Zwischen Apo und Bush

Perspektiven der kurdischen Befreiungsbewegung


von Nick Brauns


In den kurdischen Gebieten der Türkei herrscht wieder Krieg. Nachdem die türkische Armee ihre Frühjahrsoffensive gegen die Arbeiterpartei Kurdistan PKK startete, hoben die kurdischen Volksverteidigungskräfte Mitte Mai ihren seit Herbst geltenden einseitigen Waffenstillstand auf. Über Hundert tote Soldaten und ein Dutzend gefallener Guerillakämpfer bei 67 türkischen Militäroperationen sind die blutige Bilanz allein im Mai. Guerillakämpfer brachte einen Güterzug zum Entgleisen, griffen Polizeiposten und Militärconvoys an, zerstörte einen Panzer und schossen einen Hubschrauber ab.


Der einseitige Waffenstillstand war auf Wunsch der USA vermittelt durch den irakischen Präsidenten Talabani verkündet worden, um der regierenden AKP-Partei von Ministerpräsident Tayyip Erdogan den Rücken zu stärken. Dieser geriet jedoch unter Druck der Hardliner im Militär und ließ die Chance zu einer politischen Lösung der kurdischen Frage ungenutzt


Setzte die PKK in den 90er Jahren auf den Volkskrieg zur Befreiung Kurdistans, so dient die Guerilla heute als Faustpfand zur Erzwingung einer politischen Lösung. Gleichwertig mit dem bewaffneten Kampf wird der „Serhildan“ (Volksaufstand) propagiert. Gemeint sind Formen des zivilen Ungehorsams wie die massive Beteiligung an Guerillabegräbnissen.


Die Masse der Kurdinnen und Kurden in der Türkei steht weiterhin hinter Abdullah Öcalan. Das hat die millionenfache Beteiligung am kurdischen Neujahrsfest Newroz am 21.März gezeigt, das überall im Zeichen der Verbundenheit mit dem „kurdischen Volksführer“ gefeiert wurde. Mobilisierend wirkte sich die Sorge über den Gesundheitszustand des auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali inhaftierten „Apo“ aus. Dessen Anwälte hatten im Februar gestützt auf Laboruntersuchungen seiner Haare erklärt, ihr Mandant werde mit Schwermetallen vergiftet. Bis heute weigert sich der türkische Staat, eine unabhängige Ärztedelegation zur Prüfung dieser Vorwürfe nach Imrali zu schicken. Die breite Zustimmung zu Öcalan als Symbolfigur darf freilich nicht über die Widersprüchlichkeiten des kurdischen Befreiungskampfes hinwegtäuschen.


Öcalan hatte nach seiner Verschleppung im Jahre 1999 seine bisherige politische Linie radikal geändert. Statt Autonomie trat er nun für eine „Demokratische Republik“ Türkei ein und entwarf 2005 das Konzept des „Demokratischen Konföderalismus“. Die Kurden sollten innerhalb der jeweiligen Landesgrenzen basisdemokratische Selbstverwaltungsstrukturen schaffen. Die Forderung nach Unabhängigkeit verurteilte Öcalan nun als „primitiven Nationalismus“.


In der Hoffnung auf Ansprechpartner innerhalb des türkischen Staatsapparates beruft sich Öcalan auf den Gründer der Republik Türkei Mustafa Kemal. Dieser hatte im Befreiungskrieg gegen die Westalliierten ein Bündnis mit den kurdischen Stämmen gebildet und diesen Autonomie versprochen, wollte bei Gründung der Republik Türkei davon allerdings nicht mehr wissen und führte stattdessen eine brachiale Türkisierungspolitik durch. „Die kurdischen Aufstände und die Interessen und Pläne der Briten in der Region haben dazu geführt, dass Mustafa Kemal seine Pläne aufschob“, behauptet Öcalan. Da „diejenigen, die sich heute Kemalisten nennen, ... in Wirklichkeit nichts mit Mustafa Kemal zu tun“ hätten, findet sich der kurdische Volksführer in dem Dilemma, mit seinen Lobliedern auf Atatürk die kurdischen Nationalisten vor den Kopf zu stoßen, während die „offiziellen“ Kemalisten insbesondere im Militär mit wüstem Chauvinismus auf den Vorschlag einer Republik der Türken und Kurden reagieren.


Widersprüchlich ist auch das Verhältnis der kurdischen Befreiungsbewegung gegenüber dem Imperialismus. Der Sturz des Baath-Regimes im Irak habe Bewegung in den Status Quo im Nahen Osten gebracht, rechtfertigen PKK-Vertreter den angloamerikanischen Überfall auf den Irak. Während die Kollaboration der irakischen Kurdenparteien KDP und PUK mit einer Autonomie der kurdischen Siedlungsgebiete und dem Amt des irakischen Staatspräsidenten für PUK-Führer Jalal Talabani belohnt wurde, reagierten die USA nicht weiter auf Kooperationsangebote der PKK, um das strategische Bündnis mit dem NATO-Partner Türkei nicht zu gefährden. Die US-Regierung bezeichnet die PKK als „terroristische Organisation“, weigert sich aber, militärisch gegen deren im Nordirak vorzugehen, um keine weitere Front zu eröffnen.


