Der Sturz des roten Sultans

Vor 95 Jahren übernahmen die Jungtürken die Staatsgewalt im Osmanischen Reich

 

Seit 1876 regierte Sultan Abdul Hamid II. das Osmanische Reich mit eiserner Faust. Wegen seiner Massaker an christlichen Armeniern galt er als der „rote Sultan“. Nur der deutsche Kaiser hielt dem orientalischen Despoten die Treue. „Möge seine Majestät der Sultan und mögen die 300 Millionen Mohammedaner, welche auf der Erde zerstreut lebend in ihm ihren Kalifen verehren, dessen versichert sein, dass zu allen Zeiten der Deutsche Kaiser ihr Freund sein wird“, hatte Wilhelm II. 1898 geschworen.

 

In der jungtürkischen Revolution erzwangen aufständische Truppeneinheiten am 23. Juli 1908 die Wiederinkraftsetzung der osmanischen Verfassung von 1876. Das Osmanische Reich war durch die bürgerliche Revolution zu einer konstitutionellen Monarchie geworden, Abdul Hamid II. blieb aber an der Macht. Die im Komitee für Einheit und Fortschritt (Ittihad ve Terakki) organisierten Jungtürken wirkten im Hintergrund als Kontrolleure, ohne die Regierung direkt zu übernehmen.

 

Den Kern dieser Ittihadisten bildeten Offiziere, die ihre Ausbildung in der Militärischen Lehranstalt von Konstantinopel erhalten hatten. Viele von ihnen waren durch die Schule des preußischen Militarismus gegangen, da der Sultan seine Truppe durch deutsche Offiziere wie General Colmar von der Goltz modernisieren ließ. Entsprechend groß war ihre Sympathie für das deutsche Kaiserreich, dass mit dem Bagdadbahnprojekt an der systematischen Unterwanderung des Orients arbeitete.

 

Während die Jungtürken durch außenpolitische Niederlagen wie die Unabhängigkeitsdeklaration Bulgariens und die Annexion Bosniens und der Herzegowina durch den österreichischen Kaiser beschäftigt waren, bereiteten Anhänger des alten Regimes die Gegenrevolution vor. Abdul Hamid war Kopf einer Mohammedanischen Liga aus bewaffneten Islamgelehrten und Derwischmönchen. Auch in der Armee wuchs die Wut auf die jungtürkischen Offiziere, die sich mehr um Politik als um das Wohl der schlecht ernährten Truppen kümmerten. In den Kasernen kursierten Zettel mit Koranversen und Schmähgedichten gegen die „Gottlosen“.

 

Nur mit Mühe konnte die Polizei jüngtürkische Frauen vor dem religiösen Mob retten,  als sie sich unverschleiert auf den Straßen Konstantinopels zeigten. Proteste wallten auf, als der Parlamentssprecher Ahmed Reza erklärte, er wolle im europäischen Zylinder statt mit den traditionellen Fez über die Galatha-Brücke schreiten. In den Augen der frommen Bevölkerung symbolisierte dies Rezas Abkehr vom Glauben.

 

Zum offenen Aufstand kam es am 13. April 1909 nach der Ermordung von Hasan Fehmi Bey, dem Herausgeber der oppositionellen Zeitung Serbesti. Beteiligt an diesem antikonstitutionellen Putsch waren die Konstantinopeler Garnison, der islamische Klerus und Teile der einfachen Bevölkerung sowie die mit Großbritannien verbündete liberale Ahrarenpartei, die den zentralistischen Bestrebungen der Jungtürken feindlich gegenüberstand.

 

Die Soldaten ermordeten einige Offiziere und zogen vor das Parlament. Die Aufständischen unter Führung des islamischen Populisten Hafiz Darwis Wahdati forderten die Rückkehr zum islamischen Schariarecht, die Auflösung der Ittihat ve Terakki und den Rücktritt Ahmed Rizas, des Großwesirs und des Verteidigungsministers. Die Abgeordneten versprach die Erfüllung aller Forderungen, wenn die Verfassung ihre Gültigkeit behielte. Die liberale Opposition übernahm den Ministerrat und den Parlamentsvorsitz. Während für 12 Tage wieder die Scharia galt, kam es zu Plünderungen und Ausschreitungen des gegenrevolutionären Pöbels. Doch die Gegenrevolution blieb auf Konstantinopel beschränkt.

