Aus: Junge Welt vom 29.04.2017, Seite 8 / Ansichten

Strategie der Spannung

Von Nick Brauns

Vor 40 Jahren, am 1. Mai 1977, versammelte sich eine halbe Million Menschen auf dem Istanbuler Taksim-Platz. Es war die größte Arbeiterkundgebung in der Geschichte der Türkei. Aufgerufen hatte die Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften DISK, deren Führung von der illegalen Kommunistischen Partei der Türkei dominiert wurde. Direkt nach der Rede des DISK-Vorsitzenden Kemal Türkler eröffneten Scharfschützen aus dem Intercontinental-Hotel mit automatischen Gewehren das Feuer. Panzer rasten in die Menge. Am Ende lagen drei Dutzend Tote auf dem Platz, einige erschossen, die meisten von ihnen jedoch von der panisch flüchtenden Menschenmenge zu Tode getrampelt.

»Die Konterguerilla hat eine Offensive begonnen und ist in die Vorfälle vom 1. Mai verwickelt«, warnte der sozialdemokratische Premier Bülent Ecevit. Zeugen bestätigten, dass in den Tagen vor dem 1. Mai mehrere Stockwerke des Intercontinental-Hotels unter Polizeischutz gestellt und von »Amerikanern« bezogen worden waren. 1978 wurden Dokumente bekannt, die belegten, dass der US-Geheimdienst CIA gemeinsam mit dem türkischen Geheimdienst und den faschistischen »Grauen Wölfen« eine Kontergue­rilla gegen die starke Linke sowie zur Einschüchterung der Bevölkerung aufgebaut hatte. Dieses unter Leitung des türkischen Generalstabschefs Kenan Evren stehende »Amt für Spezialkriegsführung« war der türkische Ableger der NATO-Geheimtruppe »Gladio«.

Der »blutige 1. Mai« war der Auftakt einer »Strategie der Spannung«, die mit bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen Faschisten und radikalen Linken sowie Pogromen gegen Aleviten Ende der 1970er Jahre den Weg zum Militärputsch am 12. September 1980 bereitete. Das Taksim-Massaker wurde gerichtlich niemals aufgeklärt, Beweismittel verschwanden, die Ermittlungsakten schließlich wegen Verjährung geschlossen.

Einer Strategie der Spannung mit Anschlägen gegen Linke und einer Wiederentfesselung des Krieges gegen die Kurden bediente sich auch Recep Tayyip Erdogan bei der Errichtung seiner Präsidialdiktatur. Zum 40. Jahrestag des »blutigen 1. Mai« bleibt der symbolträchtige Taksim für Kundgebungen gesperrt.

Trotz ihrer derzeitigen Schwäche kommt der Arbeiterbewegung eine Schlüsselrolle im Widerstand gegen Erdogans Regime zu. Denn dessen Achillesferse ist angesichts der am Boden liegenden Ökonomie die jenseits ethnischer, religiöser und kultureller Spaltlinien in der Türkei verlaufende soziale Frage.