Aus: junge Welt vom 14.02.2015,
Seite 15 / Geschichte
Bismarcks Agent
Vor 150 Jahren rechneten Marx und Engels mit dem
»königlich preußischen Regierungssozialismus« ab
Von Nick
Brauns
»Parlamentarismus
heißt Regiment der Mittelmäßigkeit, heißt machtloses Gerede, während Cäsarismus
doch wenigstens kühne Initiative, doch wenigstens bewältigende Tat heißt.« Diese Zeilen fanden sich am 27. Januar 1865 im Social-Demokrat. Wer mit »Cäsar« gemeint ist,
daran ließ der Herausgeber der Zeitung, Johann Baptist von Schweitzer
(1833–1875), keinen Zweifel. So lautete der Titel der sich über mehrere Nummern
erstreckenden Artikelserie »Das Ministerium Bismarck«. Schweitzer forderte den
preußischen Ministerpräsenten Otto von Bismarck geradezu dazu auf, in der
Tradition Friedrichs des Großen die anderen deutschen Fürstentümer zu
annektieren, um die Einigung Deutschlands auf preußischer Grundlage zu
vollenden – »wenn nötig mit ›Blut und Eisen‹«. Eine Parlamentarisierung
widerspreche dem preußischen Staatscharakter, griff Schweitzer gleichzeitig die
Deutsche Fortschrittspartei als Vertretung der liberalen Bourgeoisie an.
Der seit
Ende 1864 erscheinende Social-Demokrat
war das Organ des im Vorjahr gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins
(ADAV). Karl Marx und Friedrich Engels hatten trotz Vorbehalten gegenüber dem Lassalleanismus ihre Mitarbeit an der Zeitung auf Basis
eines Programms zugesagt, das die drei Punkte »Solidarität der
Völkerinteressen«, »Abschaffung der Kapitalherrschaft« und »das ganze gewaltige
Deutschland – ein freier Volksstaat« umfasste. Mit letzterem war die Bildung
eines alle deutschsprachigen Gebiete einschließlich Österreichs umfassenden
Nationalstaates auf demokratischer Grundlage gemeint – also das Gegenteil der
von Schweitzer propagierten großpreußischen Politik.
Offensichtlich
sollten die bekannten Namen von Marx und Engels als linkes Feigenblatt für
dieses Loblied auf den junkerlich-preußischen Militärstaat missbraucht werden.
Doch nachdem sich Schweitzer unter Verweis auf deren Exil in Großbritannien
jegliche Kritik an »praktischen Fragen momentaner Taktik« in Deutschland
verbat, erklärten Marx und Engels am 23. Februar 1865 ihre Mitarbeit am Social-Demokraten für beendet. Sie
verurteilten den »königlich preußischen Regierungssozialismus« als »Blendwerk«.
Notwendig sei es, dass »dem Ministerium und der feudal-absolutistischen Partei
gegenüber eine wenigstens ebenso kühne Sprache geführt werde wie gegenüber den
Fortschrittlern«. Bis auf Moses Hess zogen sich alle übrigen Mitarbeiter von
der Zeitung zurück.
Schweitzer
konnte sich bei seiner Argumentation auf den im Vorjahr bei einem Duell
verstorbenen ADAV-Vorsitzenden Ferdinand Lassalle stützen. Dieser hatte sich
aus der Logik »der Feind meines Feindes ist mein Freund« heraus mehrfach mit
Bismarck getroffen, um diesem ein Bündnis der Arbeiterbewegung gegen die
liberale Bourgeoisie anzutragen. Im Gegenzug versuchte Lassalle, Bismarck zu
Zugeständnissen wie der Einführung des allgemeinen Wahlrechts zu bewegen.
»Lassalle, ökonomisch
vollständig unabhängig, stand zu Bismarck wie Macht zu Macht«, so August Bebel.
Doch davon konnte bei dem hoch verschuldeten Schweitzer keine Rede sein, wies
der spätere Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei in seiner
Autobiographie auf einen entscheidenden Unterschied hin. Schweitzer »erschien
in seinem Auftreten als ein Werkzeug der Bismarckschen Politik, als ein Mann,
der den Vorteil des Lassalleschen Scheins für sich
hatte und ihn geschickt ausnutzte.« Aus einer
Frankfurter Patrizierfamilie stammend war dem Juristen Schweitzer eine
bürgerliche Karriere nach Bekanntwerden einer Unterschlagung aus der Kasse des
Frankfurter Schützenfestes sowie einer 1862 erfolgten Verurteilung aufgrund
sexueller Handlungen an einem schulpflichtigen Knaben in einem öffentlichen
Park verwehrt. Durch die Bekanntschaft mit Lassalle sah der theoretisch
gebildete, rhetorisch beschlagene und charismatische, bereits im Frankfurter
Arbeiterbildungsverein tätige Schweitzer die Chance auf eine seinen Ehrgeiz und
seine materiellen Bedürfnisse befriedigende Führungsrolle in der
Arbeiterbewegung.
