Ein Buch über das tragische Schicksal von Thüringer
Facharbeitern in der Sowjetunion
Von Nick Brauns
Mit einem ebenso heroischen wie tragischen Kapitel
sozialistischer Geschichte beschäftigt sich der Thüringer Historiker Gerhard
Kaiser. Sein Buch „Rußlandfahrer“ handelt vom Schicksal jener Männer und Frauen
aus dem Thüringer Wald, die in den 20er und 30er Jahren ihr Glück in der
Sowjetunion suchten. Sie entflohen der Arbeitslosigkeit und dem Vormarsch des
Faschismus. Aber ihre Motive waren vor allem idealistischer Art. Sie suchten
die gesellschaftliche Alternative und wollten mit ihrem Fachwissen zum großen
Werk des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion beitragen.
Die Solidarität mit der jungen Sowjetunion war auch
unter den Arbeitern im Thüringer Wald fest verankert. In Suhl, Albrechts,
Goldlauter-Heidersbach, Zella-Mehlis und vielen anderen Orten sammelten
Arbeiter zu Beginn der 20er Jahre Spenden für das hungernde Russland. Im Mai
1922 schickte das Hilfsaktions-Komitee aus Suhl einen ganze Eisenbahnwaggon mit
Werkzeugen nach Russland.
Ab Mitte der 20er Jahre strömten Facharbeiter aus
aller Welt in die Sowjetunion. Zu den ersten aus dem Thüringer Wald gehörte der
Vorsitzende der Elgersburger Genossenschaft der Thermometerhersteller. Zusammen
mit 30 weiteren Kollegen half er ab 1927 beim Aufbau der sowjetischen
Thermometerindustrie. Mit ihrer Hilfe konnte das Manometr-Werk in Moskau seinen
Anteil am ersten Fünfjahresplan erfüllen.
Die meisten der Facharbeiter aus dem Thüringer Wald,
die häufig mit ihren ganzen Familien in die Sowjetunion gingen, waren
Mitglieder oder Sympathisanten der KPD. In vielen Orten des Thüringer Waldes
überflügelte die KPD die SPD bei Wahlen und zusammen verfügten die
Arbeiterparteien häufig über eine absolute Mehrheit in den Kommunalparlamenten.
Dieses Milieu prägte auch die Russlandfahrer. „Sie suchten und erwarteten
gleiche politische Reche und Pflichten für alle ohne Rücksicht auf die ethische
Herkunft und Zugehörigkeit; keinerlei soziale Hürden sonder umfassende soziale
Sicherheit für sich und die Familie; gleiche Rechte für Mann und Frau,
uneingeschränkten Zugang zu unfassender Bildung für jedermann; menschenwürdige
Wohnungen, solidarische und gleichberechtigte Beziehungen untereinander ohne
Rücksicht auf die Herkunft.“ Diese Ideale waren ihre Messlatte für das neue
Russland, das in seiner Verfassung diese Rechte garantierte. Die Wirklichkeit
war häufig desillusionierend. Verträge wurden durch die Betriebsleitungen
gebrochen und das niedrige kulturelle und soziale Niveau irritierte die
deutschen Arbeiter. Der Dichter Maxim Gorki ermahnte die ausländischen Arbeiter
daraufhin, sie könnten keine besseren Lebensverhältnisse für sich erwarten, wie
für die Mehrheit der russischen Bevölkerung.
Trotz aller Widrigkeiten blieben die meisten
Thüringer Facharbeiter im Land und gaben ihr Bestes für die neue Heimat.
Vielfach nahmen sie nach einiger Zeit die sowjetische Staatsbürgerschaft an,
insbesondere, nachdem die Machtübernahme der Faschisten in Deutschland eine
Rückkehr unmöglich machte.
Doch nun begann die Tragödie der ausländischen
Arbeiter in der UdSSR. Als Mitte der 30er Jahre die Großen Säuberungen in der
KpdSU einsetzten, waren auch sie unter den Opfern. Mehrfach zwangen die
sowjetischen Behörden auch Thüringer Arbeiter, die aus der Partei
ausgeschlossen worden waren, in das faschistische Deutschland zurückzukehren,
wo sie von der Gestapo schon erwartet wurden.
1938 fielen viele deutsche Arbeiter in der
Sowjetunion der vom NKWD provozierten operative Mission „Hitlerjugend“ zum
Opfer. Eine Weisung des Politbüros verlangte das Aufspüren von Gestapospionen.
Der NKWD erklärte nun, dass vor allem unter den deutschen Arbeitern in Moskau
ein Agentennetz existiere. Nikolai Jeschow, Volkskommissar des Inneren, forderte
den NKWD auf: „Macht mit diesen Leuten keine Umstände. Ihre Verfahren werden
wie nach dem Bilderbuch ablaufen. Beweist, dass diese Letten, Polen, Deutsche
u.a., wenngleichen Mitglieder der KPDSU (B), Spione und Diversanten sind.“
Die willkürlichen Festnahmen trafen auch langjährige
Kommunisten wie den Thüringer Facharbeiter Erich Rippenberger aus Albrechts
oder den ehemaligen Lehrer des Rote-Hilfe-Kinderheims in Elgersburg, Rudolf
Senglaub. 39 deutsche Arbeiter wurden nach erpressten Geständnissen zum Tode
verurteilt, 21 kamen in den Gulag. Heute erinnert in Butowo bei Moskau ein
Gedenkstein an die Hinrichtung von 20.765 Menschen an diesem Ort während des
großen Terrors. In den Massengräbern liegen auch die Knochen von Rippenberger,
Senglaub und weiterer Thüringer, die in die Sowjetunion kamen, um eine bessere,
sozialistische Gesellschaft zu erbauen. Als angebliche deutsche Spione wurden
diese Antifaschisten am 28. und 29. Mai 1938 erschossen. Die Familien der
Erschossenen kamen entweder ins Arbeitslager oder wurden an die Gestapo
ausgeliefert. Gerhard Kaiser hat diese tragischen Schicksale anhand
exemplarischer Untersuchungen einzelner Familien vorgenommen.
Bei der ersten Vorstellung des von der
Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderten Buches Mitte April in Elgersburg fragten
viele ältere Genossen bestürzt, warum Kommunisten gegenüber anderen Kommunisten
so handeln konnten. „Macht, Karriere, Pfründe“ führt Kaiser als Erklärung an
und bringt das bekannte Marx-Zitat, dass in einem Sozialismus ohne die notwendige
materielle Grundlage die kapitalistische Vergangenheit als Erbsünde bleibe und
„die ganze alte Scheiße von vorne beginnt“.
Kaisers Fazit über die Thüringer Russlandfahrer fällt optimistischer aus: „Keine und keiner ging jemals von der Fahne. Sie zeigten sich auf jedem Platz, auf den sie das von ihnen gewählte Leben stellte, in Betrieben und an der Front aufopferungsvoll, uneigennützig, selbstlos. Ihr Leben und Ihr Kampf verdienen kritischen Respekt.“
Gerhard Kaiser: Rußlandfahrer – Aus dem Wald in die Welt, WAGE-Verlag, 2000, 260 S., DM 15,-, ISBN: 3-9805273-7-
WAGE-Verlag 18195 Tessin, Am Tannenkopp 15; Tel/Fax: 038205-12902/12901