Junge Welt 23.08.2003

 Geburt des Bolschewismus  

Vor 100 Jahren fand der II. Parteitag der SDAPR statt  

 

Auf dem II. Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (SDAPR) war es vor 100 Jahren zu der folgenschweren Parteispaltung gekommen, nach der die Anhänger Lenins als Mehrheitler – Bolschewiki – in die Geschichte eingingen. »Als Strömung des politischen Denkens und als politische Partei besteht der Bolschewismus seit dem Jahr 1903«, erklärte Lenin rückblickend.

43 Delegierte mit beschließender und 14 mit beratender Stimme vertraten die sozialistischen Zirkel und Komitees aus dem Russischen Reich und der Emigration. Insgesamt verfügten die Delegierten über 51 Stimmen, da manche von ihnen als Vertreter größerer Organisationen doppelt abstimmen durften. Zu Beginn des Parteitages waren drei politische Hauptrichtungen sichtbar: die marxistische Iskra-Strömung um die von Lenin, Plechanow, Martow, Vera Sassulitsch, Axelrod und Potressow herausgegebene Zeitung, der jüdische sozialistische Bund und die auf Betriebskämpfe beschränkten Ökonomisten. Die Iskra-Anhänger verfügten mit 27 Delegierten über eine solide Mehrheit gegenüber fünf Bundisten, sieben Ökonomisten und vier schwankenden Delegierten. Eine deutliche Schwäche der russischen Sozialdemokratie in dieser Epoche zeigte sich darin, daß lediglich drei der Delegierten Arbeiter waren, der Rest aber Intellektuelle vor allem aus der Emigration

Der Parteitag begann am 30. Juli 1903 in Brüssel. Die Delegierten trafen sich aus Sicherheitsgründen in wechselnden Räumlichkeiten, meist örtlichen Gewerkschaftssälen. Einmal fand eine Versammlung in einem riesigen Mehlspeicher statt. Schon nach wenigen Minuten mußte die Sitzung vertagt werden. Millionen Flöhe hatten die Revolutionäre in die Flucht geschlagen.

Nachdem die belgische Polizei – alarmiert durch zaristische Agenten – dem Parteitag auf die Spur gekommen war und einige Delegierte des Landes verwiesen wurden, mußte die Tagung am 6. August abgebrochen werden. Am 11. August trafen die Delegierten zur Fortsetzung des Kongresses in London zusammen, wo ihnen britische Gewerkschafter einen Kirchenraum als Tagungsort verschafft hatten. Auf Bitte der örtlichen Gewerkschaft wurde ein Polizist abgestellt, der die Revolutionäre vor den Streichen der Londoner Straßenjungen schützen sollte. Diese hatten die auch vor dem Kongreßgebäude lautstark streitenden, zumeist bärtigen Russen zuvor mit Dreck beschmissen.

Als sich 1898 verschiedene sozialistische Zirkel formal zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands zusammengeschlossen hatten, waren weder ein Programm noch ein Statut verabschiedet worden. Die Iskra-Redaktion hatte daher dem II. Parteitag einen Programmentwurf vorgelegt. »Als der Parteitag das Programm erörterte, kam es in der Debatte mitunter ganz überraschend zu völlig absurden Streitereien, beispielsweise darüber, ob Kinderkrippen für Kinder der Arbeiterinnen zulässig seien oder ob der Staat arme Kinder mit Nahrung, Kleidung und Lebensmitteln versorgen müsse, ob wir für die Entwicklung der nationalen Kulturen sorgen sollten oder ob uns das gar nichts angehe ...«, schilderte Lenins Ehefrau und Genossin Nadeshda Krupskaja die Probleme der häufig von den wirklichen Kämpfen der Arbeiter abgehobenen Exil-Intellektuellen auf dem Kongreß. Dennoch wurde der vorgelegte Programmentwurf bis auf eine Stimmenthaltung einstimmig angenommen. Das erst nach der Oktoberrevolution wieder aktualisierte Programm bekannte sich zur Diktatur des Proletariats, zum Bündnis der Arbeiterklasse mit den Bauern, zum Selbstbestimmungsrecht der Nationen und zum proletarischen Internationalismus.

