Knüppel und
Tränengas gegen Arbeiter
Neoliberale
Offensive der türkischen Regierung stößt auf eine zersplitterte
Arbeiterbewegung
Von Nick
Brauns
Mit
Wasserwerfern und Tränengas lösten Spezialeinheiten der türkischen Polizei
Mitte April ein Streikcamp von Tabakarbeitern in der Schwarzmeerstadt Samsun
auf. Zwölf Tage lang hatten die Arbeiter mit ihren Familien eine Fabrik
besetzt, um gegen die privatisierungsbedingte Entlassung von 110 Kollegen zu
protestieren. Das Zigarettenwerk war zuvor von der Regierung an den
Lucky-Strike-Produzenten BAT verkauft worden.
Richtete
sich der Einsatz von Pfefferspray und Knüppeln lange vor allem gegen
demonstrierende PKK-Anhänger in den kurdischen Landesteilen, so ist dieses
Vorgehen unter der seit 2002 regierenden islamisch-konservativen AKP-Regierung
von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zum
normalen Umgang auch mit protestierenden Arbeitern in der Westtürkei geworden.
Während die türkische Wirtschaft mit einem kräftigen Wachstum von fast neun
Prozent im vergangenen Jahr aus der globalen Krise kam, bleibt die Armut
unverändert hoch. Die im Interesse der anatolischen Unternehmer und des
internationalen Großkapitals betriebene neoliberale Regierungspolitik setzt auf
die Privatisierung von Staatsbetrieben und die Deregulierung des
Arbeitsmarktes. Im Februar 2011 verabschiedete die AKP ein Paket von rund 250
Einzelgesetzen, das unter anderem eine Flexibilisierung der Arbeit, eine
Aufweichung des Kündigungsschutzes, die vereinfachte Versetzung von
Beschäftigten in andere Landesteile, eine erleichterte Erhöhung der
Regelarbeitszeit sowie die Senkung der Unternehmerbeiträge für die
Sozialversicherung beinhaltete. Zehntausend Gewerkschafter, die vor dem
Parlament gegen diesen massiven Angriff auf Arbeiterrechte protestierten,
wurden von Panzerwagen gestoppt und auseinandergeprügelt.
Den bislang
massivsten Widerstand gegen die Privatisierungspolitik leisteten im vergangenen
Jahr 12.000 Beschäftigte des ehemals staatlichen Tabakmonopols Tekel, die durch den Verkauf ihrer Arbeitsstätten an BAT
ihre Jobs als Staatsangestellte verloren hatten und in den rechtlosen
Leiharbeitsstatus 4/c versetzt werden sollten. Trotz massiver Polizeiangriffe
harrten die im Dezember 2009 aus dem ganzen Land zusammengekommenen Arbeiter 2
½ Monate in ihrem Protestcamp in Ankara aus. Ladenbesitzer, Oppositionsparteien
und kommunistische Gruppen versorgten die Streikenden mit Lebensmitteln.
Hunderttausende Arbeiter beteiligten sich an einem landesweiten
Solidaritätsstreik. Nachdem ein Gerichtsurteil Anfang März 2010 den Tekel-Arbeitern Lohnfortzahlung zugestand, brach die
Gewerkschaft den aktiven Kampf ab. Ein Jahr später wurden die Tekel-Arbeiter durch ein weiteres Gerichtsurteil in einen
lediglich leicht verbesserten 4/c-Status versetzt. Der Tekel-Kampf
war damit letztendlich gescheitert, weil die Gewerkschaftsführung nicht mehr
auf die Kraft der Arbeiter vertraut hatte und sich auf die Justiz verließ.
Für die noch
immer unter den Auswirkungen des Militärputsches von 1980 leidende
Arbeiterbewegung war der TEKEL-Kampf dennoch ein Fanal, das am 1.Mai 2010 seine
Fortsetzung mit einer Großkundgebung von bis zu 300.000 Menschen auf dem
Istanbuler Taksim-Platz fand. Erstmals nach einem
Massaker der NATO-Konterguerilla auf einer Gewerkschaftskundgebung im Jahr 1977
war der Taksim wieder für eine Maikundgebung
freigegeben worden. Auch in diesem Jahr werden wieder Hunderttausende auf einer
Kundgebung auf dem Taksim erwartet. Diese seltene
Einheit täuscht allerdings über die Schwäche der auf je drei Dachverbände der
Industriegewerkschaften und des öffentlichen Dienstes aufgespaltene
Gewerkschaftsbewegung, deren reeller Organisationsgrad auf rund fünf Prozent
der Erwerbstätigen geschätzt wird. Da die AKP zahlreiche ihrer Anhänger im
öffentlichen Dienst unterbrachte, haben die regierungsnahen Gewerkschaften
stark an Einfluss gewonnen. So wuchs die islamische Gewerkschaft Memur-sen unter der AKP-Regierung von 60.000 auf 470.000
Mitglieder an, während kämpferische Gewerkschafter des linksgerichteten
Dachverbandes KESK gekündigt oder sogar unter Terrorismusvorwürfen inhaftiert
werden. Bei einer offiziellen Arbeitslosenquote von rund zwölf Prozent, die in
der Realität wohl wesentlich höher ist, sind die Gewerkschaften mit einer
massiven „industriellen Reservearmee“ konfrontiert, die bereit ist, für
Billiglöhne zu schuften. Über die Hälfte der Beschäftigten in der Türkei
arbeiten zudem in informellen Arbeitsbeziehungen und fallen somit nicht unter
Tarifverträge.
