Junge Welt 26.02.2011
/ Geschichte / Seite 15
Freiheit ohne Land
Vor 150 Jahren verfügte Zar Alexander II. Abschaffung
der Leibeigenschaft in Rußland
Von Nick
Brauns
Am 4. März (nach julianischem
Kalender 19. Februar) 1861 unterzeichnete Zar Alexander II. das Manifest Ȇber
die allergnädigste Gewährung der Rechte freier ländlicher Bewohner für die
leibeigenen Menschen«. Die Abschaffung der Leibeigenschaft für rund 25
Millionen russische Bauern war das wohl bedeutsamste Ereignis der russischen
Sozialgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts.
Eine kleine Klasse adliger Gutsbesitzer hatte im Zarenreich nahezu unbegrenzte
Macht über die Masse leibeigener Bauern. Erhebungen von Leibeigenen gegen ihre
mit Folter und Auspeitschung erzwungene Sklaverei waren seit den 1840er Jahren
zu einer regelrechten »Epidemie« – so schrieb Karl Marx 1858 – geworden. Laut
einer Statistik des Innenministeriums wurden jährlich rund 60 Adlige von
Leibeigenen ermordet. Während des Krimkrieges 1853–55 hatten sich die
Bauernaufstände erneut verschärft. Schließlich hatte die Kriegsniederlage der
aus analphabetischen leibeigenen Bauern gebildeten Truppen gegen die Armeen
Englands und Frankreichs die Rückständigkeit des Zarenreichs vor aller Welt
bloßgestellt. Dies machte Alexander II. deutlich, daß
Reformen unabdingbar waren, wenn Rußland seine
Großmachtstellung erhalten wollte. »Besser die Leibeigenschaft von oben
abschaffen, als jene Zeit abwarten, wenn sie anfangen wird, von unten
abgeschafft zu werden«, verkündete der Zar nach Unterzeichnung des Pariser
Friedens im März 1856 vor einer Deputation des Moskauer Adels.
Ausplünderung geht weiter
Ein aus Regierungsbeamten, Ministern
und Großgrundbesitzern bestehendes Hauptkomitee für die Bauernangelegenheiten
sowie aus Adligen gebildete Gouvernementskomitees
arbeiteten nun ohne Beteiligung der betroffenen Bauern entsprechende Reformen
aus. Dabei ging es darum, die Auswüchse der Leibeigenschaft ohne finanziellen
Schaden für die Gutsbesitzer zu beseitigen und gleichzeitig die Entstehung
eines landlosen Proletariats als Unsicherheitsfaktor zu verhindern.
Dagegen warnte der revolutionär-demokratische Schriftsteller Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski in
der Petersburger Zeitschrift Sowremennik (»Der
Zeitgenosse«), daß eine solche von den Anhängern der
Leibeigenschaft durchgeführte »Befreiung« nur Betrug und weitere Ausplünderung
der Bauern sein könne. Egal, ob die Gutsbesitzer oder die liberale Bourgeoisie
letztlich die Reformen durchführten – es würde stets »eine Scheußlichkeit
herauskommen«. Notwendig seien statt dessen die
völlige Freiheit und unentgeltliche Übergabe der Ländereien der
Großgrundbesitzer an die Bauern. Dies hätte aber eine Revolution erfordert,
doch »das Volk, das jahrhundertelang von den Gutsbesitzern in Sklaverei
gehalten worden war, war nicht imstande, sich zu einem breiten, offenen, bewußten Kampf um die Freiheit zu erheben«, analysierte
Lenin rückblickend.
Der zentrale Punkt der am 5. März 1861 veröffentlichten Deklaration über die
Abschaffung der Leibeigenschaft betraf die persönliche Freiheit der Bauern:
»Das verbriefte Recht auf Bauern, die auf gutsherrlichen Gütern angesiedelt
sind, und auf Hofgesinde wird für immer aufgehoben.«
Der Gutsbesitzer durfte die Bauern nun weder verkaufen, verspielen oder
vererben noch sich in ihr Familienleben einmischen. Die Bauern erhielten eine
Reihe staatsbürgerlicher Rechte, wie das Recht, Verträge abzuschließen, Klage
zu erheben, Handel zu treiben und Gewerbe auszuüben. Die Gutsherren behielten
das »Eigentumsrecht auf alles ihnen gehörende Land«, mußten
aber den Bauern eine gewisse Menge Land gegen festgesetzte Verpflichtungen zur
ständigen Nutzung geben. Die Bauern wiederum waren verpflichtet, das ihnen
zugewiesene Land einschließlich der damit verbundenen Fron- und Geldleistungen
zu akzeptieren. Die Landzumessung war so beschaffen, daß
den Bauern rund ein Fünftel weniger Land blieb, als sie vor der Reform
bearbeitet hatten. Da der Staat den Gutsbesitzern eine den Landwert
um das Anderthalbfache übersteigende Ablösesumme gezahlt hatte, wurden die
Bauern verpflichtet, diese innerhalb von 49 Jahren mit Zinsen zurückzuzahlen.
