Das Komplott
Vor zwanzig Jahren wurde der Vorsitzende der Arbeiterpartei Kurdistans,
Abdullah Öcalan, gefangengenommen
Von Nick Brauns
Für viele Kurden gilt der 15. Februar als schwarzer Tag: An diesem Tag vor
zwanzig Jahren geriet der Vorsitzende der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK),
Abdullah Öcalan, in türkische Gefangenschaft. Das »internationale Komplott« –
wie die PKK den Coup gegen ihren Vorsitzenden nennt – begann am 1. November 1998
mit einer ultimativen Kriegsdrohung des türkischen Staatspräsidenten Süleyman
Demirel gegen Syrien, sollte das Land dem dort seit 1980 im Exil lebenden
Öcalan weiterhin Schutz gewähren. Während türkische Panzer an der Grenze
auffuhren, verliehen US-Kriegsschiffe im Mittelmeer der Drohung des
NATO-Partners Nachdruck. Unterstützt wusste sich Ankara zudem von Israel, mit
dem seit 1996 eine enge Militärpartnerschaft bestand. Der syrische Präsident
Hafis Al-Assad konnte diesem Druck nicht standhalten und forderte Öcalan auf,
das Land zu verlassen. Am 9. Oktober 1998 verließ der PKK-Vorsitzende Syrien
nach 19jährigem Aufenthalt mit einem Flugzeug in Richtung Russland. Wenige Tage
später unterzeichneten Ankara und Damaskus das Adana-Abkommen, in dem sich
Syrien verpflichtete, auf seinem Boden keine PKK-Aktivitäten mehr zu dulden.
Für Öcalan folgte, nachdem er aus Syrien verstoßen wurde, eine 130tägige
Odyssee zwischen Moskau, Athen, Rom und Amsterdam. Doch auf Druck der USA
verweigerten ihm alle Staaten den Aufenthalt. In Rom, wohin er unter
Vermittlung italienischer Kommunisten geflogen war, verkündete Öcalan im Januar
1999 eine weitgehende Friedensinitiative, die ein Ende des bewaffneten Kampfes
im Gegenzug zu einer Amnestie und Demokratisierung der Türkei vorsah. Doch auch
die sozialdemokratische Regierung von Massimo D’Alema im Rom gewährte dem
Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans kein Asyl.
Am 15. Februar 1999 wurde Öcalan aus der griechischen Botschaft in Kenia,
wohin ihn der griechische Geheimdienst auf einen US-Vorschlag hin mit falschen
Versprechungen gelockt hatte, von türkischen Agenten in die Türkei verschleppt.
In den Medien wurde der gefesselte und mit einer Augenbinde versehene,
sichtlich unter Drogen gesetzte Öcalan wie eine Jagdtrophäe unter einer
türkischen Fahne präsentiert.
»Im Ergebnis war es die Gladio der NATO, die mich interniert hat«,
beschuldigte der PKK-Vorsitzende nach seiner Gefangennahme die Schattenarmee
des westlichen Militärbündnisses. Operative Beihilfe zu diesem Kidnapping hatte
der israelische Geheimdienst Mossad geleistet, der
Öcalan seit seiner Abreise aus Syrien auf den Fersen war.
In einem Schauprozess wurde der PKK-Vorsitzende im Juni 1999 wegen
Hochverrats zum Tode verurteilt, die Strafe aber später im Rahmen des
EU-Beitrittsprozesses der Türkei in lebenslange Haft umgewandelt. Seit seiner
Verhaftung befindet sich Öcalan auf der von Hunderten Soldaten abgeschirmten
Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer. Die meiste Zeit
unterliegt Öcalan dort Isolationshaftbedingungen ohne die Möglichkeit der
Kontaktaufnahme zu Personen außerhalb des Gefängnisses. Selbst seinen Anwälten
wird seit Sommer 2011 verwehrt, ihren Mandanten zu besuchen. Nachdem es fast
zweieinhalb Jahre lang überhaupt kein Lebenszeichen von Öcalan gab, durfte ihn
vor einem Monat sein Bruder Mehmet für wenige Minuten besuchen.
Geringfügig gelockert wurde die Isolation lediglich in den Jahren 2013 bis
2015. Im Rahmen von Friedensgesprächen konnten damals nicht nur der türkische
Geheimdienstchef Hakan Fidan, sondern auch Abgeordnete der linken Partei HDP
Öcalan zu Konsultationen aufsuchen. Doch Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan beendete mit Blick auf die Parlamentswahlen
im Juni 2015 diesen Friedensprozess, um statt dessen
das antikurdische Bündnis mit den faschistischen Grauen Wölfen zu suchen.
