junge Welt 29.12.2007 / Geschichte / Seite 15
Am 30. Dezember 1922 faßte der 1. Allunionskongreß der
Sowjets den historischen Beschluß über die Gründung
der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken UdSSR. »In der
Geschichte der Sowjetmacht bedeutet der heutige Tag einen Umbruch«,
erklärte der Generalsekretär der Kommunistischen Partei
Rußlands Josef Stalin. Die Sowjetmacht könne sich jetzt
»zu einer ernst zu nehmenden internationalen Macht entwickeln,
welche die internationale Lage zu beeinflussen und sie im Sinne der
Werktätigen zu gestalten vermag.«
Der Zarismus
hatte als sprichwörtliches »Völkergefängnis«
am Konzept des »einheitlichen, unteilbaren Rußlands«
festgehalten, und auch die nach der Februarrevolution 1917 an die
Macht gelangte Provisorische Regierung war nicht willens, die
Unterdrückung der nichtrussischen Völker zu beseitigen.
Erst das nach der Oktoberrevolution von Lenin und Stalin
unterzeichnete Dekret »über die Rechte der Völker
Rußlands« billigte diesen »freie Selbstbestimmung
bis zur Loslösung und Bildung eines unabhängigen Staates«
zu.
Nach dem Ende des Bürgerkrieges propagierte der X.
Parteitag der Bolschewiki 1921 die Schaffung eines »festgefügten
Staatsverbandes« der bislang nur vertraglich in der
Wirtschafts- und Militärpolitik verbundenen Sowjetrepubliken
Rußland, Ukraine, Belorußland und des Kaukasus »als
einzigen Weg der Rettung vor imperialistischer Knechtung und
nationaler Unterdrückung«. Die kulturelle und ökonomische
Rückständigkeit unterentwickelter Gebiete sollten so mit
Rußlands Hilfe überwunden werden.
Ein von Stalin im
September 1922 vorgelegter Resolutionsentwurf sah den Beitritt der
anderen Sowjetrepubliken als autonome Republiken in die Russische
Föderative Sozialistische Sowjetrepublik (RSFSR) vor. Lenin übte
heftige Kritik an diesem Autonomisierungsplan und schlug statt dessen
den freiwilligen Zusammenschluß der Sowjetrepubliken zu einer
Union vor.
Am 27. Dezember 1922 nahm der X. Allrussische
Sowjetkongreß einen Antrag Stalins zur Gründung der Union
der Sozialistischen Sowjetrepubliken an. Nach Hinzuziehung der
Delegierten der anderen Sowjetrepubliken wurde der Kongreß zum
Allunions-Sowjetkongreß mit 2 214 Delegierten erweitert,
der die Gründung der UdSSR beschloß. Erster Vorsitzender
wurde der Revolutionär Michail Kalinin. Laut ihrer am 6. Juli
1923 in Kraft getretenen Verfassung war die Union für
Außenpolitik, Außenhandel, Wirtschaftsplanung,
Verteidigung, Rechts- und Justizfragen, Bildungs- und
Gesundheitspolitik verantwortlich. Der vom Zentralen Exekutivkomitee
der Sowjets einberufene Allunions-Sowjetkongreß repräsentierte
die oberste Staatsgewalt. Innerhalb der Sowjetrepubliken wurden
Siedlungsgebiete einzelner Volksgruppen entsprechend ihrer
Entwicklungsstufe zu autonomen Republiken oder Gebieten
zusammengefaßt.
Während der I. Allunionskongreß
ohne ihn zusammentrat, übte Lenin, der aufgrund seiner
Erkrankung an den entscheidenden Tagungen des ZK zur Vorbereitung der
Unionsgründung im Oktober und Dezember nicht teilnehmen konnte,
schriftliche Selbstkritik. »Es scheint, ich habe mich vor den
Arbeitern Rußlands sehr schuldig gemacht, weil ich mich nicht
mit genügender Energie und Schärfe in die ominöse
Frage der Autonomisierung eingemischt habe, die offiziell, glaube
ich, als Frage der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken
bezeichnet wird« (LW 36, S. 590).
