Der Tigris ist nicht
nur innerkurdische Grenze, er markiert die Grenze zweier Gesellschaftssysteme
Embargo gegen die
Revolution
Nick Brauns
Die Revolution in Rojava
(Westkurdistan/Nordostsyrien) ist von vielen Seiten bedroht. So kontrollieren
und terrorisieren djihadistische Banden weiterhin
ganze Regionen und es kommt zu blutigen Anschlägen wie dem gegen die Zentrale
des Kurdischen Roten Halbmondes in Kobanî (Ain al-Arab). Doch neben der
militärischen Bedrohung sieht sich die Revolution einem Hungerembargo ausgesetzt.
Diese Blockade wird nicht nur von der Türkei und den terroristischen Banden
durchgesetzt, sondern auch von der Kurdischen Regionalregierung (KRG) im
nordirakischen Hewlêr (Arbil) unter Präsident Massud Barzanî mitgetragen.
Der Grenzübergang zwischen Südkurdistan und Rojava
über den Dicle (Tigris) bei Sêmalka
(Faysh Khabur) wurde nach
Abschluss des Hewlêr-Abkommens eröffnet. Durch dieses
nach der Selbstbefreiung der kurdischen Städte in Rojava
im Juli 2012 unter Schirmherrschaft von Barzanî
vermittelte Abkommen wurde die Bildung eines Kurdischen Hohen Rates als
oberster Vertretung der syrischen Kurden vereinbart. Dieser Hohe Rat, der
paritätisch aus je fünf Mitgliedern des Volksrates von Westkurdistan
einschließlich der darin führenden Partei der Demokratischen Union (PYD) und
des aus über einem Dutzend Barzanî-nahen Parteien
bestehenden Kurdischen Nationalrates von Syrien (ENKS) andererseits besetzt
ist, soll auch den Grenzübergang kontrollieren. Doch von Anfang an sabotierten
und boykottierten einige der ENKS-Parteien die Arbeit des Kurdischen Hohen
Rates. Sie nahmen nicht an den Sitzungen teil, verhandelten auf eigene Faust
mit syrischen Oppositionsgruppen und beteiligten sich sogar an bewaffneten
Angriffen islamistischer Banden auf kurdische Viertel von Heleb
(Aleppo) und die Stadt Serê Kaniyê
(Ras al-Ayn). Faktisch liegt die Grenzkontrolle auf
der Rojava-Seite so bei den Vertretern der PYD im
Kurdischen Hohen Rat, obwohl auch der ENKS ein Büro in einem der Container am Dicle-Ufer hat.
Die KRG, deren Peshmerga die Brücke über den Dicle sichern, bestimmt wiederum, welche Güter und Personen
passieren dürfen. Nur in Ausnahmefällen – etwa wenn sich die Barzanî-Regierung gegenüber der anwesenden Presse als
großzügige Unterstützerin der kurdischen Brüder und Schwestern in Rojava präsentieren will – werden Hilfsgüter durchgelassen.
Doch monatelang werden dringend benötigte Transformatoren sowie medizinische
Güter auf südkurdischer Seite zurückgehalten. Hilfsorganisationen aus Europa
hatten 15 Krankenwagen gespendet. Doch nur neun kamen in Rojava
an. Aus einigen Fahrzeugen waren die notärztlichen Apparaturen geraubt worden.
Stattdessen hingen Bilder des Barzanî-Hilfswerks in
den Wagen, berichten Mitglieder des Komitees des Kurdischen Hohen Rates zur
Verteilung von Hilfsgütern. Gleichzeitig verbreiten Mitglieder der Al-Partei –
des syrisch-kurdischen Ablegers von Barzanîs in
Südkurdistan regierender Demokratischer Partei Kurdistans (PDK) – die PYD habe
die Krankenwagen unterschlagen. »Wir können keine Hilfsgüter aus der Türkei und
Südkurdistan nach Rojava lassen, weil die PYD dort
alles unter ihre Kontrolle bringt und sich mit der Verteilung dieser Güter dann
die Zustimmung der Bevölkerung erkauft«, bestätigt Mohamed Ismael,
Politbüromitglied der Al-Partei, den politischen Hintergrund des Embargos. Die
PYD verteile nur 10 bis 15 Prozent der über die Türkei oder Südkurdistan
gelieferten Lebensmittel, behauptet auch der Al-Partei-Vorsitzende Abdulhakim Bashar und spricht von
ganzen Lastwagenladungen, die verschwunden seien.1
Solche Vorwürfe sind haltlos, wie Recherchen vor Ort ergaben. Auch für den
Empfang und die Verteilung von humanitären Gütern wurde eine paritätisch
besetzte Kommission des Kurdischen Hohen Rates gebildet, die über die
gelieferten Hilfsgüter genau Buch führt. Da einige Parteien den Hohen Rat
boykottieren und ihre Vertreter außerhalb Rojavas in
Luxushotels in Hewlêr leben, waren es meist nur die
Vertreter der PYD innerhalb des Kurdischen Hohen Rates, die solche Güter
entgegennahmen. Abdulhakim Bashar
behauptet weiter, solche Güter kämen in Rojava nicht
auf den Basar. Das mag zutreffen, denn es soll keine Spekulation mit der Not
betrieben werden. Daher werden Hilfsgüter direkt an die Bevölkerung verteilt.
