Heerschau des Proletariats

 

Vor 115 Jahren wurde erstmals der 1. Mai als internationaler Kampftag der Arbeiterbewegung begangen

 

Auf dem Gründungskongreß der Zweiten Internationale am 14. Juli 1889 in Paris hatte der französische Gewerkschafter Raymond Felix Lavigne gefordert: „Es ist für einen bestimmten Zeitpunkt eine große internationale Manifestation zu organisieren, und zwar dergestalt, daß gleichzeitig in allen Städten an einem bestimmten Tage die Arbeiter an die öffentlichen Gewalten die Forderung richten, den Arbeitstag auf acht Stunden festzusetzen.“

 

Als Datum dieser gemeinsamen Manifestation wurde der 1.Mai 1890 gewählt, da für diesen Tag bereits in den USA Protestkundgebungen im Gedenken an die Haymarket-Märtyrer geplant waren. Der 1. Mai war in den USA traditionell der Stichtag für den Abschluß von Arbeitsverträgen. 1886 waren rund 400.000 Beschäftigte aus 20.000 Betrieben in den Streik getreten, um die Aufnahme des 8-Stunden-Tages in die neuen Verträge zu fordern. Nachdem ein Provokateur am 4. Mai 1886 während einer Arbeiterkundgebung auf dem Haymarket von Chicago eine Bombe auf die Polizei warf, wurden vier Anarchisten nach Schauprozessen hingerichtet, obwohl ihnen keine Schuld an dem Anschlag nachzuweisen war.

 

In Deutschland herrschte nach dem Sturz Bismarcks Unsicherheit über den zukünftigen Umgang des Staates mit der Arbeiterbewegung. „Das Sozialistengesetz war unmöglich geworden; sollte das gemeine Recht an seine Stelle treten oder das Kriegsrecht? Das war die Frage, auf die am 1.Mai die Antwort gegen werden sollte“, fragte „Die Neue Zeit“. Zwar sollten allerorts Versammlungen und Maifeste veranstaltet werden. Doch die Arbeiter sollten am 1.Mai 1890 nur dort die Arbeit ruhen lassen, wo dies ohne Konflikte möglich war, mahnte der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei aus Sorge vor einem Blutbad.

 

Trotz drohender Sanktionen beteiligten sich deutschlandweit rund 100.000 Arbeiter an Streiks, Demonstrationen, Maifeiern und Maispaziergängen. In Berlin, Darmstadt, Dresden, Frankfurt, Königsberg, Leipzig, München und Nordhausen streikte etwa 10 Prozent der Arbeiterschaft. In Hamburg, wo 30.000 Arbeiter im Streik waren, sperrte der Arbeitgeberverband Hamburg-Altona am 2. Mai 20.000 Arbeiter aus, um sie zum Austritt aus den Gewerkschaften zu zwingen. Deutschlandweit sammelten Gewerkschafter mehr als eine halbe Million Mark Solidaritätsgelder, um die noch bis September andauernden Hamburger Maikämpfe zu unterstützen. Zwar konnte das gewerkschaftliche Koalitionsrecht verteidigt werden, doch der 8-Stunden-Tag blieb in weiter Ferne. Ein Nebenprodukt dieses Arbeitskampfes war die Gründung der Generalcommission der Gewerkschaften Deutschlands als Dachverband unter Führung von Carl Legien – ein Vorläufer des DGB.

 

„Für nicht wenige war der 1.Mai mit dem Weltuntergang gleichbedeutend“, schilderte der spätere Wiener Vizebürgermeister Max Winter die Stimmung vor der Maifeier in Österreich. „Im April 1890 verging wohl kein Tag, an die Zeitungen dem Spießer zum Morgenkaffee nicht einen neuen Streik auftischten. Bald sollte ihm das Häuserbauen verteuert werden, weil die Mauerer mehr Lohn und kürzere Arbeitszeiten begehrten, ... dann wurde wieder die Maikorso-Toiletten der „Gnädigen“ in Gefahr gebracht, weil diese „Mamsellen“ in den Salons sich nicht entblödeten, so zu denken wie die Maurer und auch streikten.“

 

Obwohl Militär am Vorabend des 1.Mai die Städte besetzte, gingen in Wien und Budapest jeweils 50.000 Arbeiter auf die Straße, in Prag 35.000. Überall verliefen die Maiumzüge geregelt und diszipliniert. „Feind und Freund sind sich einige darüber, daß auf dem ganzen Festland Österreich, und in Österreich Wien, den Festtag des Proletariats am glänzendsten und würdigsten begangen und die österreichische Bewegung erobert hat“, würdigte Friedrich Engels den Erfolg in der Wiener Arbeiterzeitung.

