Aus: Kurdistan Report Nr. 113 Mai 2004

 

Tradition der Solidarität nicht vergessen

 

Emigration, Asylrecht, politische Flüchtlinge, Fluchthilfe, Passfälschung - allesamt Begriffe, mit denen wir tagtäglich konfrontiert sind. Die Methoden des Staates, politisch unliebsame Menschen, deren Aktivitäten und Institutionen zu kriminalisieren und zu diffamieren, sind allen, die für eine andere Vorstellung von Leben und Politik kämpfen, nur zu gut vertraut. In besonderem Maße gilt dies für politische Flüchtlinge, die sich in Deutschland exilpolitisch betätigen, die ihre legitimen Rechte einfordern und für ihre Belange selbstbewusst eintreten.  Kollidiert dieses Engagement mit den Interessen und Zielsetzungen des deutschen Staates, lässt die Repression nicht lange auf sich warten. Kurdinnen und Kurden können diesbezüglich auf eine lange Erfahrung zurückblicken. In unzähligen Prozessen gegen Kurdinnen und Kurden spielten und spielen sie eine zentrale Rolle. Neu ist das alles jedoch nicht. Schon vor 70 Jahren war die Flucht vor den politischen Verhältnissen, vor Repression und Verfolgung für viele der einzige Ausweg, ihr Leben  zu retten. Damals war die gerade entstandene Sowjetunion Zufluchtsort für zahlreiche radikale Linke. So sind 1923 mehr als 100 000 nichtrussische Menschen in die junge Sowjetunion geflohen, darunter 60 000 Lett(inn)en und 12 000 Pol(inn)en. Auch 60 Deutsche beantragten politisches Asyl in einem Land, dessen Verfassung eine Anerkennung als politisch oder religiös Verfolgte ausdrücklich garantierte und ihnen seinerzeit die vollen Staatsbürgerrechte zusicherte.

1923 entstand auch die türkische Republik, mit deren Gründung der Leidensweg der Kurdinnen und Kurden begann, der bis heute kaum Aussicht hat, politisch und friedlich beendet zu werden. Im Gegenteil: Nachdem die USA den Kurdischen Volkskongress (Kongra-Gel) im Januar 2003 auf die Liste der terroristischen Organisationen gesetzt hat und die EU ihr am 2. April 2004 gefolgt ist, scheint eine politische Lösung der kurdischen Frage in noch weitere Ferne gerückt.

 

Dass Flucht vor Unterdrückung, Polizei- und Justizwillkür, politischer Verfolgung und Vertreibung, aber auch Solidarität und Hilfeleistung, bereits den Alltag in den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts prägten, ist nachzulesen in der hervorragenden Promotionsarbeit des Münchener Historikers Dr. Nikolaus Brauns, die 2003 im Pahl-Rugenstein-Verlag als Buch erschien. Es handelt sich um die historische Geschichte der Roten Hilfe, einer Vorfeldorganisation der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Wissenschaftlich fundiert und akribisch recherchiert, unter Nutzung des aktuellsten Archiv- und Quellenmaterials, führt der Autor in sehr gut lesbarer Form durch die wechselhafte politische Geschichte Roten Hilfe Deutschland (RHD) von ihrer Entstehung in der revolutionären Phase nach dem 1. Weltkrieg bis zur Zeit des antifaschistischen Widerstands am Ende der 1930er Jahre. Auf 348 großformatigen Seiten vermittelt er anschaulich und umfassend die Darstellung einer Massenorganisation mit rund einer halben Million Mitglieder, die in dieser Form in noch keiner Veröffentlichung über die Weimarer Republik erschienen ist. Unverständlich vor dem Hintergrund, dass zu den Gründer(inne)n bzw. Unterstützer(inne)n der Roten Hilfe immerhin so bekannte Persönlichkeiten zählten wie Kurt Tucholsky, Thomas Mann, Wilhelm Pieck, Albert Einstein oder Clara Zetkin.

 

Aktivistinnen der Roten Hilfe

 

 

Erinnert wird in dem Buch an die Niederschlagung des Januaraufstandes 1919 in Berlin, die bayerische Räterepublik, gegen die mit blutigen so genannten „wilden Freigerichten“ vorgegangen wurde. Arbeiterfrauen ergriffen aus dieser Situation die Initiative und gründeten die damals rein karitative Frauenhilfe. Die Frauen kümmerten sich um die zahlreichen politischen Gefangenen, sammelten Geld, Kleider- und Lebensmittel, Tabakwaren und Beinprothesen. Trotz ihrer rein humanitären Aktivitäten, wurde in der Presse gegen die Frauenhilfe polemisiert und gehetzt, bis schließlich die Polizei dem Druck nachgab und deren Mitglieder verfolgte. Aus der Notwendigkeit, nicht nur die Gefangenen, sondern auch deren zahlreichen proletarischen Familienangehörigen zu unterstützen, entwickelte sich aus der Frauenhilfe die Hilfsorganisation Rote Hilfe. Rosa Aschenbrenner, Landtagsabgeordnete der KPD, wurde 1924 Leiterin des bayerischen Rote Hilfe-Komitees.

