»Biji Heval Obama«

Weiter Kämpfe um türkisch-syrische Grenzstadt Kurden werfen Dschihadistenmiliz »Islamischer Staat« Einsatz von Giftgas in Kobani vor und danken dem US-Präsidenten für Luftangriffe.

Nick Brauns/Sanliurfa

Die Kämpfe um die kurdische Stadt Kobani (arabisch: Ain Al-Arab) im Norden Syriens gehen auch in der fünften Woche in unverminderter Härte weiter. Weiterhin kontrollieren die Dschihadisten der Miliz »Islamischer Staat« zwei Stadtviertel sowie die umliegenden Dörfer, zudem werden das Stadtzentrum und der Grenzübergang zur Türkei mit Raketen beschossen. Kurdischen Angaben zufolge soll womöglich auch Giftgas zum Einsatz gekommen sein. Eine Vielzahl von Zivilisten beklagten Ohnmachtsanfälle, Atemnot sowie Rötungen von Augen und Haut, berichtete die Kovorsitzende der in Kobani politisch führenden Partei der demokratischen Union (PYD), Asiya Abdullah, in der Nacht auf Mittwoch telefonisch aus der umkämpften Stadt. Eine Untersuchung in einem türkischen Krankenhaus soll nun klären, ob es sich tatsächlich um die Folgen eines Chemiewaffeneinsatzes handelt.

Während die türkische Regierung sich weigert, YPG-Kämpfer aus den anderen zum Selbstverwaltungsgebiet Rojava gehörenden Kantonen über türkisches Gebiet nach Kobani passieren zu lassen, sollen nun Peschmerga aus der kurdischen Autonomieregion im Nordirak kommen. Bislang habe allerdings noch kein diesbezüglicher Kontakt mit den YPG stattgefunden, berichtete der Präsident von Kobani, Enver Muslim, am Dienstag abend. Die YPG fordern, die Peschmerga müssten ihrem Kommando unterstellt werden. Offenbar herrscht hier ebenso Skepsis gegenüber den Peschmerga, die sich im Irak noch nicht besonders erfolgreich im Kampf gegen den IS gezeigt haben, wie gegenüber den Absichten des irakisch-kurdischen Präsidenten Massud Barzani, der bislang das Selbstverwaltungsgebiet in Nordsyrien mit einem Embargo belegt hatte.

Entlang der 30 Kilometer langen Grenze zwischen der Türkei und der kurdischen Enklave haben sich seit Beginn der Angriffe Mitte September Tausende Menschen versammelt, um ihre Solidarität mit den Verteidigern von Kobani zu zeigen und zu verhindern, dass der IS Unterstützung aus der Türkei erhält. Aus den kleinen Grenzdörfern sind Widerstandskommunen geworden. In Volksküchen werden in großen Töpfen Suppe und Tee für das gemeinsame Essen gekocht. Bürgermeister und Mitarbeiter von Stadtverwaltungen kurdischer Städte in der Türkei beteiligen sich ebenso wie Gewerkschafter aus Ankara, Studenten aus Istanbul und anarchistische Aktivisten aus Europa.

Vom Dach der Moschee des direkt an der Grenze gelegenen Dorfs Caykara aus ist die schwarze Fahne des IS wenige hundert Meter jenseits des Grenzstreifens zu erkennen. Familien, deren Angehörige in den Reihen der YPG kämpfen, beobachten mit banger Miene durch ihre Ferngläser jede Bewegung im knapp vier Kilometer entfernten Kobani. Immer wieder sind Schüsse und Einschläge von Mörsergranaten zu hören, schwarzer Rauch liegt über der Stadt. Für das Auge unsichtbar, nur durch ein fernes Dröhnen erkennbar, kreisen die Kampfflugzeuge der US-geführten Koalition am Himmel. In den vergangenen Tagen ist die Zahl der Luftangriffe wieder deutlich zurückgegangen. Plötzlich lässt eine Detonation den Ort erbeben, nahe der Grenze ist eine Stichflamme zu sehen. Mit Jubel begrüßen die auf dem Dorfplatz Versammelten die von einem US-Jet abgeschossene Rakete auf ein mutmaßliches IS-Ziel. »Biji Heval Obama«, lässt ein alter Mann den US-Präsidenten als »Freund« hochleben. Ironie schwingt in seinen Worten mit, schließlich stammen auch die Waffen des IS aus westlichen Hilfslieferungen an die Aufständischen in Syrien oder die irakische Armee. »In der Not hält sich der Ertrinkende an der Wasserschlange fest«, beschreibt Tahir, ein Mitglied der linken Demokratischen Partei der Völker (HDP), die Gefühlslage vieler mit einem kurdischen Sprichwort.

Entlang des Grenzstreifens patrollieren türkische Panzer. Mehrfach wurden die Mahnwachen in den vergangenen Wochen von der Militärpolizei überfallen und Dutzende Menschen verletzt. Die nächtlichen Angriffe dienten als Ablenkung, während Lastwagen mit Munition für den IS die Grenze überquerten, berichten Dorfbewohner. Auch Krankenwagen, die verwundete IS-Kämpfer in Krankenhäuser in der türkischen Stadt Urfa bringen, sind zu beobachten. Zwar werden auch YPG-Kämpfer in türkischen Krankenhäusern behandelt, doch mehrere von ihnen wurden dort bereits verhaftet, weil sie Mitglieder der Arbeiterpartei Kurdistans PKK sein sollen. Die PKK-Fahne ist auch über drei Särge von gefallenen YPG-Kämpfern ausgebreitet, die von einer Menschenmenge vom Krankenhaus in Suruc in einem Trauerzug zum Friedhof gebracht werden. Der Sarg einer Kämpferin wird demonstrativ von Frauen getragen. Nachdem der Imam ein Gebet gesprochen hat, stimmt eine Frau ein Widerstandslied der PKK an. Alle Versammelten stimmen in den Refrain ein. »Berxwedan Jiyane – Leben heißt Widerstand

junge Welt 23.10.14