AUS: NAHER OSTEN, BEILAGE DER JW VOM 26.02.2020

 

Envers Wiedergänger

Zwischen Angst und Übermut: Neoosmanische Außenpolitik der Türkei unter Präsident Erdogan

 

Von Nick Brauns

 

Sollte türkischen Soldaten in Syrien auch nur ein Haar gekrümmt werden, drohte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am 12. Februar 2020 vor den Abgeordneten seiner religiös-nationalistischen Regierungspartei AKP in Ankara, werde es »im ganzen Land« Angriffe auf syrische Regierungstruppen geben. In der teilweise vom syrischen Al-Qaida-Ableger Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) kontrollierten Provinz Idlib waren zuvor mehrere türkische Soldaten bei Angriffen syrischer Regierungstruppen getötet worden.

Was wie eine offene Kriegserklärung an das Nachbarland klingt, ist in Wahrheit ein Rückzugsgefecht. Ankaras Soldaten können ohne Luftunterstützung den syrisch-russischen Vormarsch zwar verlangsamen, aber nicht stoppen. So verfolgt die Türkei mit ihrem Eingreifen in Idlib das Ziel, ihre dschihadistischen Hilfstruppen einerseits vor der völligen Zerschlagung zu schützen und sich andererseits eine günstige Position bei der Gestaltung einer Nachkriegsordnung zu sichern.

Denn die neoosmanischen Träume, wonach die Türkei im Zuge des sogenannten arabischen Frühlings zur Vormacht in der arabischen Welt aufsteigen könne, haben sich vorerst in Luft aufgelöst. In Kairo wurden die verbündeten Muslimbrüder wieder weggeputscht, in Damaskus konnte die Regierung von Präsident Baschar Al-Assad dank des russischen Eingreifens ihre Macht wieder konsolidieren.

Schadensbegrenzung

So geht es für die Türkei heute nur noch um Schadensbegrenzung. Es gilt zu verhindern, dass die Kurden in Syrien ihre vor allem im Zuge des Kampfes gegen den IS geschaffenen Selbstverwaltungsstrukturen beibehalten. Denn dies würde die kurdische Bevölkerung in der Türkei in ihrem Drang nach Selbstbestimmung ermutigen und – so die irrationale Angst der türkischen Nationalisten – über kurz oder lang zur Teilung der Türkei führen.

Um einen kurdischen »Terrorkorridor« entlang der Grenze zu verhindern, ist die türkische Armee seit 2016 mehrfach in Nordsyrien einmarschiert. Anstelle der vertriebenen Kurden wurden in Afrin, der Region um Dscharabulus und Al-Bab westlich des Euphrat sowie einem im vergangenen Oktober besetzten 120 Kilometer breiten und 30 Kilometer tiefen Streifen östlich des Euphrat dschihadistische Kämpfer und ihre Familien angesiedelt. Während Ankara stets beteuert, die territoriale Integrität Syriens zu achten, wird in der Realität die faktische Angliederung der besetzten Gebiete an das türkische Staatsgebiet betrieben.

Passend dazu, zeigen Landkarten regierungsnaher Sender die Türkei in den Grenzen des Nationalpaktes, also des von der Unabhängigkeitsbewegung unter Mustafa Kemal Anfang der 1920er Jahre angestrebten Staates. Neben dem schließlich im Jahr 1923 im Friedensvertrag von Lausanne festgelegten Gebiet der heutigen Türkei umfassen diese Grenzen Teile Nordsyriens einschließlich Aleppos sowie des Nordiraks mit Mossul, außerdem ganz Thrakien sowie Batum bzw. Adscharien.

Hartnäckig hält sich selbst in regierungsnahen türkischen Medien das Gerücht, der Lausanner Vertrag würde 2023 auslaufen, und die Grenzen könnten nach hundert Jahren neu gezogen werden – zugunsten oder zuungunsten der Türkei. »Einige haben uns zu täuschen versucht, indem sie den Vertrag von Lausanne als Sieg darstellen. Dabei haben wir in Lausanne Inseln fortgegeben, die so nah sind, dass man hinüberrufen kann«, erklärte Erdogan Ende 2016 in einer Rede. Zugleich warnte er »in dieser ernsten Zeit, da es Versuche gibt, die Welt und unsere Region neu zu strukturieren«, vor einer drohenden Aufteilung der Türkei, die »ihren größten Kampf seit dem Unabhängigkeitskrieg« durchlebe. Es sei ein Kampf für eine »einige Nation, ein einiges Vaterland, einen einigen Staat«.

