junge Welt 15.09.2007 / Geschichte / Seite 15
Wie schon auf dem Stuttgarter Sozialistenkongreß (siehe jW
v. 17.8.) stand die sozialistische Haltung zu Militarismus und Krieg
im Mittelpunkt des Essener Parteitages der Sozialdemokratischen
Partei Deutschlands vom 15. bis 21. September 1907.
Doch
weder erfolgte eine Auswertung der Stuttgarter Kongreßbeschlüsse,
noch wurden die notwendigen Schlußfolgerungen für die
Parteiarbeit gezogen. Die scharfen Auseinandersetzungen zwischen dem
linken und rechten Flügel der Internationale in Stuttgart wurden
vom Berichterstatter Paul Singer als »Streit um Worte«
vertuscht. Singer unterschlug auch, daß die von der deutschen
Delegation in Stuttgart eingebrachte Resolution zum Militarismus auf
Initiative Lenins und Rosa Luxemburgs um die entscheidenden
Forderungen ergänzt worden war, mit allen notwendigen Mitteln
gegen den Krieg zu kämpfen und die durch den Krieg
herbeigeführte Krise zur Aufrüttelung des Volkes und zum
Sturz der kapitalistischen Klassenherrschaft auszunutzen.
Im
Mittelpunkt der Aussprache zur sozialdemokratischen Parlamentsarbeit
stand die Reichstagsrede des Abgeordneten Gustav Noske vom 25. April
1907 zum Militäretat. Darin hatte Noske erklärt: »Wir
wünschen, daß Deutschland möglichst wehrhaft ist, wir
wünschen, daß das ganze deutsche Volk an den militärischen
Einrichtungen, die zur Verteidigung unseres Vaterlandes notwendig
sind, ein Interesse hat.«
Während sich die
Vertreter des revisionistischen Parteiflügels Eduard David,
Albert Südekum und Georg von Vollmar demonstrativ hinter Noskes
Aussagen stellten, traf die Rede auf die scharfe Zurückweisung
der marxistischen Linken. Nicht mit einem Wort komme der
Klassenkampfcharakter der Sozialdemokratie zum Ausdruck, die den
Militarismus als Instrument der herrschenden Klassen bekämpfe,
kritisierte Karl Liebknecht. »Nicht eine Silbe von
internationaler Solidarität, als ob die Aufgaben der
Sozialdemokratie an den schwarzweißroten Grenzpfählen
aufhörten! Die ganze Rede ist ein fortgesetztes Betonen unseres
Patriotismus in einer Art Hurrastimmung.«
Das Proletariat müsse sich sein »Vaterland« erst
im Klassenkampf erobern, betonte Clara Zetkin den Unterschied
zwischen revolutionärem »Patriotismus« der
Arbeiterklasse und reaktionärem Chauvinismus der herrschenden
Klassen. Was die Bourgeoisie als Vaterland bezeichne, sei in
Wirklichkeit der bürgerliche Nationalstaat und damit der
kapitalistische Klassenstaat.
Als Kronzeugen für seine
Ausführungen führte Noske den Parteivorsitzenden August
Bebel an, der 1904 im Reichstag erklärt hatte, die
Sozialdemokraten würden im Falle eines Angriffs auf
Deutschland selbstverständlich »unseren deutschen Boden«
verteidigen. Wenn es zum Krieg gegen den russischen Zarismus »als
Feind aller Kultur und aller Unterdrückten« komme, werde
er als »alter Knabe« noch »die Flinte auf den
Buckel nehmen«, betonte Bebel auch in Essen und bezog sich
dabei auf Marx und Engels, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts für
einen revolutionären Krieg gegen das zaristische Rußland
als Hort der europäischen Reaktion stark gemacht
hatten.
Seither habe sich die politische Lage völlig
gewandelt, warf der Redakteur der Leipziger Volkszeitung Paul Lensch
in die Diskussion. Durch den Ausbruch der russischen Revolution
(1905) »ist der russische Zarismus ausgeschieden als Todfeind,
als wirkungsvoller Feind; er liegt zerbrochen am Boden.«
Nachdem Rußland seine Rolle als Gendarm Europas eingebüßt
hatte, sei dieselbe Erklärung, bereitwillig einen Krieg zu
führen, die früher ein Bekenntnis zur Revolution war, zu
einem Bekenntnis zur europäischen Reaktion geworden.
Die
deutsche Regierung könnte den deutschen Proletariern weismachen,
daß sie die Angegriffenen seien, und die französische
Regierung würde das Gleiche mit den Franzosen tun, warnte der
Parteitheoretiker Karl Kautsky. Deutsche und französische
Proletarier würden dann mit gleicher Begeisterung ihren
Regierungen folgen und sich gegenseitig die Hälse abschneiden.
Dies könne verhütet werden, indem die Sozialdemokratie sich
nicht nach dem Kriterium des Angriffs- oder Verteidigungskrieges
richte, sondern nach den proletarischen Interessen, die gleichzeitig
internationale Interessen sind.
