Junge Welt 27.10.2008 / Politisches Buch / Seite 15

Preis der Geopolitik

Haluk Gergers Untersuchung über die Türkei nach 1945 ist auf deutsch erschienen

Von Nick Brauns

In diesen Tagen feiert die Türkei ihren 85. Geburtstag. Der nach dem siegreichen Befreiungskrieg gegen die Entente auf den Trümmern des Osmanischen Reiches am 29. Oktober 1923 errichtete Staat sollte sich auf nationale Souveränität und Unabhängigkeit stützen, hatte Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938) verkündet. Dafür schlug die kemalistische Führung eine Entwicklungsdiktatur zur Förderung der türkischen Bourgeoisie ein. Die aber entwickelte sich nach 1945 zu einer Kompradorenklasse des US-Imperialismus und opferte die Souveränität des Landes.

»Dieses Buch handelt von der Geschichte einer Versklavung im Dienst des Imperialismus. Es ist die Geschichte der herrschenden Klassen, die sich auf das Erbe der historisch-strukturellen Krise stützten und nach dem Zweiten Weltkrieg auf ein Abenteuer einließen, das von Abhängigkeit und Zerstörung geprägt war«, schreibt der türkische Politikwissenschaftler Haluk Gerger in seiner Untersuchung »Die türkische Außenpolitik nach 1945«. Der als Marxist unter der Militärdiktatur 1982 von seinem Lehrstuhl verjagte Autor verfaßte sein jetzt endlich auf deutsch vorliegendes Buch bereits 1998 im Gefängnis, wo er wegen seines Eintretens für die Rechte der Kurden eine Haftstrafe verbüßen mußte. Das Buch wurde so »statt in der Finsternis der offiziellen Ideologie des Hochschulbetriebes, in der ›Freiheit‹ staatlicher Gefängnisse beendet«.

Akkumulationsmodell

Neben dem bereits als Brückenkopf des Imperialismus installierten Israel bot sich die Türkei im beginnenden Kalten Krieg dem Westen als Sprungbrett in den Nahen Osten und antikommunistischer Schutzwall an. Die türkische Führungsschicht hatte damals beschlossen, sich vollständig auf die militärisch-wirtschaftliche Hilfe des Westens zu verlassen. Denn nur dank ausländischer Hilfe konnte das Land mehr investieren und konsumieren, als es selbst zu produzieren in der Lage war. »Als Gegenleistung konnte die unvermögende Bourgeoisie nur eine einzige Gegenleistung anbieten, nämlich in den Konflikten des Kalten Krieges den Polizisten zu spielen.« So erkannte die Türkei als erstes muslimisches Land den Staat Israel an, trat 1952 der NATO bei, kämpfte im Koreakrieg und stellte sich gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen der arabischen Völker.

Der Kalte Krieg wurde für die Türkei eine Henne, die goldene Eier legte, schreibt Gerger über dieses vom Imperialismus abhängige Akkumulationsmodell. Doch die strategische Bedeutung der Türkei ließ sich nur in einem Klima von Spannungen, bewaffneten Konflikten und militärischen Mobilisierungen maximal vermarkten. Harmonie, Abrüstung und Frieden in internationalen Beziehungen bedeuten dagegen, daß sich der Wert der türkischen Geopolitik auf dem amerikanischen Markt verringerte. So übertrieb die Türkei die »kommunistische Bedrohung« im eigenen Land maßlos und heizte insbesondere nach dem Militärputsch 1980 eine mörderische antikommunistische Hysterie an, um an die Fleischtöpfe der USA zu kommen. Die Folge ist bis heute ein Klima des extremen Nationalismus und Staatsfetischismus.

Nach dem Ende des Kalten Krieges verkaufte sich die Türkei dem Westen weiterhin erfolgreich als Ordnungsmacht im Nahen- und Mittleren Osten gegen das neue Feindbild des Terrorismus.

Strategischer Markt

Leider skizziert das Vorwort für die deutsche Ausgabe nur den Zeitraum bis 2003. Nach der US-Besetzung des Irak gerieten aber die türkisch-amerikanischen Beziehungen in die bisher tiefste Krise. Hintergrund war das Bündnis der USA mit den kurdischen Parteien im Nordirak. In dieser Situa­tion forderte der trotz seiner Gefangenschaft einflußreiche kurdische Volksführer Abdullah Öcalan die türkische Regierung auf, die kurdische Frage gemeinsam mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) durch die Anerkennung der kurdischen Identität innerhalb der Türkei zu lösen. Doch das Militär provozierte lieber die PKK-Guerilla auch während eines Waffenstillstandes, bis es zu blutigen Vergeltungsaktionen kam. Als die Türkei mit Angriffen auf PKK-Stellungen im besetzten Irak drohte, lenkten die USA ein, und US-Präsident George W. Bush bot dem türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan im November 2007 Unterstützung gegen die PKK an. Im Gegenzug hofften die USA, auf türkische Infrastruktur bei einem Angriff auf den Iran zurückgreifen zu können. Erneut war es der türkischen Führung gelungen, durch das Offenhalten eines Konfliktes die strategische Lage der Türkei zu vermarkten. »Auf diesem Markt«, so Gerger, »bietet die Armee die Geopolitik der Türkei zum Verkauf an. Dabei bildet die Geopolitik ein fertiges Produkt. Das Außenministerium hat die Rolle des Verkäufers. Die Politiker wiederum sind in der Position des Marktschreiers, der die Kundschaft anlockt. Die Eigentümerin ist ohne Zweifel die Bourgeoisie.«

In diesen Wochen stehen Mitglieder der nationalistischen Geheimorganisation »Ergenekon« vor einem türkischen Gericht, darunter Journalisten, Politiker und Militärs. Mit zahlreichen Anschlägen und Morden während der letzten Jahre hätten sie Spannungen zur Vorbereitung eines Militärputsches erzeugen wollen, heißt es in der Anklageschrift. Auf dem »Markt der Geopolitik« bilden sie wohl den Bodensatz aus Spekulanten und Schwarzmarktschiebern.

* Haluk Gerger: Die türkische Außenpolitik nach 1945. Vom »Kalten Krieg« zur »Neuen Weltordnung«. Neuer ISP Verlag, Köln 2008, 232 Seiten, 18 Euro