Praktisch dominierte
die RSFSR nicht nur wegen ihrer 70 Prozent der Bevölkerung und
90 Prozent des Territoriums die Union. Der »russische Apparat«
sei »vom Zarismus übernommen und nur ganz leicht mit
Sowjetöl gesalbt«, kritisierte Lenin. »Unter diesen
Umständen ist es ganz natürlich, daß sich die
›Freiheit des Austritts aus der Union‹, mit der wir uns
rechtfertigen, als ein wertloser Fetzen Papier herausstellen wird,
der völlig ungeeignet ist, die nichtrussischen Einwohner
Rußlands vor der Invasion jenes echten Russen zu schützen,
des großrussischen Chauvinisten, ja im Grunde Schurken und
Gewalttäters, wie es der typische russische Bürokrat ist«
(LW 36, S. 591). Zwar müsse die Union gefestigt werden, doch
könne es notwendig sein, einen Schritt zurückzugehen und
sie vorerst nur auf militärische und diplomatische
Angelegenheiten zu beschränken, ansonsten aber die
Selbständigkeit der nationalen Regierungen wieder
herzustellen.
Auslöser von Lenins Sorgen war das
Verhalten Stalins, der – obwohl selbst georgischer Herkunft –
in kaltschnäuziger und bürokratischer Weise gegen den
Wunsch der georgischen Kommunisten aufgetreten war, als eigenständige
Georgische Sowjetrepublik statt im Rahmen der zusammen mit Armenien
und Aserbaidschan gebildeten Transkaukasischen Föderation der
UdSSR beizutreten. Sein Vertrauter G. K. Ordshonikidse hatte sich als
Vertreter des Zentralkomitees sogar zu Handgreiflichkeiten gegenüber
einem georgischen Kommunisten hinreißen lassen. Dieses Vorgehen
wurde von Felix Dzierzynski als Leiter einer Untersuchungskommission
gedeckt. Lenin bezeichnete Stalin nach der Figur des prügelnden
Dorfpolizisten in Nikolaj Gogols Komödie »Der Revisor«
als »brutalen großrussischen Dershimorda« (LW 36,
S. 594) und forderte die Bestrafung Ordshonikidses. Am 4. Januar 1923
schlug Lenin in einer Nachschrift seines als »Testament«
geltenden »Briefes an den Parteitag« die Absetzung
Stalins vom Posten des Generalsekretärs vor, da dieser »zu
grob« sei (LW 36, S. 580).
Diese letzten Aufzeichnungen
Lenins wurden auf Beschluß des Zentralkomitees nicht
veröffentlicht. Auch Leo Trotzki, den Lenin vertraulich gebeten
hatte, die Verteidigung der georgischen Angelegenheit zu übernehmen,
schwieg, nachdem sich Stalin bereit erklärte, auf dem XII.
Parteitag der Bolschewiki im April 1923 verbal den großrussischen
Chauvinismus zu verurteilen.
In der Praxis wich die
sowjetische Politik gegenüber den kleinen Völkern unter
Stalin und seinen Nachfolgern immer stärker vom Prinzip der
Gleichberechtigung und Selbstbestimmung ab. Die Mißachtung der
am Tage der UdSSR-Gründung ausgesprochenen Warnung Lenins, nicht
»in imperialistische Beziehungen zu den unterdrückten
Völkerschaften hineinzuschlittern und dadurch unsere ganze
prinzipielle Aufrichtigkeit, unsere ganze prinzipielle Verteidigung
des Kampfes gegen den Imperialismus völlig zu untergraben«
(LW 36, S. 596), war eine der Ursachen für den Niedergang und
schließlich Zusammenbruch der Großmacht UdSSR zu Beginn
der 90er Jahre und dem heute dominanten Nationalismus und
Antikommunismus in vielen ehemaligen Sowjetrepubliken.