 

In Saloniki bereiteten die geflohenen Führer der Ittihadisten ihren Marsch auf Konstantinopel vor. Unter der Führung des in Preußen ausgebildeten Feldmarschalls Mahmud Sevket Pascha marschierte das mit der Bahn aus Mazedonien herantransportierte 3. Armeekorps am 23. April vor die Tore Konstantinopels, um die „Ordnung wiederherzustellen“. Griechische, serbische, albanische und bulgarische Freiwillige, die eine Restauration des osmanischen Völkergefängnisses befürchteten, hatten sich der Aktionsarmee angeschlossen. Als die Armee am 26. April während des Freitagsgebets in die Stadt eindrang, stellten sich ihnen nur Studenten der Medresen, Derwische und Hodschas entgegen. Unter grünen Fahnen starben sie im Barrikadenkampf als letzte Verteidiger des von Abdul Hamid verkörperten Panislamismus.

 

Die siegreichen Ittihadisten gingen mit äußerster Gründlichkeit gegen ihre Gegner vor. Tagelang herrschte Terror in Konstantinopel. Soldaten und Studenten wurden hingerichtet. Mit Hilfe der polizeilichen Geheimarchive konnten eine Reihe von Spitzeln des Sultans enttarnt und vor Gericht gestellt werden. Während des Ausnahmezustandes wurde auch der Führer der liberalen Opposition Prinz Sebahattin kurzfristig inhaftiert.

 

 „Im Palaste des Kalifen wird es leer. Eunuchen, Diener, Beamte verlaufen sich. Die Kämmerer, Sekretäre erwarten in Gefangenschaft das Urteil des Kriegsgerichtes. Die Frauen des Harems werden in verschlossenen Wagen verpackt, im endlosen Zug durch die Stadt zum Palast von Top Capu gebracht, wo ihre Eltern sie zurückholen werden, wenn alles vorbei ist“, schildert der Schriftsteller Essad Bey. „Die Gärtner, die 800 Köche, die Geheimpolizisten – ein endloser, kläglicher Zug von entlassenen brotlosen Dienern marschiert mit gesenkten Köpfen durch die Straßen von Pera. Der Sultan ist allein. Verlassen. Nur zwei Sekretäre, vier seiner gesetzlichen Frauen, die Mitglieder seiner Familie und ganz wenige treue Sklaven halten bei ihm aus in der letzten Stunde.“

 

Am  27. April 1909 beschloss das im Vorort San Stefano unter dem Schutz der jungtürkischen Armee tagende Parlament die Absetzung Abdul Hamids. Der Sultan trage die Verantwortung, dass Muslime während der Gegenrevolution Bruderblut vergossen hätten. Zudem habe der Sultan statt der erlaubten vier gleich sieben Ehefrauen, begründete der zu den Ittihadisten übergelaufene Scheich-ul-Islam Mehmed Zija Eddin die Absetzung Abdul Hamids auch als Kalif.

 

Abdul Hamid sei anschließend hingerichtet worden, heißt es in Walter Markovs Standartwerk zur „Geschichte der Türken“. Tatsächlich verbannten die Jungtürken den „roten Sultan“ lediglich nach Saloniki. Nach zwei Jahren kehrte er als Gefangener nach Konstantinopel zurück, wo 1918 krank und verlassen im Beylerbey-Palast verstarb.

 

Die Ittihadisten übernahmen jetzt direkt die Staatsmacht, schränkten die Rechte des Monarchen stark ein und erweiterten die Befugnisse des Parlaments. Als neuer Sultan wurde Abdul Hamids altersschwacher Bruder Mohamed V. eingesetzt, doch er durfte lediglich Vorlagen des Ministerrates unterzeichnen.

 

Bis 1918 blieben die Jungtürken fast ununterbrochen an der Regierung. Ursprünglich an den Idealen der französischen Revolution orientiert, errichteten sie ein Regime, dass von den anderen Nationalitäten im Osmanischen Reiche mehr gefürchtet wurde, als die Despotie Abdul Hamids. „Die Türkei erkannte nun, dass sie anstatt eines Abdul Hamid gleich mehrere hatte“, schrieb der amerikanische Diplomat Henry Morgenthau.

 

Unter dem Eindruck der Unabhängigkeitsbestrebungen nationaler Minderheiten und des Verlustes der europäischen Besitzungen des Reiches während der Balkankriege 1912-13 wurde der Panturanismus mit dem Ziel eines ethnisch reinen Großreiches aller Turkvölker vom Balkan bis zur chinesischen Mauer zum Programm der Ittihadisten. „Man fühlte sich nicht mehr als Mohammedaner mit den anderen nichttürkischen sunnitischen Völkern verbunden, man begann sich der türkischen Vergangenheit zu erinnern, schöpfte aus ihr den Stolz einer kriegerischen Herrenrasse“, heißt es in Hans Kohns „Geschichte der nationalen Bewegung im Orient“. Dieser Nationalismus lieferte das geistige Fundament für den Genozid an 1,5 Millionen kleinasiatischen Armeniern durch die jungtürkische Junta und ihre deutschen Militärberater während des ersten Weltkrieges und bildet auch eine Grundlage der bis heute gültigen kemalistischen Doktrin.

 

Nick Brauns