Schließlich erhielten die Bauern ihre Parzellen nicht als Privateigentum,
sondern diese blieben Eigentum des Mir (Dorfgemeinschaft), der gegenüber dem
Staat und den Gutsbesitzern für die Zahlung von Steuern und Ablösegeldern
haftete. Solange die »zeitverpflichteten« Bauern ihre Ablöseschulden nicht
bezahlt hatten, wurden sie nicht aus dem Mir entlassen. Nur eine Minderheit der
Bauern fand eine ausreichende wirtschaftliche Grundlage. An die Stelle der
Leibeigenschaft war der Landhunger der bäuerlichen Massen getreten.
»Das Land ist unser«
Die mit großer Hoffnung erwartete Reform führte zu
einer Explosion auf dem Land. Enttäuschte Bauern weigerten sich, von einem
naiven Monarchismus erfüllt, die Verordnungen als ein echtes Gesetz des Zaren
anzuerkennen und warteten auf die Äußerung seines »wirklichen Willens«. Sie
lehnten weitere Fronarbeit ebenso ab wie die Bezahlung des Grundzinses und
verweigerten die Unterzeichnung der Grundbriefe, in denen die neuen Beziehungen
zwischen den Zeitverpflichteten und den Gutsherren festgeschrieben wurden. Bis
1863 wurden landesweit Revolten auf fast 2000 Gütern gezählt. Besonders
anhaltend waren Bauernaufstände im Dorf Besdna im
Gouvernement Kasan und in Kandejewka im Gouvernement
Pensa. »Das gesamte Land ist unser«, hieß es hier auf einer roten Bauernfahne.
Hunderte Bauern wurden getötet, verwundet oder nach Sibirien verbannt, als das
Militär in 660 Fällen die Umsetzung der Reform erzwang. Der Aufschwung der
bäuerlichen Massenbewegung führte zum Entstehen revolutionärer Zirkel unter
Intellektuellen sowie 1862 zur Gründung der Geheimorganisation »Semlja i Wolja« (»Land und Wille«
bzw. »Land und Freiheit«) als erster revolutionärer Partei Rußlands.
Einige Adlige hatten kritisiert, daß den Bauern
überhaupt Land überlassen werden mußte. »Dadurch sind
wir ein für allemal das hungrige Proletariat los und die mit diesem unbedingt
verknüpften träumerischen Theorien der Besitzgleichheit, den unversöhnlichen
Neid und Haß gegen die höheren Klassen und dessen
letztes Ergebnis, die soziale Revolution«, entgegnete ihnen Konstantin D. Kawelin, ein Vordenker der liberalen Aristokratie. Doch die
Reformer hatten die durch die Aufhebung der Leibeigenschaft freigesetzten
ökonomischen Triebkräfte ebenso unterschätzt wie diejenigen Revolutionäre, die
im Mir die Keimzelle eines russischen Sozialismus sahen. »Und nach 1861 verlief
die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland mit einer
Schnelligkeit, daß im Laufe einiger Jahrzehnte
Umwandlungen vor sich gingen, die in manchen alten Ländern Europas ganze
Jahrhunderte erfordert hatten«, erkannte Lenin. Diese Entwicklung schuf die
Voraussetzung für die sozialistische Oktoberrevolution 1917. Unmittelbar nach
ihrem Sieg verfügte der allrussische Rätekongreß auf
Lenins Antrag mit dem »Dekret über Grund und Boden« die entschädigungslose
Enteignung des Großgrundbesitzes.
Quelle: Kurt Mandelbaum zur Vorgeschichte der
russischen Revolution
Das historische Milieu, in dem der
russische Sozialismus entstand, ist durch die Entwicklung geschaffen worden,
die mit der Aufhebung der Leibeigenschaft (1861) einsetzte. Der Charakter der
Bauernbefreiung bestimmte die agrarische und damit überhaupt die ökonomische
und politische Geschichte Rußlands bis zur Gegenwart
in entscheidender Weise. Die vorbürgerlichen Knechtschafts-
und Abhängigkeitsverhältnisse wurden nicht aufgehoben, sondern der sich
ausbreitenden Warenproduktion und Geldzirkulation angepaßt
und dadurch konserviert. In den Geldzinsen der Bauern an den Grundherren oder
den Loskaufgeldern an den Staat, der dem Grundherren den Anspruch auf den
Bodenzins ablöste, erschien die vorkapitalistische Arbeits- und Produktenrente
nur in verwandelter Form wieder, worin sie den neuen Bedingungen entsprach. Die
karge Bodenzuteilung – die Aufhebung der Leibeigenschaft kam in Rußland wie in Westeuropa einem Verlust der Leibeigenen an
ihrem Lande gleich – zwang die Bauern, Land vom Grundherrn zuzupachten
und das Pachtgeld durch Bestellung des Herrnguts abzutragen. So kehre auch die
Fron in der »Abarbeit« zurück, aber sie verlor, da
der Grundherr mit seiner Produktion auf den Weltmarkt ging und die auri sacra fames
[verfluchter Hunger nach Gold] kennengelernt hatte, ihren gemäßigt
patriarchalischen Charakter und wurde Glied eines »berechneten und berechnenden
Systems« (Marx), das die Exploitationsweise des
Kapitals auf rückständige Produktionsmethoden aufpfropft.
Aus dem Vorwort zum 1929 veröffentlichten Briefwechsel
zwischen Marx, Engels und dem Übersetzer des »Kapital« ins Russische, Nikolai Franzewitsch Danielson