Aus: gute nacht, g8, Beilage der jungen Welt vom 16.05.2007
Gipfelstürmer
Eine kurze Geschichte der Antiglobalisierungsproteste
Nick Brauns
Zu
Protesten gegen internationale Finanzinstitutionen und Gipfeltreffen
kam es schon in den 1980er Jahren. So gingen 1985 300000
Menschen gegen das G-7-Treffen in Köln und Bonn auf die Straße,
1988 demonstrierten 80000 in West-Berlin gegen Weltbank und
Internationalen Währungsfonds (IWF). Als die Geburtsstunden der
heutigen Antiglobalisierungsbewegung gelten unterdessen der Aufstand
der Zapatistas 1994 und die »Battle of Seattle« 1999.
Gegen die Einführung des Nordamerikanischen
Freihandelsabkommens NAFTA zum Jahreswechsel 1993/94 trat die
bis dahin unbekannte Bauernguerilla der Zapatistas im mexikanischen
Bundesstaat Chiapas an die Öffentlichkeit. Schnell vertauschte
der charismatische Sprecher der indigenen Aufständischen,
Subcomandante Marcos, das Gewehr mit dem Laptop, um in poetischen
Worten gegen die neoliberale Globalisierung anzuschreiben. Die
Losungen der Zapatistas »ya basta!« (»Es reicht!«)
und »Eine andere Welt ist möglich« wurden zum
kleinsten gemeinsamen Programm der weltweiten
Globalisierungskritiker.
Schon die Proteste gegen das
Multilaterale Investitionsabkommen MAI 1997/98 führten zu einer
internationalen Vernetzung von Globalisierungskritikern, und beim
»Global Action Day« gegen den Kölner G-8-Gipfel am
18. Juni 1999 wurde in 40 Ländern »Karneval gegen
Kapitalismus« gefeiert. Ihren medialen Durchbruch hatten die
Gipfelstürmer im November 1999 mit den fünf Tagen von
Seattle.
In der Stadt am Pazifik im äußersten
Nordwesten der USA trafen sich die Vertreter der
Welthandelsorganisation, um eine weitere Liberalisierung des
Welthandels einzuleiten. »Möchtet ihr heute irgendwo
anders sein als hier, bei der Battle of Seattle? Wir sind gekommen,
um dieses verrückte Handelssystem zu stoppen. Heute werden wir
in die Geschichtsbücher einmarschieren«, hatte der
Vorsitzende der US-Transportarbeitergewerkschaft Teamsters zu Beginn
der Proteste prophezeit. Zu den Gewerkschaftern gesellten sich
Umweltschützer, Christen und Dritte-Welt-Aktivisten,
Feministinnen, Bürgerrechtler, Anarchisten und Sozialisten.
Dieses erstmalige und ungeplante Aufeinandertreffen von 50000
Demonstranten aus den unterschiedlichsten Bewegungen, fand ihren
Ausdruck in der Parole »Teamster and Turtles Unite«.
Aufgrund zahlreicher Demonstrationen, Blockaden und
Straßenschlachten fand die Eröffnungsveranstaltung der
WTO-Konferenz am 30. November in einem fast leeren Saal statt. Das
Treffen mußte ergebnislos abgebrochen werden. Tatsächlich
lag dieses vorzeitige Ende vor allem an den großen
Widersprüchen unter den Verhandlungspartnern selbst, doch von
nun an wurden die Globalisierungskritiker öffentlich
wahrgenommen. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel sprach vom »ersten
Gewitter, das für den Kapitalismus des 21. Jahrhunderts
hereinbrach«.
Seattle war das Startsignal für eine
Welle von Protesten gegen Gipfeltreffen der internationalen
Finanzinstitutionen, der EU und der NATO. Zu Demonstrationen kam es
im Jahr 2000 unter anderem beim Weltwirtschaftsforum im
schweizerischen Davos (Januar), bei der Frühjahrstagung von
Weltbank und IWF in Washington (April) und beim Asiatisch-Pazifischen
Wirtschaftsgipfel im australischen Melbourne (September). Ein
spektakulärer Erfolg gelang der Protestbewegung am 26. September
in Prag, als die von Tausenden Demonstranten belagerte Jahrestagung
von Weltbank und IWF vorzeitig abgebrochen wurde und die Delegierten
mit der U-Bahn evakuiert werden mußten. Das Protestjahr 2000
fand im Dezember mit der Großdemonstration von Zehntausenden,
vor allem Gewerkschaftern, vor dem EU-Gipfel im französischen
Nizza seinen Abschluß.