Indessen ist nicht mehr daran zu denken, dass Ankara Aleppo einnehmen könnte – auch nicht mit Hilfe islamistischer Söldnertruppen. Und auch im Nordirak stecken die türkischen Invasionstruppen im kurdischen Bergland fernab der begehrten Ölfelder von Kirkuk fest.

Neuorientierte Außenpolitik

Derweil haben sich Ankaras zentrale außenpolitische Ambitionen ins östliche Mittelmeer und nach Nordafrika verlagert. Ausdruck dieser Neuorientierung ist der Ende November 2019 mit der Einheitsregierung von Fajes Al-Sarradsch in Libyen geschlossene Vertrag über Kooperation und militärischen Beistand.

Hintergrund des Paktes sind allerdings weniger die bestehenden ideologischen Gemeinsamkeiten mit den libyschen Muslimbrüdern als handfeste ökonomische Interessen. So will Ankara einen Anteil an den gigantischen Gasfeldern im östlichen Mittelmeer. Mit der Regierung in Tripolis einigte sich die Türkei so unter Missachtung griechischer und zypriotischer Ansprüche auf eine gegenseitige Abgrenzung ihrer Festlandsockel im Mittelmeer. Robust unterstützt werden diese Ansprüche durch die in den letzten Jahren auch mit Hilfe deutscher Unternehmen hochgerüstete türkische Marine.

Weniger die eigene Stärke als das Ausnutzen der Widersprüche der um ihre Gunst buhlenden Mächte in Ost und West ermöglicht es der Türkei, sich in Syrien, vor Zypern und in Libyen bislang weitgehend folgenlos über internationales Recht hinwegzusetzen. So nutzt die Türkei angesichts ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit von der EU und ihrer Einbindung in die NATO ihre derzeitige, keineswegs widerspruchsfreie Allianz mit Russland zur Ausweitung ihres außenpolitischen Handlungsspielraumes.

Ausweitung der Kampfzone

Erdogan tritt dabei trotz seiner Beschwörung eines neuen Unabhängigkeitskampfes nicht in die Fußstapfen von Mustafa Kemal Atatürk. Denn während der Vater der modernen Türkei mit harter Hand die innere Konsolidierung der neuen Ordnung betrieben hatte, verzichtete er auf außenpolitische Revancheabenteuer, um die errungene Unabhängigkeit nicht zu gefährden. Erdogan setzt dagegen angesichts seiner durch Wirtschaftskrise, Wahlerfolge der Opposition und Zerfallserscheinungen in seiner Regierungspartei angeschlagenen Position auf eine beständige Ausweitung der Kampfzone. Innenpolitische Spannungen sollen durch das Ventil nationalistischer Mobilmachung abgeleitet werden, die sich wesentlich gegen die Kurden im eigenen Land wie in den Nachbarländern richtet.

Damit erscheint Erdogan, der zur Untermauerung türkischer Großmachtansprüche die ruhmreiche osmanische Vergangenheit beschwört und sich militärisch zunehmend auf dschihadistische Söldner stützt, als ein Wiedergänger des jungtürkischen Kriegsministers Enver Pascha. Dieser hatte das zerfallende Osmanische Reich in den Ersten Weltkrieg geführt, in der Hoffnung, an der Seite des deutschen Imperialismus verlorene Reichsteile zurückzugewinnen. Zwar »gelang« es den Jungtürken unter Ausnutzung der Kriegssituation, die Armenier als vermeintlichen inneren Feind im Namen des auch von Erdogan beschworenen Mantras von »einiger Nation, einigem Vaterland, einigem Staat« nahezu auszurotten. Doch der erneute Aufstieg zur Großmacht scheiterte. Statt dessen besiegelte Envers Größenwahn das Schicksal des maroden Sultanenreichs.

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