In der Haft verfasste Öcalan umfangreiche Werke, die von
geschichtsphilosophischen Studien zur klassenlosen mesopotamischen
Urgesellschaft und deren Negation durch den sumerischen Priesterstaat bis zu
einer »Roadmap für Verhandlungen« mit dem türkischen
Staat reichen. Den Traum eines unabhängigen Kurdistan hat Öcalan längst als
nationalistischen Irrweg verworfen, der die Kurden weiter zum Spielball der
Großmächte machen würde. Inspiriert von den Überlegungen des 2006 verstorbenen US-amerikanischen
libertären Sozialisten Murray Bookchin tritt der
PKK-Vordenker statt dessen für das Konzept des »Demokratischen Konföderalismus« als »nichtstaatliches« Organisationsmodell
der kurdischen Bewegung ein. Dessen Kernelemente bilden Rätedemokratie,
Gleichstellung der Geschlechter und Ökologie. Die Autonome Selbstverwaltung in
Nordsyrien sieht in Öcalan so auch den Architekten des dort praktizierten
Gesellschaftsmodells, das auf basisdemokratischen Kommunen beruht.
Die Isolation durchbrechen
Weltweit protestieren Menschen für Abdullah Öcalan – und gegen Faschismus
Von Nick Brauns
Unter dem Motto »Die Isolation durchbrechen, den Faschismus zerschlagen,
Kurdistan befreien« finden seit Wochen weltweit Proteste von Kurden statt. Mit
einem Sternmarsch auf die Metropole Diyarbakir im Südosten der Türkei will die
linke Demokratische Partei der Völker (HDP) am heutigen Freitag ihrem Ruf nach
einem Ende der Isolationshaft des Vordenkers der kurdischen Freiheitsbewegung
Abdullah Öcalan Gehör verschaffen. Für diese Forderung befindet sich die
HDP-Abgeordnete Leyla Güven in Diyarbakir seit 100 Tagen im Hungerstreik, ihr
Gesundheitszustand ist längst lebensbedrohlich. Dem Hungerstreik haben sich
Hunderte politische Gefangene in türkischen Gefängnissen angeschlossen. Am
Samstag werden dann anlässlich des 20. Jahrestages der Verschleppung Öcalans
Zehntausende Kurden aus ganz Europa zu einer Großdemonstration im französischen
Strasbourg erwartet, wo kurdische Aktivisten seit zwei Monaten einen
Hungerstreik durchführen.
Einen »Personenkult« um Öcalan mit »stark sektenartigen Zügen«
konstatierten die Politikberater der aus Bundesmitteln finanzierten Stiftung
Wissenschaft und Politik (SWP) in einer kürzlich veröffentlichten Studie über
die kurdische Befreiungsbewegung. Dass Öcalan »auch nach 20 Jahren im Gefängnis
Anhänger mobilisieren und ihr Weltbild maßgeblich beeinflussen kann, spricht
für das enorme Charisma des Kurdenführers«, zeigten sich die
Politikwissenschaftler zugleich erstaunt. Doch die jungen Kurden, die sich
heute auf den Straßen von Diyarbakir und Istanbul Straßenschlachten mit der
Polizei liefern, in Nordsyrien gegen den »Islamischen Staat« (IS) kämpfen oder
in Europa für Öcalans Freiheit demonstrieren, haben den PKK-Vorsitzenden, der
seinen letzten öffentlichen Auftritt vor zwanzig Jahren hinter
Panzerglasscheiben im Gerichtssaal hatte, niemals in Freiheit erlebt.
Eine bessere Erklärung für die Verehrung, die Kurden Öcalan
entgegenbringen, haben die Münchner Kommunikationswissenschaftler Kerem Schamberger
und Michael Meyen in ihrem vergangenes Jahr
veröffentlichten Buch »Die Kurden – Ein Volk zwischen Unterdrückung und
Rebellion«: »Eine Nation braucht einen Ort, auf den sie sich beziehen kann, das
Territorium normalerweise oder wenigstens eine heilige Stätte, einen Berg oder
irgendwas anderes Herausragendes, das eine Gruppe von Menschen zur
›Gemeinschaft‹ macht, einen Punkt, den alle teilen, selbst wenn sie ihn nur vom
Hörensagen kennen oder sogar vollkommen ablehnen. Den Kurden fehlt so ein Ort.
Die Kurden haben Abdullah Öcalan, der auch deshalb zu ›Apo‹
werden konnte, weil ihn die Türkei seit 1999 aus dem Tagesgeschäft fernhält und
weil starke Persönlichkeiten in der Region Tradition haben.«
Auch die türkische Regierung hat diesen Mechanismus erkannt: In Öcalans
Haftbedingungen auf der Gefängnisinsel Imrali
spiegelt sich die Lage der kurdischen Bevölkerung. Immer wenn die Isolation des
PKK-Vorsitzenden etwas gelockert wurde, gab es auch weniger Verhaftungen und
Straßensperren des Militärs wurden abgebaut. Gibt es dagegen kein Lebenszeichen
von Öcalan, dann kehrt der Krieg zurück. Es ist auch diese Erfahrung, die ihn
für Millionen Kurden zum politischen Repräsentanten für eine Friedenslösung
macht.
Dazu kommt die praktische Anwendbarkeit von Öcalans Ideen. »Die anderen
kurdischen Führer wollten nur Macht für sich selbst. Doch Öcalan gab uns eine
Philosophie, mit der wir uns selbst befreien können«, erklärte mir einmal eine
junge Guerillakämpferin in den Kandil-Bergen, die das
Bild des PKK-Vordenkers an ihre Uniform geheftet hatte.
Junge Welt 15.2.2019