Das entscheidende Kriterium der Verteilung ist dabei Bedürftigkeit und nicht
wie etwa in den südkurdischen Flüchtlingslagern Clan- oder Parteizugehörigkeit.
Die Folgen des Embargos sind in Rojava vielfach zu
spüren. Die Säuglingssterblichkeit ist nach Angaben des Kurdischen Roten
Halbmondes aufgrund fehlenden Milchpulvers stark angestiegen. In den Apotheken
und den von den Volksräten eröffneten kostenlosen Gesundheitsstationen fehlt es
an Medikamenten wie Antibiotika und Antiseptika sowie medizinischen Geräten.
Chronisch Kranken, denen aufgrund des Krieges und der terroristischen Banden
auch der Weg zur Behandlung in anderen Landesteilen wie Heleb
oder Damaskus versperrt ist, bleibt dann oft nur die Flucht nach Südkurdistan.
Das industriell unterentwickelt gehaltene Rojava war
vor dem Krieg die Kornkammer Syriens. Doch infolge des Embargos fehlt es heute
an Maschinen zur Weiterverarbeitung der Agrarprodukte. Zudem wird immer wieder
die Stromzufuhr durch terroristische Banden gekappt. Ohne Strom funktionieren
aber weder die Mühlen für die Mehlherstellung noch die Pumpen der Tiefbrunnen.
Um zumindest die Grundversorgung mit Brot sicherzustellen, haben die Volksräte
Großbäckereien in den Stadtvierteln eröffnet. Komitees zur Preiskontrolle gehen
gemeinsam mit der Asayiş-Miliz gegen Wucherer
und Kaufleute vor, die Verfallsdaten bei Lebensmitteln und Medikamenten
manipuliert haben. »Wir fordern ein Ende der Blockade, um Handel mit unseren
eigenen Produkten aus der Landwirtschaft und dem Öl treiben zu können«, macht
der von Seiten der PYD im Kurdischen Hohen Rat für den Grenzübergang Sêmalka Verantwortliche Abdurrahman Hamo deutlich, dass es
nicht nur um humanitäre Hilfe geht. »Wir vertrauen auf unsere eigene Kraft und
halten notfalls wie das kubanische Volk 50 Jahre Embargo durch.« Am 27. Oktober gelang den Volksverteidigungseinheiten
(YPG) die Eroberung des bislang von den Banden des »Islamischer Staat im Irak
und Großsyrien« (ISIS) kontrollierten Grenzübergangs in den Irak bei Til Koçer (Al-Yarubiyah). Dieser
Erfolg habe angesichts der blockierten Grenze nach Südkurdistan eine neue
politische und wirtschaftliche Situation geschaffen, zeigte sich der PYD-Kovorsitzende Salih Muslim zuversichtlich.
Die aus dem Embargo resultierende Not und Arbeitslosigkeit war im August
Hauptgrund für eine Fluchtwelle von Zehntausenden Menschen aus Rojava nach Südkurdistan. Propagandasender aus dem Umfeld
des Barzanî-Clans wie Rudaw-TV
und Zagros-TV hatten zu der Massenflucht beigetragen,
indem sie das Schreckgespenst eines angeblich drohenden kurdischen
Bruderkrieges in Rojava an die Wand gemalt hatten.