Obwohl der Social-Demokrat als Zuschussbetrieb aus dem
Privatvermögen des Mitherausgebers Johann Baptist von Hofstetten nicht
lebensfähig war, erschien das Blatt ab Juli 1865 sogar täglich. Seine Bedeutung
war weit größer als seine Auflage von lediglich 1.000 Stück, da die
konservative Presse dessen fortwährende Attacken gegen die Fortschrittspartei
genüsslich weiterverbreitete. Die liberale Presse unterstellte dem Social-Demokraten daher eine Finanzierung aus
konservativen Kreisen. Aufgrund mehrerer Artikel wurde Schweitzer im November
1865 unter anderem wegen Majestätsbeleidigung zu einem Jahr Haft verurteilt,
genoss aber im Gefängnis weitreichende Freiheiten und wurde – nachdem er in
mehreren Artikeln Bismarcks Politik weiter unterstützt hatte – bereits im Mai
1866 aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig aus der Haft entlassen. Im
folgenden Jahr wählte der ADAV Schweitzer zu seinem Präsidenten, dieser zog
zudem als Abgeordneter in den Reichstag des Norddeutschen Bundes ein. Anders
als die Abgeordneten der marxistisch orientierten Sozialdemokratischen
Arbeiterpartei (SDAP) August Bebel und Wilhelm Liebknecht, die für ihren
Widerstand gegen den »preußischen Krieg« wegen Hochverrats inhaftiert wurden,
votierte Schweizer 1870 für die von Bismarck geforderten Kriegskredite gegen
Frankreich. Schweitzers diktatorischer Führungsstil stieß im ADAV zunehmend auf
Widerstand. Nach dem Krieg zog er sich aus der Politik zurück.
Hat
Schweitzer tatsächlich als bezahlter Agent für Bismarcks großpreußische Politik
gewirkt, oder wurde ihm – wie etwa von Franz Mehring in seiner Geschichte der
Sozialdemokratie behauptet – von Marx und Engels Unrecht getan? »Es kann sich
hier nur um den Nachweis durch Indizien und zahlreiche Tatsachen handeln, die
sich nicht anders erklären lassen«, verweist August Bebel auf den berüchtigten
»Reptilienfonds« Bismarcks zur Finanzierung geheimer Operationen. Für seine
Ausschweifungen in Berliner Nachtlokalen habe der Lebemann Schweitzer gerne mal
in die – von Arbeitern mit mühsam vom Munde abgesparten Groschen gefüllte –
Kasse des ADAV gegriffen. »Wer aber dergleichen fähig ist, von dem soll man
nicht behaupten, dass er unfähig gewesen sei, sich politisch zu verkaufen, was
doch das einzige halbwegs lukrative Geschäft für ihn sein konnte«, zeigte sich
Bebel überzeugt. Als Schweitzer am 28. Juli 1875 an einer Lungenentzündung
starb, fand sich zu seiner Beerdigung in Frankfurt am Main kein einziger
Arbeiter ein.
Lassalle und der ADAV
Mit dem am
23. Mai 1863 in Leipzig gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV)
bildete sich erstmals eine vom Bürgertum unabhängige Arbeiterpartei in
Deutschland. In seinem »Offenen Antwortschreiben« an das Leipziger Zentralkomitee
gab Ferdinand Lassalle, der sich als Vorsitzender eine Präsidialdiktatur
absichern ließ, dem ADAV eine Programmatik. »Der Arbeiterstand muss sich als
selbständige politische Partei konstituieren und das allgemeine, gleiche und
direkte Wahlrecht zu dem prinzipiellen Losungswort und Banner dieser Partei
machen.« Lassalle setzte auf ein friedliches
Hineinwachsen in den Sozialismus durch Staatskredite zur Bildung von
Produktionsgenossenschaften. Den gewerkschaftlichen Kampf lehnte Lassalle mit
der Behauptung eines »ehernen Lohngesetzes«, wonach sich der durchschnittliche
Lohn immer auf der Höhe des Existenzminimums der Arbeiter einpendele,
ebenso ab wie ein Bündnis mit dem liberalen Bürgertum. Statt
dessen hoffte Lassalle auf eine Kooperation mit dem preußischen
Ministerpräsidenten Otto von Bismarck, in dem er auch den Führer zur deutschen
Einheit sah. Unter dem Einfluss von Lassalle entwickelte sich der ADAV trotz
seiner mehreren tausend Mitglieder zu einer Politsekte. Der einem extravaganten
Lebensstil frönende Lassalle starb 1864 in einem Duell um eine verheiratete
Geliebte. Nachdem die Streitfrage innerhalb der Arbeiterbewegung über den Weg
zur deutschen Einheit durch die Gründung des Kaiserreichs 1871 obsolet geworden
war, schlossen sich der ADAV und die Sozialdemokratische Arbeiterpartei im Mai
1875 zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) zusammen.