 

Noch übertroffen wurden diese Maiumzüge durch die gewaltige Kundgebung von 300.000 Arbeitern 4. Mai – einem Sonntag - im Londoner Hyde Park. „Was aber die zahlreichen zuschauenden Bourgeoispolitiker als Totaleffekt mit nach Hause genommen, das ist die Gewißheit, daß das englische Proletariat, das nunmehr volle vierzig Jahre den Schwanz und das Stimmvieh der großen Liberalen Partei abgegeben, endlich zu neuem selbstständigen Leben und handeln erwacht ist“, schrieb Friedrich Engels, der auf einer der elf Tribünen der Kundgebung beiwohnte. Massenkundgebungen fanden auch in Kopenhagen, Stockholm, Brüssel und Paris statt. In Italien und Spanien kam es zu Auseinandersetzungen mit Polizei und Militär.

 

„Während die Regierungen der verschiedenen Staaten rüsten und rüsten, während der Moloch des Militarismus die Völker aussaugt und zu Grunde richtet, reichen sich die Arbeiter aller Länder ohne Unterschied der Nationalität die Hände zu brüderlichem Bunde“, heißt es in einer Festschrift. „Ein Festtag wird dieser Tag sein, aber kein Festtag im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Ein internationaler, ein sozialer, ein welt- und kulturgeschichtlicher Festtag; ein Tag, der einer besseren, lichteren Zukunft der Menschheit vorarbeiten soll, ein Tag des Friedens, der Freude, der Verbrüderung und Menschenliebe.“

 

Der ursprünglich als einmalige Aktion geplante 1.Mai 1890 schuf die bis zum heutigen Tag gültige Tradition eines internationalen Kampf- und Feiertages der Arbeiterklasse gegen kapitalistische Ausbeutung und Kriegsgefahr und für ein menschenwürdiges Leben.  Auf ihrem ersten Parteitag nach dem Ende der Sozialistengesetze beschloß auch die SPD im Oktober 1890, den  1.Mai als dauerhaften „Feiertag der Arbeiter“ zu begehen.

 

Nick Brauns

 

 

Quellentexte:

 

Bekanntmachung der Hamburger Bourgeoisie beschlossen auf der Gründungsversammlung des Arbeitgeber-Verbandes von Hamburg Altona am 21. April 1890

 

Die Unterzeichneten haben sich zu dem Beschluß vereinigt, Arbeiter, welche aus Anlaß sozialdemokratischer Demonstration am 1.Mai dieses Jahres von der Arbeit fortbleiben oder dieselbe vorzeitig einstellen, als kontraktbrüchig zu entlassen und am 2. Mai abzulohnen. Wer wegen glaubwürdig nachzuweisenden Wohnungswechsels für den 1.Mai Urlaub wünscht, hat solchen spätestens bis zum 28. April nachzusuchen.

 

Hamburg, den 25. April 1890

 

(Hamburger Correspondent, 27 April 1890, Morgenausgabe)

 

Friedrich Engels im Vorwort zur vierten deutschen Ausgabe des Manifests der Kommunistischen Partei

»Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« Nur wenige Stimmen antworteten, als wir diese Worte in die Welt hinausriefen, vor nunmehr 42 Jahren, am Vorabend der ersten Pariser Revolution, worin das Proletariat mit eignen Ansprüchen hervortrat. Aber am 28. September 1864 vereinigten sich Proletarier der meisten westeuropäischen Länder zur Internationalen Arbeiter-Assoziation glorreichen Angedenkens. Die Internationale selbst lebte allerdings nur neun Jahre. Aber daß der von ihr gegründete ewige Bund der Proletarier aller Länder noch lebt, und kräftiger lebt als je, dafür gibt es keinen bessern Zeugen als grade den heutigen Tag. Denn heute, wo ich diese Zeilen schreibe, hält das europäische und amerikanische Proletariat Heerschau über seine zum erstenmal mobil gemachten Streitkräfte, mobil gemacht als ein Heer, unter einer Fahne und für ein nächstes Ziel: den schon vom Genfer Kongreß der Internationale 1866 und wiederum vom Pariser Arbeiterkongreß 1889 proklamierten, gesetzlich festzustellenden, achtstündigen Normalarbeitstag. Und das Schauspiel des heutigen Tages wird den Kapitalisten und Grundherren aller Länder die Augen darüber öffnen, daß heute die Proletarier aller Länder in der Tat vereinigt sind. Stände nur Marx noch neben mir, dies mit eignen Augen zu sehn!

London, am 1.Mai 1890

 

(MEW 22, S.58 f.)