Entscheidende Schützenhilfe erfuhr Noske von Bebel, der
dessen Reichstagsrede im ganzen gut und richtig nannte. Die
ablehnende Haltung der Sozialdemokratie gegenüber Militarismus
und Hurrapatriotismus seien Selbstverständlichkeiten, deren
ständige Wiederholung sich für Abgeordnete erübrige.
Eine von Liebknecht auf dem Parteitag erneut geforderte
antimilitaristische Agitation unter der wehrpflichtigen
Arbeiterjugend wies Bebel zurück.
Nachdem der
Parteivorsitzende seine Autorität zugunsten der Revisionisten in
die Waagschale geworfen hatte, wurde mit großer Mehrheit ein
Antrag von Kieler Sozialdemokraten abgelehnt, bei Reichstagsdebatten
zum Militäretat zukünftig »nur solche Fraktionsredner
zu bestimmen, die die völlige Garantie dafür bieten, daß
sie entschieden Stellung gegen den Militarismus nehmen und im Sinne
der Resolution des Internationalen Kongresses in Stuttgart«
sprächen.
In ihren Veröffentlichungen suggerierte
die Sozialdemokratie nach dem Parteitag eine scheinbare
Geschlossenheit der Partei. »Die Verhandlungen des Parteitages
zu Essen brachten klärende, befruchtende Auseinandersetzungen
über wichtige strittige prinzipielle wie taktische Fragen«,
behauptete selbst Clara Zetkin in der Gleichheit. Doch genau diese
Klärung hatte nicht stattgefunden. Weder konnten sich die
Positionen der marxistischen Linken durchsetzen, noch wurden die
Standpunkte der Revisionisten verurteilt. Statt dessen dominierte nun
ausgehend von August Bebel der Zentrismus als eine in Worten
sozialistische, in Taten aber längst in der bürgerlichen
Gesellschaft angekommene opportunistische Strömung die
Partei.
Täuschen ließ sich davon auch Lenin. In
einem Brief an Anatoli W. Lunatscharski vertrat er zwar die
Auffassung, daß die Bolschewiki Bebels Fehler kritisieren
müßten. Jedoch wäre es »völlig ungerecht,
allgemein von dem ›heutigen‹ opportunistischen Bebel zu
sprechen.« Es handle sich stets um Fehler eines Menschen, »mit
dem wir denselben Weg gehen, Fehler, die nur auf diesem
marxistischen, sozialdemokratischen Weg zu korrigieren sind.«
(Lenin, Briefe, Bd. II, S. 115)
Bebels entscheidender Fehler
war es, das Wesen des Imperialismus nicht richtig erkannt zu haben.
So hielt er an den überholten ausschließlich
parlamentarischen Kampfformen der Sozialdemokratie des ausgehenden
19. Jahrhunderts fest und glaubte weiterhin an die Möglichkeit
eines gerechten Verteidigungskrieges. Dabei hatte sich das Deutsche
Reich selbst zum aggressivsten Räuber unter den europäischen
Großmächten entwickelt, und der drohende Krieg war nur
noch als allseitig imperialistische Auseinandersetzung denkbar, in
der die Sozialdemokratie gegen den Hauptfeind im eigenen Land, den
deutschen Imperialismus und Militarismus zu kämpfen hatte.
Die scharfe Betonung unserer grundsätzlichen Auffassung aber,
das ist es, was wir in der Rede Noskes vermißt haben. Sie hat
stark, allzu stark die nationale Solidarität betont. Sie hat
dagegen mit keinem Worte ausgesprochen, daß es eine
proletarische Klassensolidarität gibt, die nicht vor den
Grenzpfählen halt macht. Wir wollen nichts verheimlichen, wir
wollen keine Zweifel darüber lassen, daß zwischen unserem
Patriotismus und dem Patriotismus der herrschenden Klassen nicht ein
Unterschied des Grades, sondern ein Unterschied des Wesens besteht.
(…) Der Patriotismus der herrschenden Klassen ist konservativ,
ist reaktionär; er hat nur ein Ziel: diesen Klassen das
Vaterland als Domäne der Klassenausbeutung über die
Landesgrenzen hinaus auf das Proletariat anderer Länder
auszudehnen. Der Patriotismus des Proletariats ist dagegen
revolutionär. Er geht von der Auffassung aus, daß das
Vaterland erst im Kampfe gegen den inneren Feind, die bürgerliche
Klassenherrschaft, erobert werden, daß es umgewälzt werden
muß, um ein Vaterland für alle zu sein. (…) Das
Proletariat erobert Zoll für Zoll, Schritt für Schritt das
Vaterland im proletarischen Klassenkampfe. Es empfängt die
nationalen Segnungen nicht kraft der mystischen Natur des Vaterlandes
selbst und dank der vaterländischen Gesinnung der herrschenden
Klassen, die ihre nationale Verwandtschaft mit dem Bruder Arbeiter
entdecken, wenn sie seiner bedürfen. (…) Nur im
Klassenkampf allein wird ihm das Vaterland zuteil, das auch ihm teuer
ist.
aus der Rede auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu Essen, 17. September 1907, Clara Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. I, S. 368 f.