Junge Welt 24.05.2008 / Geschichte / Seite 15

Trügerischer Frieden

Der Vertrag von London vom 30.Mai 1913 beendete die türkische Herrschaft in Europa

Von Nick Brauns

Die europäischen Regierungen standen im 19. Jahrhundert dem Kampf der christlichen Balkanvölker um die Befreiung vom türkischen Joch mißtrauisch gegenüber, weil sie eine Stärkung Rußlands auf Kosten der Türkei befürchteten. Das auf dem Berliner Kongreß 1878 unter Schirmherrschaft des »ehrlichen Maklers« Otto von Bismarck geschaffene Gleichgewicht der Großmachtinteressen auf dem Balkan war eine Quelle von Haß und Zwietracht unter den Balkanvölkern.

Immer wieder flammten auf Kreta und in Makedonien Aufstände gegen die türkische Herrschaft auf, die blutig niedergeschlagen wurden. Da die rechtlich schlechtergestellten Christen als Pächter von moslemischen Großgrundbesitzern ausgebeutet wurden, hatte ihr nationaler Kampf zugleich klassenkämpferischen Inhalt.

1912/13 nutzten die christlichen Balkanstaaten die Schwäche des »kranken Mannes am Bosporus«, um die Region endgültig von der türkischen Herrschaft zu befreien. Unter russischer Patronage hatten sich Serbien und Bulgarien im März 1912 zum Balkanbund vereinigt. Der Zar wollte so ein weiteres Vordringen des Habsburgerreiches, das 1908 bereits Bosnien und Herzegowina annektiert hatte, verhindern. Doch nun schlossen sich auch Griechenland und Montenegro dem Bund an, der damit zum Offensivbündnis gegen das Osmanische Reich wurde.

Internationale Spannungen

Mit einer »Kollektiven Note der vier Balkanmächte«, in der sie die Anerkennung der ethnischen Autonomie der einzelnen Völkerschaften forderten, erklärte der Balkanbund am 13.Oktober 1912 der Hohen Pforte, der Regierung des Sultans, den Krieg. 474000 Soldaten der verbündeten Balkanarmee kämpften gegen 290000 Osmanen.

Keine zwei Monate später war das osmanische Heer an allen Fronten geschlagen. Die Bulgaren hatten Thrakien besetzt, Serben und Montenegriner Novi Pazar und die Griechen Epirus und Saloniki. Nur der Ausbruch der Cholera unter den bulgarischen Truppen schien Zar Ferdinand noch davon abzuhalten, das Kreuz der Ostkirche auf der Hagia Sophia in Konstantinopel aufzurichten und den Traum von einem bulgarischen christlich-orthodoxen Kaisertum zu verwirklichen.

Diese Niederlage der Türkei führte zu internationalen Spannungen. So forderte Serbien, ermutigt von Rußland, Zugang zum Meer – ein Ansinnen, dem sich Österreich und Italien vehement widersetzten. Angesichts der drohenden Ausweitung der Balkankriege zu einer europäischen Konfrontation zwangen Deutschland und England die Balkanstaaten am 4. Dezember 1912 auf einer Botschafterkonferenz in London zur Unterzeichnung eines Waffenstillstandes.

Doch am 23. Januar 1913 stürzte der extremistische Flügel der jungtürkischen Militärjunta um Enver Pascha den zu einem Friedensschluß bereiten Großwesir Kamil Pascha. Die Junta versuchte, verlorenes Territorium zurückzuerobern. Dieses Abenteuer endete für die Türken mit dem Verlust von Edirne, der letzten europäischen Festung vor der Hauptstadt Konstantinopel an die Bulgaren. Am 19. April schloß die geschlagene Türkei einen Waffenstillstand mit Bulgarien, Griechenland und Serbien.

Nur die montenegrinischen Truppen setzten ihre Angriffe fort und eroberten am 23. April die von den Türken geräumte albanische Festungsstadt Skutari. Immer offener intervenierten nun die europäischen Mächte auf dem Balkan. Mit einer Seeblockade und der Drohung einer Militärintervention zwangen Österreich und Deutschland die Montenegriner zur Übergabe von Skutari an Albanien.

Erneut zitierten die Großmächte die Balkanstaaten zur Konferenz nach London, wo diese am 30. Mai den Präliminarfrieden (Vorfrieden) von London unterzeichnen mußten. Damit verlor die Türkei alle ihre europäischen Gebiete westlich der Linie zwischen dem Schwarzmeerhafen Midia und der Stadt Enos an der türkischen Ägäisküste. Kreta vereinigte sich mit Griechenland. Die Jahrhunderte lange osmanische Herrschaft in Europa war auf einen Landstreifen westlich von Dardanellen und Bosporus zurückgeworfen.

Krieg um die Beute

Schon der Krieg war von schweren Übergriffen auf die Zivilbevölkerung begleitet. Nun flüchteten Hunderttausende Muslime von der Balkanhalbinsel in die Türkei. Muslimische Kleidung wurde verboten, Moscheen in Kirchen umgewandelt. Türkische Kriegsgefangene mußten sich in einem bulgarischen Gefangenenlager von Baumrinde ernähren.