 

War die obere Führungsebene der Roten Hilfe zwar durchweg von Männern dominiert und Frauen zumeist auf praktische sozialpolitische Tätigkeiten beschränkt, gab es dennoch herausragende Aktivistinnen, wie Clara Zetkin oder Jelena Stassowa, von Lenin „Genossin Absolut“ und vom russischen Volk „die alte Bolschewikin“ genannt. 1873 als Tochter einer Petersburger Adelsfamilie geboren, war sie seit 1898 für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) und nach deren Spaltung für die Bolschewiki aktiv. Sie beteiligte sich auch an der russischen Revolution. 1921 wurde sie von der Komintern nach Deutschland delegiert, wo sie mit falschen kanadischen Papieren einreiste und durch eine Scheinehe mit Ernst Wilhelm einen gültigen deutschen Pass erhielt. Ihre wichtigste Aufgabe war der Aufbau der RHD. Sie führte die Geschäfte der gesamten Organisation. Um während des Verbots der RH ab Dezember 1923 dennoch die Familien politischer Gefangener unterstützen zu können, hatte Jelena Stassowa unter ihrem angeheirateten und unverdächtigen Namen Lydia Wilhelm eine legale Struktur geschaffen und 1924 erfolgreich einen Hilfsverein gegründet. Die Künstlerin Käte Kollwitz oder auch die Frauenrechtlerin Helene Stöcker gehörten zu den Gründungsmitgliedern. „Lydia Wilhelm“ wurde Geschäftsführerin des Vereins. Nach Beendigung ihrer Arbeit in Deutschland wurde sie 1927 stellvertretende Vorsitzende des Exekutivkomitees der Internationalen Roten Hilfe (IRH) und später zur Vorsitzenden des ZK der russischen MOPR, der Internationalen Organisation zur Unterstützung von Kämpfern der Revolution. Nach dem Tod von Clara Zetkin 1933, leitete sie bis 1937 die IRH.

 

Einheitsfront im Kampf gegen den § 218

 

Ein eigener Abschnitt des Buches ist dem „Volkskampf gegen § 218“ während der Weimarer Republik gewidmet, als zwischen 800 000 und einer Million illegale Abtreibungen vorgenommen wurden. 5 000 bis 6 000 Frauen sind deswegen jedes Jahr zu Haftstrafen verurteilt worden. Der aus dem Kaiserreich stammende § 218 sah Zuchthausstrafen von bis zu fünf Jahren vor. 7- bis 8000 Todesfälle und 25 000 bis 30 000 schwere Folgekrankheiten mussten jährlich registriert werden. Die KPD lehnte im Gegensatz zur zögerlichen Haltung der SPD die §§ 218 und 219 als „Gebärzwang“ prinzipiell ab und hatte hierzu im Jahre 1922 eine Stellungnahme veröffentlicht. Ihre läge es fern, „die Abtreibung als ein Ideal zu empfehlen“. Doch müsse abgelehnt werden, „dass die proletarischen Frauen von der kapitalistischen Gesellschaftsordnung gezwungen werden kann, Kinder in die Welt  zu setzen, für die der Staat keine Lebensmöglichkeiten schaffen kann.“ Erst 1929 erkannte die Rote Hilfe die Notwendigkeit, sich auch dieser Thematik zu widmen. Anlässlich des Internationalen Frauentages am 8. März 1930 forderte sie die Amnestierung der Opfer der Abtreibungsparagrafen und bezeichnete deren Bestrafung als „Kulturschande“ gegen die „Proletarierinnen“.

Opfer der Verfolgung wurden seinerzeit auch Ärzte und Ärztinnen. Das KPD-Mitglied Friedrich Wolf und Else Kienle-Jakobowitz z. B. wurden wegen „gemeinschaftlicher, gewerbemäßiger Abtreibung“ verhaftet und mit einer Zuchthausstrafe bis zu 10 Jahren bedroht. Auf Initiative der Internationalen Arbeiterhilfe wurde ein „Zentraler Kampfausschuss gegen § 218 und für Verteidigung Dr. Friedrich Wolfs und Frau Dr. Kienles“ gegründet, in dem auch die RHD vertreten war und der eine Reihe von Forderungen erhob, die auch in den Kämpfen um die Abschaffung des § 218 in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine Rolle spielten. Weil sich an der Kampagne gegen den  § 218 eine Reihe unterschiedlicher Organisationen beteiligt hatten, konnte die seltene Gelegenheit einer von der KPD angestrebten Einheitsfront „von unten“ realisiert werden.

 

Internationalismus

 

Die Vielgestaltigkeit der Aufgaben und Aktionsbereiche der Roten Hilfe zeigt Nick Brauns auch in seinen Kapiteln über Amnestiekämpfe für proletarische politische Gefangene, über Justiz und Klassenkampf, über die internationale Solidarität, die sich zum Beispiel in der Kampagne für die Arbeiter Sacco und Vanzetti ausdrückte, die trotz aller Unterstützung am 22. August 1927 von der amerikanischen Klassenjustiz ermordet wurden. Der Kampf gegen die Todesstrafe oder für die rechtliche Stellung homosexueller Lebensgemeinschaften waren damals Themen und sind es heute.