»Seattle und Prag
repräsentieren die Wiederkehr des Glaubens in die Möglichkeit
gemeinsamen Widerstands gegen das System«, so der britische
Marxist Alex Callinicos. Neben der traditionellen Arbeiterbewegung,
also Gewerkschaften sowie sozialistischen und kommunistischen
Parteien, traten neue Akteure wie das ATTAC-Netzwerk auf, das 1997
gegründet wurde und zunächst eine Besteuerung
internationaler Finanztransaktionen forderte, sein Themenspektrum
aber bald erweiterte. Während Gruppierungen wie ATTAC oder
intellektuelle Sprachrohre der Bewegung wie der inzwischen
verstorbene Soziologe Pierre Bourdieu und die
US-Wirtschaftswissenschaftlerin Susan George vor allem die
neoliberale Ausprägung der Globalisierung kritisierten, steht
die in Frankreich und Großbritannien starke trotzkistische
Linke für antikapitalistische Positionen. Gruppen wie Ya Basta,
die Tute Bianche oder Disobbedienti wiederum, die vom italienischen
Theoretiker der »Multitude gegen das Empire« Toni Negri
inspiriert sind, setzen auf symbolische Militanz, vertreten aber
inhaltlich einen radikalen Reformismus. Mit dem ersten
Weltsozialforum 2001 im brasilianischen Porto Alegre hatten die
Globalisierungskritiker ihren eigenen Gipfel und mußten sich
nicht mehr nur negativ gegen die Treffen der Mächtigen
definieren.
Bis heute sehen sich die Gipfelstürmer
zunehmender staatlicher Repression ausgesetzt. Beim EU-Gipfel im
schwedischen Göteburg im Juni 2001 setzte die Polizei scharfe
Munition ein. Eine weitere Steigerung brachte der G-8-Gipfel im Juli
in der italienischen Hafenstadt Genua. 18000 Polizisten und
Carabinieri – d.h. Militärpolizisten – waren zum
Schutz der Mächtigen zusammengezogen und ein ganzer Stadtteil
als »rote Zone« abgesperrt worden.
Die Mehrzahl
der vom Sozialforum Genuas mobilisierten 300000 Demonstranten –
darunter Gewerkschafter und Kommunisten, christliche und ökologische
Gruppen – kamen aus Italien. Damit war die bisherige Isolation
der Protestbewegung durchbrochen; sie konnte nun nicht nur an die
Zapatistas und die brasilianische Landlosenbewegung anknüpfen,
sondern auch an lokale Initiativen etwa gegen die Rechtsregierung
unter Silvio Berlusconi.
Mit symbolischen Aktionen versuchten
die weißgekleideten Aktivisten der Tute Bianci in die rote Zone
zu gelangen. Die Polizei schlug mit voller Härte zu, griff die
Großdemonstration von Booten und Hubschraubern aus mit
Tränengas an und knüppelte erbarmungslos selbst auf
christliche Basisaktivisten ein. Ein ominöser »Schwarzer
Block«, dessen Aktionen als Anlaß der Polizeiübergriffen
herhalten mußten, entpuppte sich später als von
Polizeiprovokateuren durchsetzt. Beim Sturm auf das Pressezentrum der
Gipfelgegner in der Diaz-Schule wurden Dutzende Schlafende
krankenhausreif geprügelt. Hunderte Demonstranten wurden
festgenommen und in Polizeikasernen mißhandelt. Trauriger
Höhepunkt der bürgerkriegsähnlichen
Auseinandersetzungen war die Ermordung des 23jährigen
Jungkommunisten Carlo Guliani durch die Schüsse eines
Carabiniere.
Die Massenproteste mit ihrer zunehmenden Militanz
drängten die Mächtigen von nun an in entlegene und gut
gesicherte Luxusdomizile, etwa in die kanadische Wildnis, zwischen
Berge und Seen ins französische Evian und ins schottische
Gleneagles. Die Proteste, die nun fernab der Gipfel stattfinden
mußten, gingen deutlich zurück und blieben aus Angst vor
Repressionen beim G-8-Gipfel im russischen St. Petersburg im
vergangenen Jahr fast ganz aus. Eine weitere Gefahr droht durch die
Spaltung in »gute« und »böse«
Globalisierungskritiker, die Staat und Medien betreiben. Während
gegen radikale Kapitalismuskritiker Antiterrorgesetze, Mauern und
Reisebeschränkungen aufgeboten werden, bieten die Mächtigen
handverlesenen Nichtregierungsorganisationen den Dialog an. Beim
schottischen G-8-Gipfel übernahm Anthony Blairs »New
Labour Party« kurzerhand die Losung »Make Poverty
History«, um sich an die Spitze der Proteste zu stellen.