Der Londoner Vertrag barg in sich bereits die Keime für den nächsten Krieg. Um Serbien einen Zugang zum Mittelmeer zu verwehren, hatte die Londoner Botschafterkonferenz auf Initiative Österreich-Ungarns den im November 1912 proklamierten Staat Albanien anerkannt und den deutschen Prinzen Wilhelm zu Wied als Regenten eingesetzt. Als Entschädigung fielen große Teile des albanischen Siedlungsgebiets wie das Kosovo an Serbien und Montenegro.

Serbien und Griechenland sahen sich um ihre Ansprüche in Albanien betrogen und teilten in einem Geheimabkommen das zuvor Bulgarien versprochene Makedonien unter sich auf. Ebenfalls auf Kosten Bulgariens erlaubten die Großmächte dem bislang neutralen Rumänien Grenzbereinigungen.

Der Befreiungskrieg von der türkischen Herrschaft schlug um in einen Schandkrieg um die Beute, bei dem die imperialistischen Blöcke im Hintergrund ihre Ausgangspositionen für die weitere Aufteilung der Türkei absteckten. Während Rumänien sich nun der britisch-französisch-russischen Entente anschloß, trat das isolierte Bulgarien dem von Deutschland geführten Dreibund bei.

Am 29. Juni 1913 griff die bulgarische Armee ohne Kriegserklärung die serbischen und griechischen Truppen in Makedonien an. Dieser zweite Balkankrieg endete mit einer vernichtenden Niederlage Bulgariens, das alle seine Eroberungen aus dem ersten Krieg verlor. Die Türkei konnte Edirne zurückerobern. Serbien und Griechenland teilten Makedonien unter sich auf. Rumänien erhielt die Stadt Silistra an der Donau und die südliche Dobrudscha.

Die nationale Frage auf dem Balkan wurde durch den am 10. August 1913 geschlossenen Frieden von Bukarest nicht gelöst. Wieder gingen Grenzlinien mitten durch die Nationen, jeder Bal­kanstaat mit Ausnahme Albaniens hatte eine ihm feindlich gegenüberstehende Minderheit innerhalb seiner Grenzen.

Rosa Luxemburg hatte bereits nach dem Londoner Vertrag gewarnt: »Der Frieden am Balkan bedeutet die Zerreißung der europäischen Türkei und gleichzeitig die sichere Gewähr für den nächsten Krieg um die asiatische Türkei«. Für die Großmächte, die bisher auf eine Politik der friedlichen Durchdringung gesetzt hatten, um wirtschaftlichen, militärischen und politischen Einfluß innerhalb der Türkei zu erlangen, waren die Balkankriege der Startschuß für die kommende militärische Aufteilung des osmanischen Erbes im Weltkrieg.

 

 

Quellentext:

Leo Trotzki, Der Balkan gehört den Balkanvölkern!

Der Balkankrieg ist der Versuch, auf schnellstmöglichem Weg das Problem zu lösen, wie neue staatlich-politische Formen geschaffen werden können, die für die ökonomische und kulturelle Entwicklung der Balkanvölker besser geeignet sind.

Der Hauptstandpunkt der europäischen Demokratie (d.h. der revolutionären Sozialdemokratie, N.B.) – der osteuropäischen wie auch der westeuropäischen zu dieser Frage ist völlig klar: Der Balkan gehört den Balkanvölkern! Man muß für diese Völker die Möglichkeit verteidigen, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, nicht nur entsprechend ihrem Willen und ihrer Vernunft, sondern auch entsprechend ihrer Kraft – im jeweiligen Land, das sie besiedeln. Das bedeutet für die europäische Demokratie, daß sie gegen jegliche Versuche, das Schicksal der Balkanhalbinsel den Ansprüchen der Großmächte unterzuordnen, kämpfen muß. Ob diese Ansprüche in der nackten Form der Kolonialpolitik zum Ausdruck kommen oder ob sie hinter Phrasen von einer Stammesverwandtschaft verstreckt werden – sie bedrohen gleichermaßen die Selbständigkeit der Balkanvölker. (…)

Der Balkan gehört den Balkanvölkern! Doch dieser Standpunkt heißt Nichteinmischung. Er bedeutet nicht nur, sich den territorialen Ansprüchen der Großmächte zu widersetzen, sondern auch den Balkanslawen die Unterstützung in ihrem Krieg gegen die Türkenherrschaft zu verweigern. Aber ist das nicht eine Politik von schmalspurigem nationalen und staatlichen Egoismus? Und heißt das nicht, daß die Demokratie sich selbst ablehnt?

Nicht im geringsten. Die Demokratie hat weder ein politisches noch ein moralisches Recht, die Regelung der Angelegenheiten, die die Balkanvölker betreffen, Kräften zu übertragen, die nicht durch die Demokratie kontrolliert werden. Denn man weiß nicht, wann und an welcher Stelle diese Kräfte einhalten werden – und die Demokratie, die ihnen das Mandat ihres politischen Vertrauens gegeben hat, wird ihnen keinen Einhalt gebieten können.

Aus: Leo Trotzki: Die Balkankriege 1912–13, Essen 1996, Seite 173