Während Leyla Zana von der legalen kurdischen Partei für eine Demokratische Gesellschaft auf dem Newroz in Diyarbakir von drei „Genossen“ der Kurden sprach und neben Abdullah Öcalan auch Talabani und den Präsidenten des irakisch-kurdischen Autonomiegebiets Mesud Barzani nannte, kritisierte Öcalan diese irakischen Kurdenführer wegen ihrer Kollaboration mit den US-Besatzern. Die USA seien nicht im Nahen Osten, um dem kurdischen Volk zur Freiheit zu verhelfen, warnte Apo, den USA, die ihn 1999 an die Türkei ausgeliefert hatten, zu vertrauen.


Pro-imperialistisch äußerten sich wiederholt Vertreter des iranischen PKK-Ablegers Partei des Freien Lebens Kurdistans PJAK, deren Kämpfer im vergangenen Jahr über 100 iranische Pasdaran töteten. „Es gehört zum außenpolitischen Selbstverständnis der PJAK, externe Staaten fördernd für die Demokratisierung zu gewinnen“, orakelte der Parteirat der PJAK im November 2006 und PJAK-Sprecher Ihsan Warya erklärte gegenüber US-Journalisten, gemeinsam mit George W. Bush das Mullah-Regime stürzen zu wollen.


Von Illusionen geprägt ist das Verhältnis der kurdischen Nationalbewegung zur Europäischen Union. Zu Beginn der Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU nahm die damalige legale kurdische Partei DEHAP eine bedingungslos zustimmende Position ein. In Diyarbakir demonstrierten 100.000 Menschen für einen EU-Beitritt. Obwohl die EU die Rechte der Kurden niemals explizit als Beitrittskriterium benannte, versprachen sich die DEHAP vom Aufnahmeprozess eine demokratische Dynamik. Tatsächlich erfolgte eine Reihe Gesetzesänderungen bis hin zur Legalisierung kurdischer Fernsehsendungen. Schnell zeigte sich, dass diese Reformen auf dem Papier verblieben oder bald wieder der Terrorismusbekämpfung geopfert wurden. Als im April 2006 Massenproteste in kurdischen Städten blutig niedergeschlagen wurden, schwiegen die EU-Institutionen und innerhalb der kurdischen Parteien reifte die Erkenntnis, vielleicht auf die falsche Karte gesetzt zu haben. Völlig ignoriert wurde zudem, dass die Kopenhagener Kriterien zur EU-Aufnahme der Türkei nicht nur einen Absatz über demokratische Rechte enthalten, sondern einen Katalog neoliberaler Maßnahmen wie der Privatisierung des Gesundheitswesens. So bedeutet die von der EU geforderte Einschränkung des türkischen Agrarsektors die Vertreibung weiterer Millionen Kurden von ihrem Land.


Die DTP setzt nun darauf, bei der Parlamentswahl am 22.Juli mit mindestens 20 „unabhängigen“ Kandidaten in die Türkische Nationalversammlung gewählt zu werden. Diese Hoffnung könnte trotz massiver staatlicher Repression aufgehen. Doch fraglich ist, was eine isolierte kurdische Fraktion im Parlament ausrichten kann. Weder wird sie dort Bündnispartner für eine andere Kurdenpolitik finden, noch könnte sich das Parlament gegen das Militär durchsetzen.


Trotz aller aus der Verzweiflung geborenen Anbiederungsversuche an die USA und EU ist die kurdische Bewegung ein Motor fortschrittlicher Entwicklung in der Türkei. Der Befreiungskampf hat zur demokratischen Bewusstseinswerdung von Millionen noch in einer weitgehend feudal strukturierten Gesellschaft aufgewachsenen Menschen geführt. Insbesondere die breite Partizipation von Frauen in den Massenorganisationen und der Guerilla ist für den Nahen Osten bemerkenswert.


Nun muss die kurdische Bewegung eine Strategie entwickeln, um aus ihrer Isolation auszubrechen. Das Schielen auf angeblich kooperationsbereite Sektoren des türkischen Establishments hat sich ebenso als Holzweg entpuppt, wie die Hoffnung auf äußeren Druck. Für Europa, die USA und die arabischen Regimes bleiben die Kurden Bauern auf dem Schachfeld.


Notwendig ist es, neben einer nationalen und demokratischen Agenda eine soziale Programmatik zu entwickeln, die Bündnisse der kurdischen Bevölkerung mit den zum Teil noch von antikurdischem Chauvinismus verhetzten türkischen, iranischen und arabischen Werktätigen ermöglichen würde. Da der Imperialismus auch im Nahen Osten die Durchsetzung des neoliberalen Projektes betreibt, müssen solche Bündnisse auf antiimperialistischer Grundlage geschlossen werden. Im gemeinsamen Kampf der Kurden mit ihren Nachbarvölkern gegen die von den USA betriebene Neuordnung des „Greater Middle East“ könnten die Kurden auch ihre eigenen Rechte erlangen.


Nick Brauns ist Journalist in Berlin


aus: antidot – Wochenzeitung der widerständigen Linken / antidotincl.03/07 Fluchtzeiten – Fluchtseiten Beiträge aus der antirassistischen Bewegung