapitulierte. Woher kommt dieser Widerstandsgeist?

Das hängt mit der Frage zusammen, warum die Kurden in Syrien sich mehrheitlich nicht der »Nationalen Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte« (Etilaf) angeschlossen haben. Wir haben nämlich eigene Vorstellungen von Demokratie, die wir Hand in Hand mit den anderen Bevölkerungsgruppen und Glaubensgemeinschaften hier – mit Arabern, Suryoye, Turkmenen, Jesiden etc. – aufbauen wollen.

Welche Rolle haben die Peschmerga der kurdischen Regionalregierung aus dem Nordirak gespielt, die im November vergangenen Jahres zur Verstärkung nach Kobani kamen?

Zuerst möchte ich betonen, dass der Kampf von YPG und YPJ am effektivsten war. Denn das sind ja die Söhne und Töchter unserer Region, die für ihre Familien und Werte kämpfen. Aber ihre leichten Waffen reichten nicht aus gegen die Panzer und Artillerie vom Daesh. Die Peschmerga kamen im Rahmen einer kurdischen Allianz gegen den Terror – vorher hatten ja YPG und PKK-Guerillas im Nordirak in Maxmur und Sengal gegen den Daesh gekämpft. Die Artillerie, mit der die Peschmerga YPG und YPJ unterstützten, war sehr nützlich. Aber wenn wir uns die Zahl der Gefallenen anschauen, wissen wir, wer wirklich gekämpft hat. 500 Mitglieder von YPG/YPJ wurden zu Märtyrern – und nur ein Peschmerga.

Waren die Luftangriffe der US-geführten Anti-IS-Allianz wirklich so eine Hilfe? Es wäre doch ein leichtes für die US-Luftwaffe gewesen, die mit bloßen Augen sichtbaren Panzer des Daesh vor Kobani zu zerstören, bevor die Terroristen in die Stadt eindrangen?

Wir waren insbesondere zu Beginn der Kämpfe sehr traurig, als wir sahen, dass die USA den Daesh nicht wirklich bekämpfen wollen. Denn es handelte sich bei den Luftangriffen zuerst um eine Propagandashow für die Weltöffentlichkeit, die so ein Eingreifen verlangte. Erst als der Daesh die halbe Stadt besetzt hatte, waren die USA gezwungen, effektivere Attacken zu fliegen. Ich muss zwar eingestehen, ohne diese Luftangriffe hätten wir es nicht geschafft, den Daesh zu vertreiben. Man kann heute noch die ausgebrannten Panzer sehen. Doch es ist klar, die USA wollten den Daesh nicht besiegen, sondern lediglich schwächen.

Mit dieser indirekten Unterstützung für die Selbstverwaltung in Rojava ist Washington wohl auch nicht ganz glücklich?

Die USA stehen hier vor einem Dilemma. Denn einerseits haben sie Probleme mit unseren ja auch antikapitalistischen Ideen. Andererseits wären wir die beste Wahl in der Region, wenn es wirklich um eine Stärkung demokratischer Kräfte gehen soll. Denn wir schneiden keine Köpfe ab. Wir bedrohen niemanden. Die USA wollen zwar gemäßigte Rebellen ausrüsten. Aber jeder weiß, wo deren Waffen am Ende landen – beim Daesh.