 

Nazi-Zeit

 

Ausführlich wird die Zeit „unter dem Hakenkreuz“ dargestellt, in der wiederum auch „Frauen an der Solidaritätsfront“ unschätzbare Dienste leisteten. Ein „männerfixiertes Kommunistenbild“ der Nazis machte es ihnen möglich, illegale Zeitungen in Kinderwagen zu transportieren oder als „Hausfrauenkränzchen“ getarnte Treffen zu organisieren. Auf diese Weise konnten gesammelte Gelder an die Rote Hilfe weitergegeben werden. Auch die Kinderbetreuung untergetauchter Genossen oder inhaftierter Frauen war so gewährleistet.  Eine der Aktivistinnen war Ottilie Pohl, die 1940 wegen „Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens“ verhaftet und verurteilt wurde. Nach ihrer Freilassung setzte sie ihre Widerstandstätigkeit fort. 76-jährig ist sie im November 1942 im KZ Theresienstadt ermordet worden.

 

Asylrecht – eine endlose Geschichte

 

Beim Lesen des Kapitels „Politische Flüchtlinge und das Asylrecht“ glaubt man sich stellenweise in die heutige Zeit versetzt. Es geht in diesem Abschnitt um Fluchthilfe, die für Menschen geleistet wurden, die polizeilich gesucht wurden, aus einem Gefängnis geflohen oder auf dem Rückzug nach einem Aufstand waren. Die Rote Hilfe kümmerte sich auch um sichere Quartiere. Schon 1925 maß die RHD den Fragen des Asyl- und Gastrechts große Bedeutung bei. So wurde betont, dass das Asylrecht, das Recht des Zufluchtstaates bei politischen Delikten nicht auszuliefern, kein persönliches Schutzrecht des Flüchtlings, sondern ein Hoheitsrecht des Asyl gewährenden Staates darstelle. Aus politischen Gründen verweigerte damals die deutsche Regierung spanischen und italienischen Anarchisten das Asyl und lieferte sie der Justiz ihrer Herkunftsländer aus. Die Rote Hilfe kämpfte für ein unbeschränktes Asylrecht der politischen Emigration. Hierfür erarbeitete sie 1925 einen eigenen Gesetzentwurf. Bei der Diskussion über ein Auslieferungsgesetz konnten linke Reichstagsabgeordnete auf die Forderungen der Roten Hilfe zurückgreifen. 1931 forderte sie die Aufhebung „aller Gesetze und Verordnungen, die die Freizügigkeit und Arbeitsaufnahme der Emigranten einschränken, Verbot jeglicher Auslieferung, volle Berechtigung der Emigranten an der sozialen Fürsorge.“ Forderungen, die genau so auch heute erhoben werden. Im Zwischenbericht 1931/32 der RHD ist vermerkt, dass „Genossen vor der Auslieferung bewahrt“ und von „Folterung und Krankheit gesundheitlich, moralisch und wirtschaftlich“ wieder aufgerichtet werden konnten, um sie „dem kämpfenden Proletariat zu erhalten“, was eine „wichtige Solidaritätspflicht“ sei.

 

Schafft Rote Hilfe!

 

Diese Gesamtdarstellung der Roten Hilfe ist kein Geschichtsbuch mit der trockenen Aneinanderreihung von Daten, Fakten und Ereignissen, sondern ein spannend, lebendig und interessant geschriebenes und mit rund 300 Abbildungen und Faksimiles reich bebildertes Standardwerk.

 

Dem Resümee des Autors ist unbedingt beizupflichten: „Die von der Roten Hilfe Deutschlands geschaffene Tradition der Solidarität hat es verdient, nicht in Vergessenheit zu geraten.“

Der Titel seines Buches „Schafft Rote Hilfe“ sollte aber auch in einer Zeit des dramatischen Abbaus von Bürger/innen- und Freiheitsrechten, der staatlichen Aggression nach Außen und Repression nach Innen, impulsgebend sein für die Gründung neuer Rote Hilfe-Gruppen und das Bewusstsein schärfen für eine aus der Mode gekommene politische (und internationale) Solidaritätsarbeit.

An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass die Rote Hilfe seit Jahren einen wichtigen Beitrag leistet zur Unterstützung der Kurdinnen und Kurden in Deutschland, die aufgrund ihrer politischen Betätigung unvermindert kriminalisiert und strafverfolgt werden.

 

Monika Morres

 

 

Nikolaus Brauns: Schafft Rote Hilfe ! – Geschichte und Aktivitäten der proletarischen Hilfsorganisation für politische Gefangene in Deutschland (1919 – 1938), Pahl-Rugenstein Verlag, Bonn 2003, 32.oo €