Die Flüchtlinge wurden in Zeltlagern in wüstenähnlicher Umgebung fern der
Städte untergebracht. Um in den Genuss der Lebensmittelversorgung zu kommen,
werden sie teilweise zum Eintritt in die Al-Partei von Abdulhakim
Bashar genötigt. Krankheiten grassieren in den
Lagern, aber es fehlt an Ärzten. Sicherheitskräfte und kriminelle Banden aus
dem Umfeld einiger kurdischer Parteien nutzen die Armut der Flüchtlinge, um
junge Frauen zur Prostitution zu zwingen. Doch inzwischen haben viele
Flüchtlinge gemerkt, dass sie von der KRG und der PDK zu politischen Zwecken
missbraucht und getäuscht wurden, und sind wieder nach Rojava
zurückgekehrt. Die Brücke von Sêmalka bleibt ihnen
verschlossen, so dass sie den Dicle mit Booten
überqueren müssen.
»Wir haben die Grenze niemals zugemacht, das Tor war nicht für eine Minute
geschlossen«, weist Hamid Derbandi, Vizeminister und
Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit im Präsidialamt der KRG Anfang
Oktober den Vorwurf eines Embargos zurück.2
Doch dann fügt der als Rojava-Sonderbeauftragter Barzanîs auch für die Grenze nach Rojava
verantwortliche PDK-Funktionär hinzu: »Aber wir entscheiden, wer passieren darf.« Einer Gruppe kurdischer Parlamentarier aus der Türkei,
darunter die Kovorsitzende des Kongresses für eine
Demokratische Gesellschaft (DTK) Aysel Tuğluk,
die ihre Solidarität mit der Rojava-Revolution zeigen
wollten, bekam so keine Erlaubnis zur Einreise nach Rojava.
Am 23. Oktober verweigerte die KRG dann dem PYD-Kovorsitzenden
Salih Muslim, der an Trauerfeiern anlässlich des Todes seines im Kampf gegen
Islamisten gefallenen jüngsten Sohnes teilgenommen hatte, die Ausreise aus Rojava. So musste Muslim Syrien über eine gefährlichere
Route verlassen und über Bagdad nach Europa reisen. »Die PYD kämpft für die
Interessen des [Assad-]Regimes, mit dem sie eng zusammenarbeitet. Die PYD
respektiert den Willen des kurdischen Volkes nicht«, rechtfertigte die KRG das
Einreiseverbot für Muslim in einer Erklärung, in der dieser »Wille des
kurdischen Volkes« kurzerhand mit den Machtinteressen des Barzanî-Clans
und seiner Satelliten in Rojava gleichgesetzt wird.
Unter vielen Kurden stößt das Verhalten Barzanîs auf
Unverständnis, sie appellieren an die kurdische Einheit. Doch die Differenzen
zwischen Barzanî und Salih Muslim bzw. der PYD sind
nicht bloße Führungsstreitigkeiten, sondern gehen auf Klassendifferenzen und
unterschiedliche Systemvorstellungen zurück. Barzanî
ist durch Ölgeschäfte eng mit der türkischen Regierung verbunden. Doch die
Partnerschaft mit der islamisch-konservativen AKP-Regierung, die zuletzt beim
gemeinsamen Auftritt von Ministerpräsident Recep Tayyip
Erdoğan und dem südkurdischen Präsidenten Barzanî am 16. November in Amed
(Diyarbakır) zelebriert wurde, ist nicht aufrichtig, sondern beruht allein
auf Wirtschaftsinteressen. Südkurdistan ist – auch aufgrund der Spannungen mit
der irakischen Zentralregierung wegen Ölgeschäften – von türkischen
Investitionen und Importen abhängig. Das versetzt Ankara wiederum in die Lage,
auch bezüglich ihres Umgangs mit Rojava Druck auf die
KRG auszuüben. Doch Barzanîs negative Haltung
gegenüber der Revolution in Rojava ist nicht nur die
Folge einer solchen Fremdbestimmung durch die Türkei.
Im eigenen Land hat er ein auf Petro-Dollars beruhendes korruptes neofeudales
Regime errichtet. Gigantische Einkaufs-Malls und luxuriöse Gated
Communities schießen dort aus dem Boden, während die Zahl der sogenannten
Ehrenmorde und Gewaltakte gegen Frauen um ein Vielfaches zugenommen hat. Für
viele Menschen in Rojava ist dieses Modell als
Vorbild für die eigene Zukunft nicht attraktiv. Die dort in Volksräten unter
Führung der PYD zusammengeschlossenen Menschen haben sich mehrheitlich
entschlossen, einen nichtkapitalistischen Entwicklungsweg zu gehen. Und sie
führen einen aktiven Kampf gegen rückständige Strukturen in Familie und
Gesellschaft. So wird beispielsweise Großgrundbesitz kurdischer Aghas, den das
Baath-Regime enteignet hatte, nicht mehr an die alten Eigentümer zurückgegeben,
sondern in Kooperativen weiter bewirtschaftet.
