Folterstaat Türkei

Der kurdische Jurist Veysel Akay untersucht die Rolle der Folter in der türkischen Gerichtsbarkeit

 

Von Nick Brauns

 

Im Juli 1999 schockierten kurzfristig die Bilder des kurdischen Politikers Cevat Soysal die internationale Öffentlichkeit. Der vom türkischen Geheimdienst aus Moldawien verschleppte angebliche PKK-Führungskader musste von zwei Männern gestützt werden und wies auch im Gesicht schwere Verletzungen auf. Was jeder wusste, aber nur die wenigsten laut aussprachen, machten die Photos in den  türkischen Zeitungen öffentlich: in der Türkei werden Gefangene systematisch gefoltert.

 

"Der türkische Staat und die Folter sind Begriffe, die man nicht voneinander trennen kann", ist auch die Grundthese des Autor Veysel Akays. Der kurdischstämmige Autor war bis 1993 als Rechtsanwalt in der Türkei sowie als Vorstandsmitglied des Menschenrechtsvereins IHD tätig. Nachdem er aus politischen Gründen die Türkei verlassen musste, gründete er 1996 in Deutschland den "Verein der Juristen aus Kurdistan", dessen Vorsitz er bis 1998 inne hatte. In seine Untersuchung über "Folter und die türkische Gerichtsbarkeit" flossen auch seine eigenen Erfahrungen als Anwalt und politisch Verfolgter ein.

 

Nach einem Abriss über Definitionen und Geschichte der Folter sowie dem Verbot der Folter im Völkerrecht geht Akay auf die konkrete türkische Situation ein. Zum Verständnis der erstaunlichen Tatsache, dass offensichtlich nicht nur die türkischen Machthaber Folteranwendungen rechtfertigen, sondern auch größere Teile der Bevölkerung die Anwendung der Folter als "legitim" betrachten, geht Akay tief in die osmanisch-türkische Geschichte zurück. Er weist nach, dass seit der Einwanderung der Türken aus Zentralasien in das heutige Anatolien bis zum heutigen Tag Folter ein wichtiges und unverzichtbares Herrschaftsmittel darstellt, da die Mächtigen keine wirklich demokratische Legitimation besaßen und besitzen.

 

Das Militär ist der Gründer und Machthaber des modernen kemalistischen Staates. Eine Gewaltenteilung im bürgerlich-parlamentarischen Sinn existiert daher in der Türkischen Republik ebenso wenig, wie eine unabhängige Gerichtsbarkeit. Das türkische Rechtssystem entstand unter Kemal Atatürk durch die Übername des europäischen Rechts und dessen entsprechende Kodifikation. Von einem Rechtsstaat im europäischen Sinn kann allerdings schon deswegen nicht gesprochen werden, da dieses Rechtssystem bis heute ein Fremdkörper innerhalb der ideologischen und politischen Grundlagen des kemalistischen Staates geblieben ist. "Man darf hier nicht vergessen, dass sogar die schlimmsten Diktaturen auch Rechtssysteme haben" warnt Akay.

 

Während die kemalistische Revolution, die nach Akays Verständnis vor allem ein Staatsstreich war, mit ihrer pro-westlichen Ausrichtung die Bevölkerung von ihrer Vergangenheit, Kultur und Entwicklungsdynamik abschnitt, übernahm sie vollständig die Gewaltmechanismen des alten Systems. Aus dieser jahrhundertealten institutionalisierten Tradition leitet sich bis heute die Akzeptanz der Folter bei Herrschenden und Beherrschten ab.

 

Nach dem kemalistischen Staatsverständnis dienen, wie es der ehemalige türkische Justizminister Hasan Denizkurdu ausdrückte, die Gesetze zum Schutz des Staates vor den Bürgern und nicht zum Schutze der Bürger vor staatlicher Willkür. "Keine Idee und Ansicht, die sich gegen den Vorteil der türkischen Nation, ihre nationale und staatliche Einheit, die türkische Geschichte und ihre geistigen Werte und den Nationalismus, die Prinzipen und Reformen Atatürks richtet, ist schutzwürdig", definiert schon die Präambel der Verfassung die Feinde des Staates. Millionen türkischer Bürger, Linke, Demokraten, vor allem aber ethnische und religiöse Minderheiten wie die Kurden, Armenier und Aleviten bilden nach diesem Verständnis eine permanente Gefahr für die Sicherheit des Staates.