Das durch
die auch von der Türkei unterzeichnete Konvention der Internationalen
Arbeitsorganisation garantierte Recht auf gewerkschaftliche Organisierung
und kollektive Tarifverhandlungen wird Millionen von Arbeitern durch Gesetze
aus der Zeit des Militärputsches vorenthalten. Tausende Arbeiter wurden unter
der Regierung Erdogan wegen gewerkschaftlicher Betätigung entlassen oder sogar
inhaftiert. Um als tariffähig anerkannt zu werden, muß
eine Gewerkschaft einen Organisationsgrad von zehn Prozent in einer Branche
sowie von fünfzig Prozent innerhalb eines Betriebes vorweisen.
Gewerkschaftsmitgliedschaft muß notariell beglaubigt
werden. Beschäftigte im Öffentlichen Dienst haben zwar seit letzem Jahr das
Recht auf Tarifverhandlungen, doch Arbeitskampfmaßnahmen sind ihnen untersagt.
Gewerkschaftsrechte
stehen so im Mittelpunkt der jüngsten Arbeitskämpfe. Mit regelrechten
Wildwestmethoden versuchte das international tätige Transportunternehmen UPS,
eine gewerkschaftliche Organisierung seiner Angestellten in der Türkei zu
verhindern, deren Lohn bei einem Zehnstundentag nur knapp über dem gesetzlichen
Mindestlohn von 315 Euro liegt. 163 Gewerkschaftsmitglieder wurden im Frühjahr
2010 wegen angeblicher „Arbeitsverweigerung“ entlassen, nachdem die
Transportarbeitergewerkschaft Tümtis in der
Istanbuler UPS-Vertretung 700 der 2500 Beschäftigten organisiert hatte. In
Izmir zwang ein UPS-Subunternehmen seine Mitarbeiter zum Gewerkschaftsaustritt
beim Notar. Ein Manager bedrohte dabei Tümtis-Aktivisten
mit Schüssen aus einer Pistole. In Istanbul prügelte die Polizei Streikbrechern
den Weg frei, die zuvor versucht hatten, Streikposten zu überfahren. Der
UPS-Kampf endete nach 272 Tagen mit einem Sieg. Am 1. Februar 2011
unterzeichneten Tümtis und UPS ein Abkommen, das der
Belegschaft das Recht auf gewerkschaftliche Organisation zusicherte. 151
gekündigte Gewerkschaftsaktivisten wurden wieder eingestellt und ausstehende
Löhne gezahlt. Ermöglicht wurde dieser Erfolg insbesondere durch die bei
Arbeitskämpfen in der Türkei bislang nicht in diesem Ausmaß gekannte
internationale Solidarität. So waren mehrere europäische
Gewerkschaftsdelegationen nach Istanbul gekommen und die die Internationale
Transportarbeiterföderation (ITF) hatte zwei Aktionstage für die türkischen
Kollegen durchgeführt, an denen sich Zehntausend Gewerkschafter von Argentinien
über Holland, Australien und den USA beteiligten.
Ein
vergleichbarer Kampf wird derzeit beim Lederverarbeitungsbetrieb DESA geführt,
der Luxusmarken wie Prada beliefert. An den DESA-Standorten in Istanbul, Corlu und Düzce arbeiten 1200
Menschen für einen Monatslohn von 300 bis 350 Euro bei einer zehn stündigen
Arbeitszeit sechs Tage die Woche. Dutzende Minderjährige arbeiten fünf Tage die
Woche zum Teil bis 22 Uhr. Seitdem die Lederarbeitergewerkschaft Deri-Is angesichts solcher Arbeitsbedingungen im Jahr 2008
die Organisierung der Lederarbeiter eingeleitet hat, wurden Dutzende
Beschäftigte gekündigt.
Vor dem
Hintergrund der auch von der EU geforderten neoliberalen Öffnung der Türkei
finden landesweit immer wieder kleinere Arbeitskämpfe statt, die trotz ihrer
Radikalität bis hin zu Betriebsbesetzungen isoliert bleiben und schließlich von
der Polizei gewaltsam beendet werden. Solange die Linken und die Gewerkschaftsbewegung
in der Türkei uneinig bleiben und sektiererische Organisationsinteressen vor
die reellen Bedürfnisse der kämpfenden Arbeiter stellen, werden Erfolge wie bei
UPS die Ausnahme bleiben.