Barzanî wirft der PYD vor, mit dem Assad-Regime zu
kooperieren und andere Parteien zu unterdrücken. In Wirklichkeit unterhalten
viele dieser nationalistisch geprägten und von Barzanî
finanzierten Parteien wie die Al-Partei und ihre zahlreichen Abspaltungen Büros
in Rojava. Doch die meisten von ihnen verfügen über
kaum eine gesellschaftliche Verankerung, weil sie außer beim Fahnenschwenken
auf Demonstrationen passiv bleiben und sich nicht am Aufbau der
Selbstverwaltung und ihrer Verteidigung gegen die Islamisten beteiligen. Ihre
Führer wie der Al-Partei-Vorsitzende Abdulhakim Bashar haben Rojava teilweise
seit Beginn der Revolution nicht mehr betreten und leben in Luxushotels in Hewlêr. Sie setzen darauf, durch Verhandlungen mit der
syrischen Auslandsopposition oder infolge eines westlichen Militäreinmarsches
an die Macht zu kommen. Die eng mit der türkischen Regierung arbeitende Azadî-Partei von Mustafa Cuma hat sich mehrfach an
Angriffen der islamistischen Al-Nusra-Front auf
kurdische Orte und Stadtviertel von Heleb, und sogar
an Massakern, beteiligt und in Amûdê aus einer Demonstration
heraus das Feuer auf YPG-Kämpfer eröffnet. Dies – und nicht etwa ihre
politische Tätigkeit – ist der Grund, warum einige Mitglieder solcher Parteien
auch in den Gefängnissen der den Volksräten unterstehenden Asayiş-Polizeimiliz
von Rojava sitzen.
Die Absicht ist klar: Während durch Sabotageakte von Islamisten und Mitgliedern
einiger kurdischer Parteien Unsicherheit geschürt werden soll, versuchen Barzanî und die KRG die Bevölkerung durch ein Hungerembargo
so lange unter Druck zu setzen, bis sie sich von der PYD distanziert. Dann
hofft Barzanî, mit seinen Petro-Dollars als Helfer in
der Not erscheinen und seine Satellitenparteien an die Macht bringen zu können.
Immer noch gibt es offenbar in Barzanîs Umfeld die
irrige Vorstellung, in Rojava ließe sich ein
ähnliches System der Machtteilung durchsetzen wie in Südkurdistan, wo das Land
unter der PDK und der mit ihr gemeinsam regierenden Patriotischen Union
Kurdistans (YNK/PUK) von Jalal Talabanî aufgeteilt
wurde. Einige mögen so von einem »Kompromiss« träumen, wonach die Al-Partei
etwa Dêrik (Al-Malikiya)
und Qamişlo (Al-Qamishli)
bekommt und die PYD Kobanî und Afrîn.
Doch die PYD strebt keine Macht für sich an, sondern tritt für die
Selbstorganisation der Bevölkerung ein. Jede Partei, die bereit ist, diese
Selbstverwaltung zu unterstützen und zu verteidigen, kann ihren Platz innerhalb
der Volksräte und ihrer Milizen finden. Doch einen Kompromiss mit denjenigen,
die nur auf die Eroberung von persönlicher Macht und Reichtum aus sind und die
alten patriarchalen und feudalen Strukturen nicht antasten wollen, kann es
nicht geben. So bildet der Dicle (Tigris) bei Sêmalka nicht nur eine innerkurdische Grenze. Hier verläuft
auch eine Grenze zwischen zwei Gesellschaftssystemen, zwei Mentalitäten und
zwei Lebensweisen.
1 - Gespräch des Autors im Rahmen
eines Treffens einer Delegation aus Deutschland mit Abdulhakim
Bashar und Mohamed Ismael am 7. Oktober 2013 in Hewlêr.
2 - Gespräch mit Hamid Derbandi
am 8. Oktober im Präsidialamt in Hewlêr.
Kurdistan Report Nr. 171, Januar/Februar 2014