 

Eine Unterscheidung zwischen Beschuldigtem, Angeschuldigten und Angeklagten, wie im deutschen Recht, existiert in der türkischen Strafprozessordnung nicht. Vom Beginn eines Ermittlungsverfahrens, das weitestgehend in den Händen der Polizei liegt, bis zum Ende der Hauptverhandlung wird eine Person demnach als Angeklagter behandelt. Um Angeklagter zu sein, reicht wiederum schon der geringste Anfangsverdacht wie die Tatsache, in den kurdischen Gebieten geboren zu sein.

Ziel des Untersuchungsverfahrens ist es nicht, mit Beweisen die Schuld des "Angeklagten" zu erhalten, sondern diese Beweise sollen unmittelbar vom Beschuldigten geliefert werden. Die Funktion der Folter ist hier eindeutig. "Psychische und physische Folter zur Erlangung von Geständnissen und Aussagen stellen ermittlungstechnisch in der Praxis der türkischen Behörden und Gerichte die weitest verbreitete Form zur Gewinnung von Beweisen dar", weist Akay nach.

Ein im türkischen Strafgesetzbuch tatsächlich vorhandenes Folterverbot erweist sich in der Realität als wirkungslos, da keine nähere Definition der Folter gegeben ist. Und nach einem Urteil des türkischen Kassationshofes gilt Folter, die benutzt wird, um Beweise für die Begehung eines Verbrechens herauszufinden, nicht als Folter, sondern lediglich als "schlechte Behandlung", die nur geringfügig geahndet werden kann. In seinem Kern legalisiert das türkische Rechtssystem Folter also ausdrücklich.

 

"Es muß hier nochmals betont werden, dass in der türkischen Gerichtsbarkeit keine Bekämpfung von Folter möglich ist, da - wie es in den betreffenden Teilen der vorliegenden Arbeit nachgewiesen wurde - die Folter im türkischen Verfahrensrecht angewandt wird, obwohl das türkische Rechtssystem das Folterverbot beinhaltet", fasst Akay seine Untersuchung zusammen. "Das Verbot von Folter einzuhalten, ist sehr eng mit der Demokratisierung der Türkei verbunden."

 

Bei seinen Überlegungen, wie diese Demokratisierung erreicht werden soll, verwickelt sich der Autor allerdings in Widersprüche. Er fordert die konsequente Umsetzung völkerrechtlicher Verträge von UNO und EU, um die Türkei an ihre Verpflichtungen zu binden, die Verurteilung der Militärputschisten von 1980 sowie derjenigen heutigen Regierungsmitglieder, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, durch ein internationales Tribunal, sowie die Einstellung aller Hilfe von USA und Europa für die heutigen türkischen Machthaber.

Gleichzeitig gibt Akay zu bedenken, dass die Diktaturen in Dritte-Welt-Ländern ohne demokratische Legitimation nach dem Willen der Großmächte entstanden sind und zur Herrschaftssicherung auf Gewalt angewiesen sind. "So gesehen tragen die Großmächte, die das Schicksal der Welt in ihren Händen halten, mit ihrer Duldung zur Folter sicherlich mehr Verantwortung für dieses grausame Vorgehen als die Staaten, in denen Folter systematisch angewendet wird."

Von diesen "Herren der Welt", die vom Jugoslawien-Krieg bis zum Irak-Embargo das Völkerrecht mit Füssen treten, ist kaum die Umsetzung des Folterverbots im Falle der Türkei zu erwarten. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn Akay die innertürkischen Kräfte benannt hätte, die heute versuchen, einen Demokratisierungsprozess einzuleiten. Die regelmäßigen Proteste gegen die Einführung der Typ-F-Isolationsgefängnisse in Istanbul, die millionenfache Beteiligung am diesjährigen kurdischen Newroz-Fest im Namen von Demokratie und Frieden und selbst die kritischen Reden des Staatspräsidenten beweisen, dass die Akzeptanz von Folter und Menschenrechtsverletzungen in der Türkei keineswegs mehr so tief verwurzelt ist, wie es Akay schildert.

Trotz dieser Kritik stellt Veysel Akays Untersuchung ein nützliches Handbuch für Rechtsanwälte, Menschenrechtsaktivisten und alle die sich kritisch mit einem EU-Beitritt der Türkei auseinandersetzen wollen, dar.

 

Veysel Akay: Folter und die türkische Gerichtsbarkeit

Zambon Verlag 2001, 232 Seiten, DM 16.-

ISBN 3-88975-076-1