Junge Welt 28.01.2010 / Schwerpunkt / Seite 3
Bürgermeister abgeführt
Die Nachfolgepartei der kurdischen DTP will sich als Türkei-weite Linkspartei etablieren – doch schon jetzt ist sie massiver Repression ausgesetzt
Von Nick Brauns
An
den Büros der im Dezember vom Verfassungsgericht wegen angeblicher
Unterstützung der PKK verbotenen linken Partei für eine Demokratische
Gesellschaft DTP hängen jetzt die gelben Fahnen mit der grünen Eiche ihrer
bereits 2008 »auf Vorrat« gegründeten Nachfolgerin, der Partei für Frieden und
Demokratie BDP. Fast 100 frühere DTP-Bürgermeister sind in die BDP
übergetreten, ebenso die nach dem gerichtlichen Politikverbot für DTP-Chef
Ahmet Türk und die Co-Vorsitzende Aysel Tugluk verbliebenen 19
Parlamentsabgeordneten der aufgelösten DTP-Fraktion. Durch den Beitritt des
sozialistischen Abgeordneten Ufuk Uras aus Istanbul konnte eine neue 20köpfige
BDP-Fraktion gebildet werden. Ursprünglich hatten die DTP-Abgeordneten
angekündigt, aus Protest ihre Mandate niederzulegen. Daß der Rückzugsbeschluß
innerhalb einer Woche revidiert wurde, lag vor allem an der Mahnung des auf der
Gefängnisinsel Imrali inhaftierte Abdullah Öcalan: »Die Lösung liegt im
demokratischen Kampf«, ließ der PKK-Chef über seine Anwälte ausrichten. Ihm ist
wichtig, daß die BDP sich als eine Türkei-weite linke Kraft entwickelt, »Die
BDP darf keine Identitätspartei mehr sein. Alle sollen eingeschlossen sein,
auch feministische Kreise, Umweltschützer und andere. Die BDP muß in vielen
Farben erstrahlen; sie muß die Farbenvielfalt der Türkei reflektieren. Türken
und Kurden haben ein gemeinsames Leben bitter nötig«, fordert Öcalan und nennt
die 1972 vom Militär ermordeten türkischen Revolutionäre Mahir Cayan und Deniz
Gezmis als Vorbilder.
Der Staat gibt der BDP kaum Gelegenheit, sich zu etablieren. Nur zwei Wochen
nach dem DTP-Verbot wurden am 24. Dezember, als die neue Fraktion ihre
Anerkennung bei Parlamentspräsidenten beantragen wollte, bei einer landesweiten
Polizeioperation mehr als 80 BDP-Politiker festgenommen, darunter die
Oberbürgermeister der Großstädte Siirt, Batman und Cizre, Selim Sadik, Nejdet
Atalay und Aydin Budak sowie sieben weitere Bürgermeister. Die
Staatsanwaltschaft wirft den anschließend verhafteten Politikern vor, der PKK
anzugehören oder auf deren Weisung zu agieren. In der Anklageschrift heißt es,
die PKK strebe in der Türkei eine »demokratische Republik« mit »freien
Kommunen« an. Wer dieses Ziel teilt, gilt damit schon als PKK-Unterstützer. Daß
die verhafteten Bürgermeister in erniedrigender Weise in Handschellen zum
Gericht geführt wurden, sorgte für besondere Empörung. »Dem freien Willen
können keine Handschellen angelegt werden«, hieß es auf Transparenten von
Gewerkschaftern, die in mehreren kurdischen Städten in den Streik traten. Bei
einer zweiten Festnahmewelle am 21. Januar kamen weitere 60 BDP-Aktivisten,
darunter der Bürgermeister von Igdir, Nuri Günes, in Haft. Dutzende wurden zudem
in den letzten Tagen bei Protesten gegen die Repression festgenommen. Noch
traut sich die Staatsanwaltschaft nicht, den mit 66 Prozent gewählten
Oberbürgermeister von Diyarbakir, Osman Baydemir, einzusperren. Doch gegen den
populären Politiker, dem aufgrund unzähliger Verfahren über 200 Jahre Haft
drohen, wurde vor wenigen Tagen ein Ausreiseverbot erlassen.
Um ihre Solidarität auszudrücken, sind 35 bekannte türkische und kurdische
Künstler und Intellektuelle gemeinsam der BDP beigetreten, darunter die Menschenrechtsanwältin
Eren Keskin, Ayla Yildirim vom Türkischen Friedensrat und Ebru Kiranci von der
türkischen Schwulen- und Lesben-Vereinigung. Am Wochenende gingen Tausende
Menschen in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei gegen die fortdauernde
Repressionswelle auf die Straße. In einer gemeinsamen Erklärung von 330
Organisationen wurde die »Verleugnungs- und Vernichtungspolitik« verurteilt,
mit der die islamisch-konservative AKP-Regierung die kurdische Frage zu lösen
sucht. In Diyarbakir schlossen sich Arbeiter des staatlichen Tabakmonopols
Tekel, die seit rund 40 Tagen gegen ihre drohende Entlassung streiken, dem
Protest an. Wenn es der BDP gelingt, sich auch als Vertretung der gegen die
neoliberale Regierungspolitik kämpfenden Arbeiter zu etablieren, könnte das ein
Weg aus der Isolation als »kurdische Partei« sein.