Der eigentliche Streitpunkt auf dem Parteitag betraf den § 1 des Parteistatuts, in dem der Begriff des Parteimitglieds definiert wurde. Nach der von Martow vorgeschlagenen Formulierung sollte als Parteimitglied gelten, wer neben der Anerkennung des Programms und Zahlung eines Beitrages »durch die Arbeit unter der Kontrolle und Leitung einer der Parteiorganisationen« tätig sei. Martow hatte eine breite Massenpartei nach Art der deutschen SPD im Sinn. Diese vage Formulierung, so Lenins Befürchtung, würde die Partei für Opportunisten aller Art öffnen. »Wir bemühten uns zu beweisen, daß man den Begriff des Parteimitgliedes einengen müsse, um die Arbeitenden von den Schwätzern zu trennen«, begründete er die Notwendigkeit des Kampfes gegen den »Opportunismus in Organisationsfragen«. Demgegenüber stellte Lenin sein Modell einer zentralistischen Partei von »Berufsrevolutionären«, die fest in die Parteiorganisation eingebunden sind. Die persönliche Mitarbeit in der Partei war für ihn das ausschlaggebende Kriterium. »Als Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands gilt jeder, der ihr Programm anerkennt und die Partei sowohl mit materiellen Mitteln als auch durch die persönliche Teilnahme an der Arbeit einer der Parteiorganisationen unterstützt.« Trotz der Unterstützung durch den »Vater des russischen Marxismus« Georgi Plechanow in dieser Frage erlitt Lenin eine herbe Niederlage. Martows Vorschlag wurde mit 28 zu 23 Stimmen dank der Unterstützung der Bundisten und Ökonomisten angenommen.

Obwohl schließlich der ganze Parteitag das Statut annahm, war die bisher nur unter der Oberfläche vorhandene Spaltung in »harte« und »weiche« Iskristen offen zutage getreten. Noch einmal hielten alle Iskristen zusammen, um mit absoluter Stimmenmehrheit die Forderung der Bundisten abzulehnen, den Bund als einzigen Vertreter des jüdischen Proletariats in der Partei anzuerkennen. Aus Protest gegen ihre Abstimmungsniederlage erklärten die Vertreter des Bund daraufhin ihren Austritt aus der SDAPR und verließen zusammen mit der ökonomistischen Rabotscheje Delo am 18. August den Parteitag. Plötzlich verfügten die »harten« Iskristen über eine Mehrheit von vier Stimmen. Fortan nannten sich die Anhänger Lenins nach dieser Zufallsmehrheit »Bolschewiki«, also Mehrheitler, während die Gruppe um Martow auf die Bezeichnung »Menschewiki« – Minderheitler – festgelegt wurde.

Die endgültige Spaltung der SDAPR erfolgte über die Frage der Wahl zu den Führungsorganen, also dem Zentralkomitee und der Iskra-Redaktion. Lenin hatte schon vor dem Parteitag gefordert, die aufgrund ihrer Größe handlungsunfähige Iskra-Redaktionsleitung auf drei Mitglieder zu beschränken. Die Parteitagsdelegierten gaben seinem Antrag mehrheitlich statt, Lenin, Plechanow und Martow sollten die neue Redaktion bilden. Doch Martow weigerte sich, seinen Platz in der neu gewählten Iskra-Leitung einzunehmen. Unzufrieden mit der Zusammensetzung der zentralen Körperschaften gingen die Menschewiki nach dem Parteitag zu einer Boykott-Taktik über und verweigerten auch ihre Mitarbeit im Zentralkomitee, um anschließend dessen »Arbeitsunfähigkeit« zu beklagen.

»Der Boykott ist ein Schritt zur Spaltung der Partei«, konnte somit Lenin den Menschewiki den schwarzen Peter zuschieben. »Die russische Sozialdemokratie muß den letzten schwierigen Übergang vollziehen vom Zirkelwesen zur Partei, vom Spießertum zur Erkenntnis der revolutionären Pflicht, von einer Handlungsweise auf Grund von Klatsch und dem Zirkelwesen entspringender gegenseitiger Beeinflussung zur Disziplin.«

Als Lenin und andere bolschewistische Delegierte nach dem Ende des Parteitages am 23. August das Grabmal von Karl Marx auf dem Londoner Highgate Friedhof besuchten, ahnte wohl keiner von ihnen, daß einmal die Bezeichnung Bolschewismus zum Synonym für Kommunismus werden sollte.

 

Nick Brauns